von Amira Hass, Haaretz, 16.3.05
Die Menge der Weltführer, die das neue Holocaust Museum in Yad Vashem besuchten, bestätigen die starke Position Israels im Westen. Israel wird in den Heimatländern dieser Führer oft kritisiert, aber viele Israelis und Juden wollen – wie üblich – solche Kritik dem Antisemitismus zuordnen. Palästinenser und Leute vom linken Flügel, einschließlich Juden, werden entdecken, dass das Wissen über die israelische Besatzung in diesen Ländern dürftig und das Interesse der Öffentlichkeit dafür schwach ist.
Die Pilgerreise von so vielen europäischen Führern nach Jerusalem zeigt, dass sie durch Kritik an Israel nicht abgeschreckt wurden – sie nahmen an einem Medienspektakel teil, was man nur als Unterstützung für Israel, so wie es heute ist, interpretieren kann.
Bestenfalls kann der Besuch als Ermutigung für beide Seite angesehen werden, am „erneuerten Friedensprozess“ festzuhalten. Aber Ermutigung für was? Für die Treffen zwischen Muhammad Dahlan und Nasser Yousef mit Shaul Mofaz? Für die Trennungsmauer, deren Weiterbau mit viel Energie voranschreitet – im Widerspruch zum Beschluss des Internationalen Gerichtshofes (ICJ) in Den Haag? Für die gönnerhaften israelischen „Gesten“ – zweihundert weitere Passierscheine für Kaufleute, eine offene Straße für private palästinensische Autos, nicht nur für öffentliche Fahrzeuge? Oder für das fortgesetzte Abwürgen des palästinensischen Ost-Jerusalems und seine Abtrennung vom Rest des palästinensischen Gebietes – bei Verletzung der internationalen Forderung, dass Ostjerusalem als palästinensische Hauptstadt dienen soll?
Haben der deutsche Außenminister, der holländische und schwedische Ministerpräsident, nachdem sie sich getroffen und bewiesen hatten, dass sie des Holocausts gedenken, auch geplant, Israel daran zu erinnern, dass alle Siedlungen illegal sind und nicht nur die Außenposten? Werden sie die Forderung stellen, dass Israel sie evakuiert? Welcher der Teilnehmer an der Zeremonie wird sich die Straßen nur für Juden ansehen und die, die nur für Palästinenser bestimmt sind? Wird jemand von ihnen gegen die Gesetze protestieren, die israelische Bürger nur deshalb diskriminieren, weil sie keine Juden – sondern Araber sind? Wird jemand mit Sanktionen drohen, bis diese Gesetze wieder zurückgenommen werden?
Einer der unerträglichsten und absurdesten Aspekte der Ungerechtigkeit, vor allem wenn sie unvorstellbare Ausmaße annimmt wie die der deutschen Mordindustrie (mit intensiver europäischer Unterstützung), ist, dass die Opfer und ihre Nachkommen sich an sie erinnern und täglich mit ihr leben. Während die Täter sie verdrängen und vergessen und ihre Nachkommen sie einfach ignorieren können. Darum sollte die gesamte Masse an Diplomaten, die heute Sharons Audienz aufsucht, gehen und in ihrem eigenen Land über die europäische Verantwortung für den Holocaust reden – nicht in Israel. Berlin, Paris, Amsterdam, Krakau, Sarajewo und die Dörfer und Wälder rund um sie sind vollgesogen mit den Erinnerungen unserer Eltern und Verwandten, mit dem Vergessen der Täter und ihrer Nachkommen, mit der Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit derjenigen, die damals tatenlos daneben standen. Mögen die Ministerpräsidenten und Außenminister dorthin gehen und die Erinnerung, das Wissen und das historische Verständnis wecken. Und nicht nur einmal im Jahr, am Befreiungstag von Auschwitz oder am Tag von Deutschlands Kapitulation – nur um noch ein Lippenbekenntnis abzugeben.
Wir spüren und erinnern uns täglich an den Schmerz dieser Liquidation. Konfrontieren wir auch sie täglich damit z.B. mit der Inschrift auf einer Marmorplatte an jedem Haus, in dem einst Juden lebten, dort, wo sie deportiert und wo sie ermordet wurden. An jedem Bahnhof, von dem Menschentransporte abgingen, sollte die Information stehen: wann, wie viele Züge pro Tag mit wie vielen Menschen. Die Namen der für den Transport Verantwortlichen sollten an den Polizeistationen, Bahnhöfen und Rathäusern stehen.
Die Art und Weise, die schwindende Erinnerung zu bekämpfen, kann nicht nur mit Denkmälern und Zeremonien abgetan werden. Dies sollte hauptsächlich durch eine kompromisslose Ablehnung der Herrenrassenideologie geschehen, die die Welt in überlegene und unterlegene Rassen einteilt und das Prinzip der Gleichheit unter Menschen leugnet. Wir wurden auf der Leiter der Nazi-Ideologie ganz unten platziert. Wäre diese Ideologie nicht kriminell gewesen, wenn wir in die oberen Rängen eingeteilt worden wären?
Eine Ideologie, die die Welt in wertvolle und weniger wertvolle, in hochwertige und minderwertige Menschen einteilt, muss nicht die Dimension des deutschen Völkermords erreichen, um untauglich und falsch zu sein wie z.B. die Apartheid in Südafrika. 38 Jahre israelischer Besatzung der palästinensischen Nation haben Generationen von Israelis daran gewöhnt, die Palästinenser als weniger wert zu betrachten und dass ihnen deshalb nicht dasselbe zusteht wie uns. Aber Pssst! Das darf man nicht laut sagen, weil die Israelis sonst entrüstet aufschreien: „Wie kannst du nur vergleichen?“
Aus demselben Grund ist es verboten, uns diplomatisch drohend aufzufordern, unsere Lebensweise zu ändern. Wir würden sie dann an unser ermordetes Volk erinnern. Dieses weit verbreitete Medienereignis von heute zeigt, dass Israel die Liquidierung der europäischen Juden in einen Aktivposten umgewandelt hat. Unsere ermordeten Verwandten werden von Israel dafür in Anspruch genommen, dass es sich um internationale Entscheidungen gegen die Besatzung nicht im geringsten kümmern müsse. Das Leiden unserer Eltern in den Ghettos und in den über ganz Europa verstreuten KZs, die physische und psychische Angst und die Qualen, denen unsere Verwandten an jedem einzelnen Tag ausgesetzt waren bis zur „Befreiung“, wird als Instrument benützt, um jede internationale Kritik an der hier geschaffenen Gesellschaft zu vereiteln. Es ist eine Gesellschaft voller Diskriminierung auf der Basis von Nationalität und diese Diskriminierung breitet sich auf beiden Seiten der Grünen Linie aus.
Es ist eine Gesellschaft, die systematisch das palästinensische Volk von seinem Land vertreibt und seine Rechte als Nation und deren Chancen für eine menschliche Zukunft an sich reißt.
Deutsche Fassung auf Grundlage der Übersetzung von Ellen Rohlfs