Buchrezension
Michael Warschawski:
MIT HÖLLENTEMPO
Die Krise der israelischen Gesellschaft
Edition Nautlius, 2004 (Originalausgabe: 2003), 124 Seiten
„TRANSFER: FRIEDEN + SICHERHEIT
DIE ARABER BESIEGEN – DIE ARABER ZERSCHLAGEN
TOD DEN ARABERN
DER FRIEDE IST EINE KATASTROPHE, WIR WOLLEN KRIEG!
SHOAH FÜR DIE ARABER!“
(Auszug einer Reportage über Plakate, Autoaufkleber und Graffiti in Jerusalem 2002 im Kapitel: ZWISCHENSPIEL – DIE WÄNDE HABEN DAS WORT, 37-39)
Michael Warschawski, 1949 in Straßburg geboren, seit seinem 16. Lebensjahr in Israel, sieht Israel mit Höllentempo auf den Abgrund zurasen. „Die ganze Gesellschaft ist krank, schwer krank.“ (S. 107) Die sogenannte einzige parlamentarische Demokratie des Nahen Ostens hat zwar ein Parlament, ist aber real eine Pseudodemokratie. (S. 98) Sie hat weder Staatsgrenzen festgelegt, noch eine Verfassung verabschiedet. Gesetze, auch das Grundgesetz, werden dem jeweils aktuellen Bedarf von Politikern und Militär angepasst. Seit 1996 ist die Armee im Verhältnis zur Regierung eine autonome Macht geworden. Und die fundamentalistischen religiösen Parteien, für die der Begriff Demokratie nicht einmal existiert, haben stetig an Einfluss gewonnen. Für seine arabischen Bürger ist Israel ein klassischer Apartheidstaat.
Die immer weiter um sich greifende Ideologie, nunmehr offen getragen von etwa einem Viertel der Abgeordneten und etwa der Hälfte der Minister in der derzeitigen Regierung, besteht laut Warschawski aus folgenden Elementen: „einem militärischen Nationalismus, mehr oder weniger eng mit religiösem Fundamentalismus verknüpft, einem unverhohlenen Rassismus, einem von Messianismus durchtränkten Durchhaltewillen und der Infragestellung aller demokratischen Normen. All das eingebettet in eine allgemein gewordene Paranoia, die die ganze Welt als Bedrohung für die Existenz der Juden betrachtet, im Nahen Osten wie anderswo.“ (S. 105)
In dieser Stimmung gedeihen die Gewalt gegen die Palästinenser und die immer unverhüllteren Forderungen nach ihrem Transfer in andere arabische Länder, sowie damit einhergehend die Verrohung und Gewaltbereitschaft in Israel selbst. Die Dehumanisierung der Palästinenser, die ein terroristisches Volk seien, entmenschlicht letztendlich die Soldaten, für die es keine Kinder, Kranke, Großmütter oder Sterbende gibt, sondern nur mehr Terroristen, und die israelische Gesellschaft, die von der Angst vorm Terroristenvolk beherrscht wird. „Denn die systematische Dehumanisierung des Kolonisierten führt unvermeidlich zur Dehumanisierung des Kolonisators und seiner Gesellschaft.“ (S. 31)
Warschawski zitiert B. Michael, selbst Sohn von Überlebenden des Nazimords an den Juden: „Sechzig kurze Jahre – und aus Markierten, Numerierten sind Markierende, Numerierende geworden. Sechzig Jahre – und aus in Ghettos Eingesperrten sind Einsperrende geworden. ……“ (S.49)
Mit dem Ghetto für die Palästinenser haben die Israelis für sich selbst ein neues, waffenstarrendes Ghetto errichtet in dem die Gewalt ebenfalls, ob häuslich oder öffentlich, im Steigen begriffen ist, die Korruption blüht. Krasse Einkommens- und Vermögensunterschiede drohen auch den jüdischen Teil der Bevölkerung zu zerreißen.
Intellektuelle und Bessergestellte verschaffen sich eine zweite Staatsbürgerschaft, sitzen auf gepackten Koffern oder verlassen das Land, nicht ohne eine fatale Rolle bei der Ideologisierung der waffenstarrenden israelischen Gesellschaft gespielt zu haben und zu spielen. In den Jahren vor dem Mauerbau konnte man gerade von der intellektuellen Elite immer wieder die Forderung nach Sicherheit hören, einer Sicherheit, die ganz besonders hinter Mauern garantiert sei, „denn mit den Arabern könne man nicht vorsichtig genug sein.“ (S.81)
Zusammen mit „An der Grenze“ (Besprechung in der Intifada Nr.17) ergibt „Mit Höllentempo“ eine aktuelle Bestandsaufnahme der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern sowie der Lage in Israel selbst. Was „Mit Höllentempo“ stellenweise an tieferer politischer Analyse vermissen lässt, macht das Buch durch starke Details und hellsichtige Blitzlichter, die die israelische Gesellschaft durchleuchten, wett.
Elisabeth Lindner-Riegler
Elisabeth Lindner-Riegler ist Aktivistin der Antiimperialistischen Koordination in Wien.