Kommentar der AIK
Am 23. Juni 2005 hielt Etienne Balibar in Wien einen Vortrag zum Thema „Europa: Land der Grenzen“. Organisiert wurde diese Veranstaltung vom Kulturverein Kanafani in Kooperation unter anderem mit dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, der ÖH Wien, und der Grünen Bildungswerkstatt. In der Person Balibars zeigt sich in aller Deutlichkeit, wo die historische Linke heute gelandet ist: sie bildet eines der Fundamente der herrschenden Ordnung.
Balibar trat als Zwanzigjähriger der Kommunistischen Partei Frankreichs bei, welcher er bis 1981 angehörte. Als Schüler und Mitarbeiter Althussers wirkte er zunächst an einer Interpretation des Marxismus mit, die als „Strukturalismus“ bekannt wurde. Doch auch zu den verschiedenen Debatten innerhalb der KP, wie etwa über die Diktatur des Proletariats, nahm er Stellung. Später widmete er sich in seinen Arbeiten der Weltsystemtheorie. Im Rahmen dieses Ansatzes versuchte er Phänomene wie Rassismus, Nation und Volk zu analysieren.
Balibar widmete sich in seinem Vortrag im wesentlichen der Herausforderung, welche nicht zuletzt das Referendum des Verfassungsvertrages der EU nun gestellt hat: wie kann man ein europäisches politisches Projekt weiter legitimieren, oder wie Balibar sich ausdrückte: welche Modelle des politischen Raums können zur Herausbildung einer europäischen Bürgerschaft führen. Balibar legte in seinem Vortrag verschiedene Theorien dar, wie sich der europäische Integrationsprozess interpretieren ließe. Er stellte vier verschiedene Modelle der Konstruktion des politischen Raumes dar. Dass dieses Projekt in Bezug auf die Europäische Union durch das Referendum einen politischen Rückschlag erlitten hatte, analysierte er nicht unbedingt als Erfolg der Linken. Er warnte vor einen möglichen Auftrieb des Nationalismus und Populismus als Folge der Niederlage des Verfassungsvertrages und damit des Rückschlages der europäischen Idee.
Für Balibar ist der kulturelle Islam Teil eines europäischen Projektes, da er davon ausgeht, das Europa im Schnittpunkt dreier großer politischer Räume liegt: dem europäisch-mediteranen, dem europäisch-atlantischen und dem europäisch-asiatischen. Doch gleichzeitig sagt er deutlich, welcher Islam außerhalb der Grenzen Europas liegt: der politische Islam. Sobald der Islam die politischen Herausforderungen aufnimmt, zu einem kämpfenden Subjekt wird, ist er für das europäische Projekt gefährlich und wird als außerhalb der Grenzen „konstruiert“. Damit vollzieht Balibar eine Spaltung, die typisch für den liberalen, multikulturellen Konsens ist: die Spaltung in integrationsfähige und antagonistische Kräfte.
Es scheint so, als ob Balibar all die Mängel sowohl des Strukturalismus als auch der Weltsystemtheorie vereint hat und heute an einer politischen Kapitulation angelangt ist. Nicht konkrete Kämpfe, nicht konkrete Kräfteverhältnisse bestimmen die Analyse, sondern abstarkte Kategorien. Nicht die konkreten Kämpfe um die Nation, um ein politisches Projekt, interessieren ihn, sondern die abstrakte „Konstruktion“ des Begriffs der Nation. Nicht die realen Widersprüche des Volkes sind für ihn von Interesse, sondern die ständige Konstruktion und Dekonstruktion der abstrakten Kategorie des Volkes.
Balibar zieht sich auf die Position zurück, die Nation dekonstruieren zu wollen; doch wir müssen um die Form der Nation kämpfen. Er glaubt mit der Neubestimmung der Grenzen durch die Europäische Union würde die Nation aufgehoben werden; wir benötigen jedoch die politische Form der Nation um gegen das Projekt der Europäischen Union kämpfen zu können. Auch Balibar will uns zu einem europäischen Verfassungpatriotismus verpflichten; damit ist er, gemeinsam mit der historischen Linken, zu den Gegnern eines antagonistischen Projektes gewandert.