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Patt nach Verfassungsreferendum im Irak

2. November 2005

Militärischem Widerstand ohne politische Front droht Isolierung

Auch zehn Tage nach der von den USA inszenierten Abstimmung stehen noch immer keine offiziellen Resultate zur Verfügung. Dass die Verfassung angenommen wurde, wusste Condolezza Rice allerdings schon am Tag danach. Sonst hätte das ganze Theater seinen Sinn verfehlt.

Sunniten sagen Nein, doch ignorieren Boykott-Aufruf

Die inoffiziellen Ergebnisse lassen jedoch eine klare Interpretation zu. Das vielleicht wichtigste Element ist, dass die sunnitische Bevölkerung im Gegensatz zu den Wahlen im Januar 2005, sich stärker an der Abstimmung beteiligte als irgend eine andere Bevölkerungsgruppe – um mit Nein zu stimmen.

In den weitgehend sunnitischen Provinzen Anbar und Salah al-Din soll die Wahlbeteiligung bei rund 90% gelegen haben wobei fast geschlossen gegen die Verfassung stimmt wurde. Zwar wird für Anbar nur 32% Beteiligung angegeben, doch ist das auf die Tatsache zurückzuführen, dass in vielen Bereichen das Referendum wegen fehlender territorialer Kontrolle durch die Besatzer nicht abgehalten werden konnte. In Falluja, einer bekannten Hochburg des Widerstands in Anbar, hingegen sollen ebenfalls an die 90% den Weg zu den Urnen gefunden haben.

Dies stößt uns direkt auf den Grundwiderspruch, mit dem der Widerstand konfrontiert ist. Auf der einen Seite bleibt er militärisch unverändert stark – erst dieser Tage wurde von CNN berichtet, dass die Gesamtzahl der getöteten US-Soldaten 2000 überschritten habe, ein Wert der wahrscheinlich nach Bereinigung der amerikanischen Statistiktricks etwa um ein Drittel höher liegen könnte -, auf der anderen Seite ignoriert seine soziale Basis den Aufruf zum Boykott gänzlich.

Das zeigt, dass die Rhetorik der Stärke, die die USA bereits knapp vor dem Abzug sieht und den von ihnen eingesetzten Behörden keinerlei Bedeutung zumisst, selbst von der sunnitischen Bevölkerung nicht ernst genommen wird. Sie haben die Verfassung, die das Land entlang ethnizistisch gezogener Linien in drei leichter kontrollierbare Teile zu zerlegen bestrebt ist, als reale Gefahr und nicht als Papiertiger, wie es beispielsweise die Kommuniquà©s der Baath-Partei nahe legen, wahrgenommen. Wenn diese politische Schwäche selbst im sunnitischen Bereich so deutlich hervortritt, so kann die Größe des Problems im schiitischen Bereich bereits erahnt werden.

Wahlbetrug

Nicht nur unter den arabischen Sunniten wird von Wahlbetrug gesprochen, sondern selbst die westlichen Medien, räumen Unregelmäßigkeiten ein. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich dabei auf die nördliche Provinz Ninive mit der Hauptstadt Mosul. Während die Ablehnung des Entwurfes mit Zweidrittelmehrheit in den Provinzen Anbar und Salah al-Din erwartet worden war, hätte Ninive die dritte Provinz sein können, in der 2/3 die Konstitution zurückweisen hätten können. Eine Ablehnung durch eine dergestalt qualifizierte Mehrheit in drei der 18 Provinzen hätte das Scheitern des Referendums und damit eine schwere Niederlage für die Besatzungspläne bedeutet.

Es wird allgemein angenommen, dass die arabischen Sunniten eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung der Provinz stellen. Neben den Kurden gibt es jedoch bedeutende Minderheiten, wie die Turkmenen, die assyrischen Christen, die Jeziden sowie die Schabaken – auf deren nationale Zuordnung hier nicht eingegangen werden kann, die aber das ethnizistische Darstellung des Problems durch den Westen nicht heil ließe. Allesamt stellen sie sich gegen die intendierte kurdische Annexion ihrer Gebiete und lehnen daher die Verfassung ab. Ob diese gemeinsam mit den sunnitischen Arabern demografisch auf zwei Drittel kommen, ist schwer seriös auszusagen. Tatsache bleibt jedoch, dass die Wahlbeteiligung unter den Volksgruppen, die der Verfassung feindlich gegenüber stehen, deutlich höher ist, als unter jenen, die als ihre Unterstützer gelten.

Hinzu kommt, dass die von der Wahlbehörde in der Woche nach der Abstimmung für Ninive inoffiziellen bekannt gegebenen Zahlen eine völlig unglaubwürdige …¾-Mehrheit für die Verfassung auswiesen. Diese zu offensichtliche Fälschung wurde in der Folge vom US-Militär höchst selbst dementiert, die damit ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel sahen. Mit dem nun ausgeheckten Ergebnis von 55% Nein und 45% Ja hoffen sie scheinbar durchzukommen. (1)

Schiitische Tragödie

Dass der schiitische Klerus und die um ihn gelagerten schiitischen Parteien mit der Besatzungsmacht kooperieren, ist hinlänglich bekannt. Sie erhoffen sich von den USA die entscheidende Rolle im neuen Staatsapparat – im Gegenzug zu Loyalität – zugestanden zu bekommen.

Gleichzeitig schienen ihre Autorität und ihr Einfluss insbesondere auf die städtischen Unterschichten genau aufgrund ihrer Kollaboration gefährdet. Insbesondere kam das im Konflikt zwischen Ayatollah Sistani und Muqtada al Sadr zum Ausdruck. Des letzteren Bewegung lehnt die Besatzung ab und hat bereits zwei bewaffnete Erhebungen durchgeführt. Daneben gibt es noch zahlreiche politische Kräfte und Persönlichkeiten aus dem schiitischen Bereich (die sich nicht notwendigerweise als Schiiten sehen oder deren Ziele überkonfessionell sind). Die Tendenzen schiitischer Herkunft gegen die Besatzung, namentlich jene von Muqtada al Sadr, der Familie al Khalesi und Ayatollah Hassan al Baghdadi wurden von den grundsätzlich antischiitischen salafitischen Kräfte (im Westen mit Zerqawi assoziiert) damit gewürdigt, dass sie ankündigten sie von Angriffen auszunehmen würden.

Auch wenn man den Druck von oben in Rechnung stellt und die geringere Wahlbeteiligung berücksichtigt, so kann man nicht umhin einzuräumen, dass im schiitischen Bereich eine überdeutliche Mehrheit der Verfassung zustimmte.

Insbesondere die Position Muqtadas spricht Bände. Dieser hatte den ethnizistischen Verfassungsentwurf als Spaltung des Landes abgelehnt. Doch zum Nein-Stimmen getraute er sich denn noch nicht aufzurufen. Es handelt sich hier um die Frage analog zu jener nach der Ursprünglichkeit der Henne oder des Eis. Kam vom Klerus, von oben zu starker Druck um dem US-Plan zu widerstehen oder war der Druck von unten dagegen zu klein? Letztlich ist es einerlei, im schiitischen Milieu blieben die aktiven Gegner des Verfassungsoktrois marginal.

Was macht nun den amerikanischen Teilungsplan so attraktiv? Vor allem ist es wohl das Versprechen an die schiitischen Massen politische Mitsprache zu gewährleisten, die zu einer besseren Ressourcenallokation führen würde. Dabei erscheint die für die USA zur Kontrolle entscheidende Trennung in Substaaten für die Betroffenen selbst eher als ein in Kauf zu nehmendes Übel als ein Ziel. Nicht um sonst war es dieser Punkt, gegen den sich Muqtada am meisten zur Wehr setzte.

Die schiitischen Massen fühlten sich zu recht vom Baath-Regime ausgeschlossen, auch wenn in dessen gegenteiliger Behauptung, dass die Religionsgemeinschaften als solche frei gewesen wären, ein Kern an Wahrheit steckt. Die Schiiten waren insofern unterdrückt und benachteiligt, als sie einer politischen Opposition folgten, die sich mit dem politischen Islam identifizierte, aber ursprünglich nicht als Schiiten selbst. So verfestigte sich die politische Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten, wie sie durch die anderthalb tausendjährige sunnitische Herrschaft – später auch vom britischen Imperialismus übernommen – formiert worden war, obwohl der Baathismus eigentlich angetreten war, sie aufzuheben.

Geprägt von einem tiefen historischen Misstrauen scheint die schiitische Mehrheit heute der Auffassung zu sein, dass ein Sieg des überwiegend sunnitischen Widerstands das historische Herrschaftsmodell der sunnitischen Elite wieder in die Angeln heben würde. Offensichtlich bevorzugen sie dagegen einen De-facto-Separatstaat, auch wenn von Gnaden der USA.

Kernproblem der politischen Front

Damit sind wir auch schon beim Dreh- und Angelpunkt der Schwierigkeiten des Widerstands. Mit der Zementierung des Führungsanspruches der sunnitischen politischen Tendenzen kann keine gemeinsame politische Front mit den gegen die Besatzung eintretenden Teilen der Schiiten (das sind trotz der genannten Einschränkungen die Mehrheit unter letzteren) gebildet werden. Dabei macht es wenig Unterschied ob die Herrschaft im Namen des Baathismus oder des salafitischen Islamismus reklamiert wird.

Während bei den Salafiten die antischiitische Schlagseite evident ist, gibt sich der Baathismus oder die diversen Strömungen des Panarabismus aufgeklärter. Ab und an reden sie selbst von Demokratie. Doch durch die Verehrung von Saddam Hussein oder durch den alleinigen Führungsanspruch des bewaffneten Widerstands, also wiederum der sunnitisch-arabistischen Militärs, können die Bemühungen um eine politische Front nicht anders als unglaubwürdig zu bleiben und ungehört zu verschallen.

Die radikalen Teile der schiitischen Unterschichten, deren Galionsfigur Muqtada ist, können nur für die Front gewonnen werden, wenn der Widerstand einen klaren politischen Bruch mit den Traditionen der Vergangenheit glaubhaft machen kann. Einzig die Perspektive der Demokratie für die breiten Volksmassen einschließlich der schiitischen kann eine Alternative zur amerikanischen „Demokratie“, wie sie angesichts der Vergangenheit für die Schiiten mehr Glaubwürdigkeit als der sunnitische Widerstand geniest, darstellen.

Deswegen haben wir von Anfang an unseren Freunden und Partnern im irakischen Widerstand eine Patriotische Volksversammlung als Konstituante vorgeschlagen. Auch das Netzwerk der europäischen Unterstützer des irakischen Widerstands versucht mit der Einladung aller wesentlicher Strömungen des Widerstands sowie der Opposition gegen die Besatzung, auch wenn sie sich nicht am bewaffneten Widerstand beteiligen und untereinander im Konflikt stehen, den Weg zu einer solchen Volksversammlung zu ebnen.

Am Beispiel des Referendums

Um das Referendum zu einer Niederlage für die Besatzer zu machen, hätte der bewaffnete Widerstand von der „Kraftmeierei“, die den Feind also bereits erledigt darstellt, Abstand nehmen, nicht zum Boykott aufrufen, sondern eine breite Nein-Front bilden müssen. Ob sie Muqtada al Sadr in die Front hineingebracht hätten, kann a priori nicht gesagt werden. Doch einen Versuch wäre es wert gewesen. Schon bei den Wahlen 2004 war sein Zögern und seine Mittelposition ausschlaggebend dafür gewesen, dass es unter den Schiiten zu keinem starken Boykottbewegung gekommen war. Ein Angebot einer Nein-Front, auch wenn es nicht angenommen worden wäre, hätte doch erheblichen Druck ausgeübt. Im Übrigen sind es solche Angebote und ihre oftmalige Wiederholung, die den hindernisreichen Weg zu einer politischen Front ebnen können. In einer gewissen Hinsicht handelt es sich dabei um eine neue Anwendung der Einheitsfronttaktik, wie sie in den frühen 20er Jahren von den Kommunisten gegenüber den Sozialdemokraten versucht wurde.

Abschließend kann festgestellt werden, dass das Verfassungsreferendum zwar keine grundlegende Veränderung der Kräfteverhältnisse im Irak gebracht hat und die Chancen des Widerstands intakt bleiben, wenn auch die politische Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten vertieft und damit der amerikanischen Intension, aus diesen zwei separate politische Entitäten, zwei Substaaten zu machen, Vorschub geleistet wurde. Es hat damit auch die politischen Grenzen des Widerstands aufgezeigt, die einen baldigen Sieg verunmöglichen. Die Herausbildung der politischen Front des Widerstands erscheint daher dringender denn je.

Willi Langthaler
Wien, 26. Oktober 2005

(1) Für eine Chronologie der Unregelmäßigkeiten in der Provinz Ninive siehe: Vote Figures for Crucial Province Don’t Add Up, Analysis by Gareth Porter: www.ipsnews.net/interna.asp?idnews=30692

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