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Die Illusion vom sozialen Europa

12. Januar 2006

aus bruchlinien Nr. 11

Während sich die Euro-Linke formiert, gerät ihr Reformobjekt, die
europäische Union, in immer größere wirtschaftliche und politische
Schwierigkeiten. Für ein „soziales Europa“ gibt es in den Planungen der
EU weniger Spielraum denn je.

Die
übliche Legitimation eines Kontinents entfällt für Europa: Tektonisch
ist es eine asiatische Halbinsel, noch dazu eine ziemlich junge. Wäre
die Afrikanische Platte nicht gegen Ende des Mesozoikums auf die Idee
gekommen sich nordwärts zu verschieben, säße der Großteil der heutigen
EU noch auf dem Boden des Mittelmeers.

Ein guter Teil heutigen
Geschichtsunterrichts dient der Legitimation eines Mythos Europa.
Inhalt und Begrenzung wandeln sich dabei. Wo endet Europa? Heute
scheint das Ende Europas bei der Außengrenze der Europäischen Union
gelegen, vielleicht auch ein bisschen weiter östlich – im Rahmen der
Osterweiterung darf Europa schließlich „zusammenwachsen“. Aber wer kein
„Erweiterungskandidat“ ist, der hat den „Weg nach Europa“ noch nicht
gefunden. In den Augen der Europäischen Kommission und der Medien ist
Europa also der „aquis communitaire“ der Europäischen Union. Im
Hintergrund dieser recht funktionalistischen Definition steckt wohl der
Mythos des „christlichen Abendlandes“ (von daher auch der Versuch einen
christlichen Gott in der „europäischen Verfassung“ zu verankern), die
„westliche Zivilisation“ als Gegenthese zum islamischen „Morgenland“.
Hier wird an die universalistischen Traditionen der Kirche und den
mittelalterlichen Reichsgedanken angeschlossen. Die eigentliche
Ahnenreihe moderner „Europagedanken“ lässt man heute gerne nach dem 1.
Weltkrieg beginnen, bei Coudenhove-Kalergi (für die Konservativen) und
dem französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand (für die
Liberalen). Andere Europagedanken fallen unter den Tisch, so sprachen
auch die Nationalsozialisten vom Vereinigten Europa arisch und von
Deutschland beherrscht. (1)
Was Europa sein soll, ändert sich je
nach politischen Bedürfnissen. Die Europäische Union erfüllt also keine
historische Mission des „langen Strebens der europäischen Völker nach
Einheit“, sie ist ein konkretes politisches Projekt, dessen historische
Legitimation nach und nach zusammengezimmert wird, aus älteren
Versatzstücken, dem christlichen Abendland etwa, und neueren
Politikerfordernissen- dem Wirtschaftsliberalismus.

Krise der Integration

Zum
Thema der Integration gab es bereits einen längeren Artikel in den
letzten bruchlinien, seine Ergebnisse seien an dieser Stelle vertieft.
Tatsächlich gibt es eine mehrfache Krise der Europäischen Union, sowohl
politisch, als auch ökonomisch.
Was hat die Europäische Integration
bisher bewegt? Als wichtigstes Resultat kam es zur Gründung einer
Freihandelszone, inklusive Abkommen über den Schutz von Investitionen
und die Liberalisierung der Kapitalmärkte. Seit 1994 firmiert das Ganze
unter dem Namen „europäischer Binnenmarkt“ und ist wohl das
bedeutendste Projekt für die völlige Liberalisierung der
Wirtschaftspolitik. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, im
Augenblick geht es um die „Liberalisierung“ öffentlicher
Dienstleistungen: Beispielsweise sollen Wasserversorgung und
öffentlicher Verkehr privaten Profitinteressen zugänglich gemacht
werden, die Liberalisierung des Strommarktes wurde vor zwei Jahren
durchgesetzt. Als vorläufig letzten Schritt der Vereinheitlichung des
Binnenmarktes wurde 1999 von elf (später zwölf) Ländern der Euro
eingeführt, was die Zentralisierung der Geldpolitik bei der
Europäischen Zentralbank mit sich bringt.
Neben der Verankerung des
Freihandels wurden einige weitere untergeordnete Politikbereiche
zentralisiert, zu nennen wären eine gemeinsame Regionalpolitik, die
gemeinsame Agrarpolitik, oder das rassistische Schengen-System
hochgerüsteter Außengrenzen. Die Vereinheitlichung der Außen- und
„Sicherheits“-Politik (tatsächlich geht es um das Führen von Kriegen)
will nicht gelingen, weil angesichts der Stärke der USA Deutschland und
Frankreich den anderen Staaten ihren Willen nicht aufzwingen können.
Das
ist die erste Ebene einer politisch-ökonomischen Krise: Die politische
Integration ist ins Stocken geraten, weil sie nicht ohne Zustimmung der
USA erfolgen kann, weil es keine eindeutige europäische Hegemonialmacht
gibt, die die divergierenden Interessen vereinheitlichen könnte
(nämlich entlang ihrer eigenen). So wird die Europäische Union zwar
größer, aber auch heterogener, sowohl politisch als auch ökonomisch.
Tatsächlich sind die politischen Widersprüche zwischen den einzelnen
Staaten auf ein langfristiges strukturelles Phänomen zurückzuführen:
Seit die europäische Integration konzipiert wurde, wiederholte man
ständig, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit der politischen
vorausgehen müsse. Ein solches Vorgehen entsprach auch immer den
Interessen der USA, die zwar eine europäische Freihandelszone
begrüßten, einer weitgehenden politischen Einigung aber immer skeptisch
gegenüberstanden. Französische Vorstöße in diese Richtung wurden daher
in den 50er- und 60er-Jahren immer von Deutschland, dem zentralen Anker
des US-Bündnissystems in Europa, abgeblockt. Die politische Einigung
wurde nach hinten verschoben, beziehungsweise als automatisches
Resultat der ökonomischen Integration gesehen.
Die europäische
Freihandelszone wird in dem Maße unbedeutender, als der Neoliberalismus
seit dem Beginn der 80er-Jahre in der gesamten Welt zur „Marktöffnung“
und Kapitalmarktliberalisierung schreitet. Um nur ein Beispiel zu
nennen: Die Privatisierung der Wasserversorgung, muss nicht unbedingt
von der EU erledigt zu werden, möglicherweise wird das Recht der
Konzerne säumigen Zahlern das Wasser abzudrehen und die Gebühren
hinaufzusetzen auch über die Welthandelsorganisation (WTO) erfochten.
Die einstige Besonderheit von Binnenmarkt und europäischer
Freihandelszone geht verloren, wenn die Zölle der WTO Länder (das sind
mittlerweile fast alle Staaten der Erde) untereinander nur mehr
durchschnittlich fünf Prozent betragen, Handelsbeschränkungen nur mehr
für ausgewählte Branchen gelten. Folge: Der Handel innerhalb der EU
entwickelt sich seit dem Beginn der 90er Jahre langsamer als der Handel
mit Drittstaaten, etwa China, Russland, oder den USA. Die durch den
Binnenmarkt angeblich erhöhte Resistenz gegenüber Außeneinflüssen auf
die Wirtschaft ist nicht vorhanden: Die europäische Konjunktur ist in
hohem Maße von den Handelsbilanzüberschüssen mit den USA abhängig.
Tatsächlich kann man von zunehmender internationaler Integration
verschiedener Volkswirtschaften sprechen, aber das ist keine
europäische Angelegenheit. Durch wechselseitige Direktinvestitionen
entwickelt sich zwischen Europa und den USA vielmehr ein atlantischer
Wirtschaftsraum.

Wirtschaftliche Schwierigkeiten

War
am Ende der 80er Jahre noch alle Welt vom Aufstieg Europas (oder
Deutschlands) und Japans zu den USA ebenbürtigen Großmächten überzeugt
(gerade in den USA selbst war man vielfach dieser Ansicht), sehen das
heute nur mehr wenige Wirtschaftsexperten so. Auf ökonomischer Ebene
sind die Symptome (wenn auch nicht die Diagnose) des Abstiegs
eindeutig: Wachstumsschwäche. Die ganzen 90er Jahre über war das
US-amerikanische Wirtschaftswachstum höher, im neuen Jahrtausend hat
sich diese Tendenz verstärkt. In Österreich etwa herrscht die höchste
Arbeitslosigkeit seit dem Weltkrieg. Glaubt man den liberalen
Ideologen, dann sind es die „rigiden“ Arbeitsmärkte, die daran Schuld
tragen. Das Problem dabei: Seit vielen Jahren wird den Rezepten der
„Experten“ (Gewerkschaften schwächen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe
kürzen, Sozialstaat zerschlagen…) Folge geleistet, ohne Erfolg. Der
Standortwettbewerb wird immer brutaler, Unternehmenssteuern sinken im
beachtlichen Tempo – damit lassen sich zwar Arbeitsplätze von einem
Land in das andere und wieder zurück verschieben, gesamtwirtschaftliche
Impulse sind aber ausgeblieben. Die gestiegenen Dividenden und
Unternehmensgewinne werden vor allem für den Kauf von Finanzaktiva an
der Wall-Street ausgegeben. Am französischen Beispiel analysiert der
Ökonom Claude Picart: „Es geschieht ein Transfer von Ressourcen aus
Frankreich in das Ausland, vor allem in die Vereinigten Staaten und ein
Wachsen der Dividenden gegenüber der produktiven Basis“. (2)
Grob
gesagt: Das zentrale Problem der Weltwirtschaft ist die mangelnde
Gesamtnachfrage, die seit drei Jahrzehnten in wechselndem Ausmaß auf
die Profitraten der Realwirtschaft drückt. (Das Argument lässt sich
auch umdrehen: Gesunkene Profitraten, die, über geringere
Anlageinvestitionen und Stagnation der Reallöhne, seit drei Jahrzehnten
die Gesamtnachfrage drücken. Die erste Argumentationskette scheint
schlüssiger.) Dies kombiniert sich mit dem Verlust von ökonomischen
Steuermöglichkeiten der allermeisten Staaten: Die Globalisierung macht
die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik der Nachkriegsjahre
zunehmend schwierig: Wenn ein Land wie Österreich mittlerweile einen
Außenanteil der Wirtschaft von guten 40 Prozent erreicht hat (auch
Deutschland, obwohl viel größer, liegt nur knapp dahinter), dann
verpuffen staatliche Nachfrageimpulse zu guten Teilen über die Grenzen.
Tatsächlich verfügen nur die USA über größeren wirtschaftspolitischen
Spielraum. Die Krise des Weltsystems und der entfesselte Liberalismus
stärken das absolute Zentrum der Weltwirtschaft, die USA, während die
Peripherien der Welt, aber ebenso Kernräume wie Europa in zunehmende
Abhängigkeit geraten.
Die Wirtschaftsprobleme Europas werden durch
politische Entscheidungen verstärkt, die Wirtschaftsprobleme selbst
werden auch auf die politische Struktur der Europäischen Union
zurückwirken. Zum Kardinalsproblem wächst sich der Euro aus: Vor dem
Hintergrund eines Zwischenaufschwunges in den 90er Jahren eingeführt,
lähmt er alle Maßnahmen, die die Krise dämpfen könnten und verstärkt
strukturelle Ungleichgewichte. In den 90er Jahren, dem Höhepunkt
liberalistischer Marktutopik, hielt man staatliche Wirtschaftspolitik
überhaupt für schädlich. Daher wurde die Geldpolitik bei der
Europäischen Zentralbank zentralisiert, deren Ziel einzig die
Geldwertstabilität darstellt, der staatlichen Budgetpolitik wurden enge
Fesseln angelegt. Das Maastrichtkriterium von nur drei Prozent
staatlicher Neuverschuldung (gemessen am BIP) erweist sich in der Krise
als viel zu restriktiv. Es erzwingt nicht nur die (erwünschte)
Zerschlagung des Sozialstaates, sondern reduziert auch die staatlichen
Ausgaben für Infrastruktur und Wissenschaft. Das langfristig größte
Problem der Eurozone, unterschiedliche Inflationsraten in verschiedenen
Mitgliedsstaaten, wurde dadurch freilich nicht gelöst. Denn die
Inflation ist nicht nur von der Geldpolitik abhängig, die ja für alle
einheitlich in Frankfurt gestaltet wird, sondern eben auch von der
Budget- und Tarifpolitik (die nicht vereinheitlicht wurde), die
außenwirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit außerdem noch von der
Entwicklung der Produktivität. Resultat: Ohne die Möglichkeit von
Wechselkursanpassungen gerät das außenwirtschaftliche Gleichgewicht aus
den Fugen. Italien hat beispielsweise in den letzten zwei Jahren sieben
Prozent Export verloren. (3) Es wird sich weisen, ob der
monetaristisch-liberalistische Extremismus nicht einen großen Fehler
begangen hat, bei dem Versuch, zwölf Ländern mit unterschiedlicher
Wirtschaftspolitik, unterschiedlicher Wirtschaftsstruktur und
unterschiedlichen Konjunkturverläufen die gleiche Währung zu verordnen.
Der Traum den Dollar als internationale Leit- und Reservewährung zu
ersetzen ist zumindest in weite Ferne gerückt, wenn nicht geplatzt. Es
ist die Fähigkeit der USA, die weltweite Überproduktion aufnehmen zu
können, und die Schwäche Europas, eigenständig Wirtschaftswachstum zu
erreichen, die heute die Stärke des Dollars ausmachen. Jedes Mal, wenn
etwa die chinesische oder japanische Zentralbank einen Teil ihrer
gigantischen Dollar-Währungsreserven in Euro tauschen und so den
Euro-Kurs nach oben treiben (geschehen zuletzt im Dezember 2003),
stehen die Manager der Exportindustrie vor dem Herzinfarkt und die
europäische Konjunktur bricht zum wiederholten Male ein.

Antwort der Euro-Linken

Die
Europäische Union ist auf das innigste mit jenem liberalistischen
Projekt verbunden, das jede wirkliche wirtschaftliche und politische
Souveränität Europas und seiner Bewohner untergräbt. Nach
amerikanischem Vorbild wird Demokratie als Möglichkeit der Teilnahme am
Markt interpretiert, die Möglichkeit der Politik auf diesen Markt
einzuwirken soll möglichst beschränkt werden – indem institutionelle
Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Handlungsoptionen
einschränken. Die Kriterien von Maastricht sind ein gutes, aber nicht
das einzige Beispiel. Statt Souveränität des Volkes bedeutet die
„Demokratie“ der Europäischen Union die uneingeschränkte Herrschaft der
„Gesetze des Marktes“. (4)
Die Politik der Europäischen Union
dient den Interessen der herrschenden Oligarchie, aber für die Masse
der Bevölkerung, inklusive der breiten Mittelschichten bietet sie keine
Perspektive mehr. Das gilt sowohl auf der politischen als auch auf der
wirtschaftlichen Ebene.
Die Illusion des friedlichen
Zusammenschlusses eines Kontinents, der sich nur zu oft in blutigen
Kriegen zerfleischt hat, verliert immer mehr Substanz (Diesem Traum
hängt zwar nicht die stets euroskeptische Mehrheit der Bevölkerung an,
doch aber ein wesentlicher Teil der städtischen Intelligenz und der
linksliberalen Mittelschichten). Die verschiedenen nationalen Eliten
haben keine grundsätzlich gleichgerichteten Interessen. Die Bourgeoisie
kann Europa nur einen, wie es Hitler oder Napoleon versucht haben,
unter einer deutschen, französischen oder deutsch-französischen
Hegemonialmacht, aber das ist weder wünschenswert, noch möglich –
solange die USA die unumschränkte Supermacht des Planeten sind. Und die
wirtschaftliche Integration ist nur der Vorläufer eines entfesselten
Weltmarktes, der die Werktätigen einer gnadenlosen Standortkonkurrenz
ausliefert und die Steuerungsmöglichkeiten aller Staaten (bis auf die
US-amerikanische Supermacht) einschränkt.
Ein solches Europa kann
nicht demokratisiert werden, das „soziale Europa“, das den Binnenmarkt
nach dem Willen der Euro-Linken ergänzen soll, ist bloß eine
fantastische Chimäre. Der Zug fährt in die umgekehrte Richtung. Ebenso
wenig lässt sich die in Entstehung begriffene Euro-Armee für wirklich
demokratische Außenpolitik nutzen. Entweder sie wird eine amerikanische
Hilfstruppe, die zur Aufrechterhaltung der imperialen Weltordnung
dient, oder (zweifellos die günstigere Alternative) sie bleibt völlig
bedeutungslos. Der institutionelle Rahmen der Europäischen Union ist
auf das engste mit dem radikalen Liberalismus verbunden, der
tatsächlich kein Garant für eine europäische Einheit ist, sondern im
Gegenteil diese Einheit gefährdet. Was wird bleiben, wenn die Euro-Zone
durch ihre inneren Widersprüche auseinandergerissen wird?
Die Ideen
des Europäischen Gewerkschaftsbundes von einem „Sozialen Europa“, oder
die in Entstehung begriffene „Europäische Linkspartei“ basieren auf
falschen Voraussetzungen. Implizit werden die liberalen Mythen
übernommen, dass man die Europäische Integration nur „vertiefen“
müsste, um die Probleme zu lösen. Dem Freihandel sollte eine
Sozialcharta beiseite gestellt werden, das europäische Parlament könne
man demokratisieren, die gemeinsame Währung um eine gemeinsame
Wirtschaftspolitik ergänzen, damit die Konjunktur und
Nachfragesteuerung wieder möglich ist, die Steuersätze vereinheitlichen
um den ruinösen Standortwettbewerb zu stoppen. All das wird nicht
gelingen, weil das „Projekt Europa“ genau das Gegenteil bedeutet:
Standortwettbewerb statt Nachfragesteuerung, Geldwertstabilität statt
Sozialstaat – und eine zunehmende Entdemokratisierung, um dieses
Programm durchzusetzen. Im Endeffekt legitimiert die Euro-Linke die
Hauptquartiere des Neoliberalismus in Brüssel und Frankfurt verschafft
ihnen soziale Deckung.

Ein anderes „Europa“

Es
bestehen also genug Gründe „Europa“ skeptisch gegenüber zu stehen. Das
Projekt der Europäischen Union vermag man nicht in etwas
Fortschrittliches zu verwandeln. Aber sind die Ideen eines geeinten
Europas deswegen alle von vornherein reaktionär? Muss „Europa“
automatisch mit imperialen, abendländischen und rassistischen Mythen
beladen werden, wie das heute der Fall ist („Geburtsstädte der
westlichen Zivilisation“, „christliches Abendland“…)? Eine solche
Annahme scheint zu gewagt. Tatsächlich gibt es in Teilen der
Bevölkerung eine pro-europäische Stimmung, die auf die Mühlen der EU
gelenkt wird, aber nicht grundsätzlich zu bekämpfen ist. Tatsächlich
ist der Wunsch angesichts der Globalisierung eine höhere regionale
Integration verschiedener Staaten zu erreichen durchaus vernünftig,
tatsächlich die einzige Möglichkeit, die wirtschaftliche und politische
Unabhängigkeit von den USA sowie eine gewisse Kontrolle über die
entfesselten Märkte zurückzugewinnen. Illusionär ist freilich die
Methode mit der das Ziel angestrebt wird: Die EU kann, wie erwähnt,
kein Vehikel eines „sozialen Europa“ werden kann, aber auch die von
linkssozialdemokratischer Seite und von Globalisierungskritikern wie
ATTAC vorgebrachten Modelle, etwa die Vereinheitlichung von
Steuersätzen (um die Standortkonkurrenz einzukämmen), oder die Abkehr
vom totalen Freihandel in eingeschränkten Bereichen, sind sicher nicht
weitgehend genug. Man darf nicht vergessen, dass die
links-keynesianischen Ansätze der 70er Jahre, etwa in Schweden oder
Österreich, mit Abstrichen aber auch in Deutschland, unter dem Druck
der sich vertiefenden Krise und dem geänderten internationalen Umfeld
zusammengebrochen sind. Was benötigt würde ist echte wirtschaftliche
Integration, die sich nicht auf den Abbau von Handelsbarrieren und
Kapitalverkehrsfreiheit beschränkt, sondern tatsächlich
Wirtschaftspolitik vereinheitlicht, vor allem aber der Bevölkerung
Zugang zu wirtschaftlichen Entscheidungen ermöglicht. Die Macht der
monopolitischen Großkonzerne, die Macht der herrschenden Klassen und
dominanten Eliten, muss gebrochen werden. Das ist tatsächlich der
heutigen EU diametral entgegengesetzt: Nicht Standortwettbewerb,
sondern echte Integration. Nicht Vermarktung von Politik und
Demokratie, sondern Politisierung und Demokratisierung des Marktes.
Nicht Großmachtsambitionen und Militarismus, sondern gleichberechtigte
Partnerschaft mit allen Nachbarn, auf der anderen Seite aber auch
Unabhängigkeit von den USA. Ein solches föderiertes und wirklich
demokratisches Europa ist durchaus anstrebenswert. Zu haben ist es aber
nicht durch „Weiterentwicklung“ oder „Vertiefung“ der EU, sondern nur
im Kampf gegen die nationalen Eliten und deren Außenstelle in Brüssel.

Stefan Hirsch

(1)
Für eine kritische und knappe Zusammenfassung historischer und
aktueller Europabilder siehe: Hannes Hofbauer, Osterweiterung. Vom
Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration. Wien 2003, 9-29.
(2) Etat d´urgence sociale. Les politiques liberales du gouvernement franà§ais, in: Le Monde diplomatique, März 2004.
(3) La Repubblica, 12. Jänner 2004.
(4)
Zu welchem unglaublichen Antidemokratismus sich der Liberalismus
versteigen kann siehe: Dieter Duwendag, Geldtheorie und Geldpolitik in
Europa. Berlin 1999, 398.

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