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EU unter Zugzwang

12. Januar 2006

aus bruchlinien Nr. 13

Die wichtigsten Länder in der Europäischen Union haben einen Beitritt
der Türkei begrüßt. Aber mit der möglichen Erweiterung um das 72
Millionen-Land wird das Projekt von einer politischen Union obsolet.
Eine institutionelle Krise bahnt sich an.

Die
Möglichkeit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat
eine Unzahl von Reaktionen ausgelöst. Teile der europäischen
Christdemokratie wähnen ob der „schröcklichen Heiden“ das Abendland mit
samt seinen „christlichen Werten“ in Gefahr. Leserbriefe in
Tageszeitungen erklären, dass die Türkei nur zum kleinsten Teil in
Europa liegt, daher eine Mitgliedschaft in einer „Europäischen“ Union
nicht möglich sei – das ist die etwas dämlichere Argumentation. Andere
behaupten, dass Europa überall dort ist, wo den „europäischen Werten“
gefolgt wird, wo die Menschen „Europa denken“ – eine weniger dämliche
Expertise, ob des messianischen Untertons aber gefährlicher und
obendrein recht unbestimmt. Die „europäischen Werte“ scheinen
strukturell eine enge Verwandtschaft mit den „christlichen Werten“ zu
haben, bedeuten aber je nach Weltanschauung immer etwas anderes oder
dessen Gegenteil. Die britische Regierung ist für den Beitritt, oder
die Verhandlungen darüber, die deutsche und die französische auch.
Haider ist dafür, aber keiner weiß warum. Die FPÖ ist dagegen. Die USA
sind dafür. Die Autoren der bruchlinien sind dagegen, aber die sind
ohnehin gegen alles. Aber sie werden versuchen, den unterschiedlichen
Interessen für und gegen den Beitritt der Türkei auf den Grund zu gehen.

Unterschiedliche Europa-Projekte

Vielleicht
sogar das wichtigste Ergebnis bei der Analyse des Gezerres um die
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: DAS „europäische Projekt“ gibt
es nicht. Die EU entspricht keinem Masterplan, sie hat kein a priori
festgelegtes Ziel, keine feststehende Grenze, sondern stellt vielmehr
ein Kräfteparallelogramm unterschiedlicher Interessen dar. Im
Augenblick macht die EU nicht besonders viel aus, außer einer
Freihandelszone mit gemeinsamer Agrarpolitik – und das in einer Zeit,
in der der Freihandel international fast restlos durchgesetzt wurde
(die durchschnittlichen Zollhöhen sind mittlerweile auf fünf Prozent
gefallen) und für die meisten EU-Länder die Landwirtschaft nur mehr
folkloristisch-politische Bedeutung hat. Mit anderen Worten: Die EU ist
heute weniger, als sie noch in den 60er Jahren darstellte. Darüber, was
aus der EU werden soll, gibt es zwar allerlei hochtrabende Erklärungen
– so sieht der spanische Ministerpräsident Zapatero (gemeinsam mit
einem Teil der europäischen Sozialdemokratie) die EU als „künftige
Weltmacht“ – aber wenig gemeinsame Vorstellungen. Die Euro-Linke will
ein „soziales Europa“ (das sie sicher nicht bekommt). Die
österreichische Bundesregierung (und mit ihr alle Parlamentsparteien,
vielleicht mit Ausnahme der FPÖ) hätte gerne eine stärker politische
Union – hier ist sie einig mit Zapatero und seinen Träumen von der
europäischen Weltmacht. Deutschland und Frankreich haben dieses Ziel
wahrscheinlich schon wieder aufgegeben und suchen nach Möglichkeiten,
ein kerneuropäisches Projekt durchzusetzen, ohne zu viel diplomatisches
Porzellan zu zerschlagen. Und Großbritannien möchte so wenig Europa wie
nur irgend möglich.

Türkei-Beitritt als institutionelle Krise

Welche
Bedeutung hätte der Beitritt der Türkei für Europäische Union? Er kann
in seinen Konsequenzen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die
Türkei hatte 2003 pro Kopf ein BIP von 3645 Euro (11 Prozent der
EU-15), auch dieser Wert wird nur auf Grund einer durch die extrem hohe
Staatsverschuldung und den dadurch folgenden Kapitalimport stark
überbewerteten Währung erreicht. (Wird das BIP in Euro angegeben, ist
seine Höhe natürlich vom Wechselkurs abhängig.) In Kaufkraftparitäten
erreicht das BIP/Kopf 23 Prozent der EU 15. Einen Vergleichswert aus
der jüngsten Runde der Osterweiterung liefert etwa Polen: mit 41
Prozent weist dieses Land fast den doppelten Wert der Türkei auf. Die
von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung macht in Polen 16 Prozent
aus, in der Türkei um die 40. Bevölkerungsmäßig stellt die Türkei die
jüngste Runde der Osterweiterung in den Schatten: 72 zu insgesamt 60
Millionen, angesichts der noch relativ schnell wachsenden Bevölkerung
wäre die Türkei bei einem eventuellen Beitritt in Zukunft sicher das
EU-Land mit den meisten Einwohnern. Die heutige EU wäre bei einem
Voll-Beitritt der Türkei völlig überfordert: Die jetzige Agrarpolitik
der EU wäre mit 30 Millionen türkischer Bauern unfinanzierbar, die
Regionalpolitik ebenso, falls nicht alle bisherigen Beihilfenbezieher
auf ihre Subsidien verzichten. Und es ist kaum vorstellbar, dass
ernsthaft daran gedacht wird, der Türkei die gleichen politischen
Mitspracherechte einzuräumen wie Deutschland. Auch wenn sich Chirac
eventuell erhofft, durch Beitrittsverhandlungen die Türkei ein bisschen
aus dem amerikanischen Orbit zu lösen: Mit einem Beitritt wird die
politische Union noch unmöglicher, als sie das jetzt schon ist. Die
Debatte über den EU-Beitritt der Türkei ist also nicht nur eine Debatte
über „europäische“ und „christliche Werte“ und die Grenzen Europas, sie
dreht sich auch um die Struktur der Europäischen Union. Wer die Türkei
in der EU haben will, der will die EU nicht mehr in der jetzigen Form.
Nach der ersten Osterweiterung, der zweiten Runde der Osterweiterung
(Rumänien und Bulgarien 2007), der Erweiterung auf dem Balkan (falls es
dazu kommt), wäre der Beitritt der Türkei das endgültige Aus der EU als
relativ homogener Staatenbund.
Fraglich, ob sich alle handelnden
Akteure der Tragweite ihrer Politik bewusst sind. Zum einen werden
viele politische Wege nicht begangen, sondern erstolpert, und da man
der Türkei Beitrittsverhandlungen bei Erfüllung bestimmter Bedingungen
in Aussicht gestellt hatte, herrscht nun tatsächlich etwas Zugzwang.
Zum anderen scheinen viele EU-Politiker von einem derart tiefen Glauben
in die segensbringenden Kräfte des liberalisierten Marktes beseelt zu
sein, dass sie tatsächlich glauben, die Strukturprobleme der türkischen
Wirtschaft wären bis zu einem Beitritt beseitigt. Etwas schwer
nachzuvollziehen, in einem Land, das seit dem Beginn der 90er Jahre von
einem total überschuldeten Staatshaushalt (unter dem Kuratel des IWF
werden die Hälfte der Staatseinnahmen für den Schuldendienst
verwendet), zu hohen Zinsen, einem gigantischen Defizit der
Leistungsbilanz und folglich wiederkehrenden Finanzkrisen
gekennzeichnet ist – ein Umstand, den man durchaus auf die wenig
segensbringende Realität des liberalisierten Marktes zurückführen kann.

Aus für Soziales Europa und gemeinsame Wirtschaftspolitik

Interessant
ist, dass die Euro-Linke kaum Argumente gegen den Türkei-Beitritt
vorbringt. Es wiederholt sich die Situation vor der Osterweiterung:
Hauptsache, man agiere nicht populistisch, wenn dieses Vorgehen auch
den politischen Selbstmord bedeutet. Tatsächlich sabotieren die
Erweiterungsrunden die letzten Hoffnungen auf ein soziales Europa. Seit
Jahren argumentiert die Euro-Linke für die Wiederaufnahme der
keynesianischen Stabilisierungspolitik der Nachkriegszeit auf
europäischer Ebene. Grundsätzliche Voraussetzung wären eine
Vereinheitlichung der Wirtschaftspolitik, der Konjunktursteuerung, der
Sozialsysteme, der Steuersätze, obendrein wohl gewisse Handelsbarrieren
an den Außengrenzen, und eventuell auch europäische Kollektivverträge,
zumindest in einigen Branchen. Ob das funktionieren würde ist nicht
gesagt, die Realität geht jedenfalls in die exakt entgegengesetzte
Richtung, ganz wie es den Interessen des transnational agierenden
Kapitals entspricht. Der letzte Ansatz in die Richtung eines stärker
protektionistisch ausgerichteten europäischen Wirtschaftsraumes
scheiterte in den 80 Jahren, stattdessen wurde der Binnenmarkt mit
seiner verschärften Standortkonkurrenz eingeführt. Der Euro und seine
Maastrichtkriterien vereinheitlichen die Konjunktursteuerung nicht,
sondern schaffen sie einfach ab (noch das Beste, was man zum
„Stabilitätspakt“ sagen kann, ist, dass er wenigstens nicht vollständig
eingehalten wird). Die Osterweiterung hat die Standortkonkurrenz (was
Steuersätze und Lohnhöhen betrifft) noch einmal verstärkt – und mit
Rumänien wartet der nächste Brocken. Ein Betritt der Türkei würde wohl
auch die letzten Reste der keynesianischen Stabilisierungspolitik – die
Agrar- und Regionalpolitik – mit dem Argument der Unfinanzierbarkeit
beseitigen. Man darf getrost annehmen, dass genau auf einen solchen
Sachzwang von Seiten des EU-Kapitals gewartet wird, um dem „freien
Markt“ auch in der Landwirtschaft zum endgültigen Durchbruch zu
verhelfen. Aus den USA ist es ja hinreichend bekannt, dass über
Steuersenkungen riesige Budgetdefizite erzeugt werden, um in einem
nächsten Schritt zu behaupten, dass man sich die Systeme sozialer
Sicherung nicht mehr leisten könne. Und das Vorspiel für die
österreichischen rot-schwarzen „Sparpakete“ der 90er Jahre war Lacinas
„große Steuerreform“.
Was ist die Antwort der Linken auf diese
Tendenz? Ignacio Ramonet von der Le Monde diplomatique, ihres Zeichen
rechter Flügel des World Social Forum, schreibt: „Die Perspektive des
Beitritts zur Europäischen Union hat bereits als wichtigsten Effekt die
Stärkung der Demokratisierung, des Laizismus und der Menschenrechte in
der Türkei. In Richtung der großen Länder des östlichen Mittelmeers,
bedroht von der Gewalt und von obskuren politischen Strömungen, wäre
der Beitritt der Türkei eine Botschaft der Hoffnung, des Friedens, des
Wohlstands und der Demokratie.“ („Turquie“, Le Monde diplomatique, Nov
2004; eigene Übersetzung). Ohne den Autor zu kennen, könnte man
angesichts dieser Stellungnahme meinen, Erweiterungskommissar Verheugen
referiere über die Aufgaben der EU im Kampf der Zivilisationen. Ein
Projekt der Deregulierung des europäischen Binnenmarktes wird mit
Verweis auf die sakrosankte Laizität gerechtfertigt. Der Ruin von 30
Millionen in der Landwirtschaft Tätigen und die Auslieferung des
staatlichen Budgets an die internationalen Finanzmärkte wird zum Kampf
gegen „obskure Strömungen“ in Kauf genommen. Abgesehen davon ist
Ramonet offensichtlich in der Lage, die türkische politische Realität
vollständig auszublenden: Gerade die „obskuren“ islamischen Strömungen
haben eine gewisse Demokratisierung gebracht, das Joch der
laizistischen Militärs ein wenig gelockert.

Aus für politische Union – Willkommen in Kerneuropa?

Von
der Euro-Linken ist bekannt, dass sie auf das Verfolgen eigener
Interessen verzichtet, wenn die dafür notwendigen Mittel als nicht
politisch-korrekt angesehen werden. Von der deutschen oder der
französischen Regierung ist solches Verhalten im Allgemeinen nicht zu
erwarten. Verwunderlich daher, dass man sich von dieser Seite für die
Aufnahme von Beitrittsgesprächen entschlossen hat – wäre der Beitritt
der Türkei doch so etwas wie der endgültige Todesstoß für die siechende
politische Union. Damit kann man jedoch die Zustimmung der britischen
Regierung erklären, die allen weiterreichenden Integrationsbestrebungen
immer skeptisch gegenüberstand.
Der Gedanke, die ursprünglichen
Europäischen Gemeinschaften, EWG (Zollunion, später Binnenmarkt, Agrar-
und Regionalpolitik), EGKS (einheitliche Aufsicht über die
Schwerindustrie) und Euratom (Kernenergie) um eine politische Union zu
erweitern und zusammenzufassen, existiert seit dem Beginn der
westeuropäischen Integration. Aber erst Anfang der 90er Jahre wurde aus
den Europäischen Gemeinschaften die Europäische Union. Die politische
Union blieb und bleibt aber eine Chimäre, weil in den wesentlichen
Politikbereichen nach wie vor das Prinzip der Einstimmigkeit gilt. Im
Laufe der 90er Jahre wurde, gerade von Deutschland, Frankreich und
Belgien, wiederholt versucht, diesen Zustand noch vor der
Osterweiterung zu verändern, weil in der Folge der große Einfluss der
USA auf die Beitrittsländer und die schiere Heterogenität der Union
diesen Prozess erschweren würde. Herausgekommen sind grundsätzliche
Verpflichtungen zu Aufrüstung und gemeinsamer Außen- und Kriegspolitik,
aber keine grundsätzliche Änderung bei der Entscheidungsfindung. Auch
die in Ratifizierung befindliche „Europäische Verfassung“ schreibt im
Prinzip den Status quo der Einstimmigkeit fort. Und die Osterweiterung
ist mittlerweile erfolgt. Die Krise um den Irak-Krieg (als Deutschland
und Frankreich feststellen mussten, dass sie mit ihrer Position
praktisch allein waren und die Mehrzahl der EU-Länder, besonders die
osteuropäischen, den USA folgten), hat die politische Union de facto
als Illusion entlarvt. Wenn sich Deutschland und Frankreich heute für
die Aufnahme der Türkei einsetzen, dann ist das das offizielle Ende der
politischen Integrationsbestrebungen, das Scheitern wurde eingestanden.
Denn niemand kann glauben, dass mit der Türkei gelingen soll, was schon
ohne Polen scheiterte: Jede neue Erweiterungsrunde bringt zusätzliche
amerikanische Verbündete, die zwar am Binnenmarkt Interesse haben,
einen europäischen Superstaat aber ablehnen. Sollte die politische
Union jemals kommen, dann rund um ein deutsch-französisches Kerneuropa.

Stefan Hirsch

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