Notizen von einer Reise nach Venezuela
Seit Venezuelas Präsident Hugo Chavez den Prozess der
bolivarianischen Revolution eingeläutet hat, ist das südamerikanische Land
weltweit in das Blickfeld der Linken gerückt. Spätens jedoch seit Chavez vom
Sozialismus des 21. Jahrhunderts spricht und durch seine markigen
antiimperialistischen Aussagen Aufnahme in die Bush’sche Achse des Bösen
gefunden hat, ist Venezuela zum Hoffnungsträger eines neuen
antiimperialistischen Aufschwungs in Lateinamerika geworden. Eine Reise nach
Venezuela in der Zeit unmittelbar vor dem sechsten Weltsozialforum, das Ende
Jänner in Caracas stattfand, gab Anlass, den bolivarianischen Prozess aus
nächster Nähe zu betrachten.
Bolivarianische Reform statt Revolution
Um das Ende vorwegzunehmen: Wenn auch in Venezuela
zweifellos der derzeit dynamischste politische Prozess in Lateinamerika und
vielleicht weltweit stattfindet, von einer sozialen und politischen Revolution
oder gar einer sozialistischen Umgestaltung ist dieser Prozess noch weit
entfernt. Sein Ausgang ist vielmehr zur Stunde noch ungewiss. In einer
großflächigen soziale Verteilaktion lässt die Regierung Chavez die verarmten
Massen am Erdölreichtum teilhaben, die Besitzverhältnisse im Land, das wirtschaftliche
und politische System bleiben jedoch im Wesentlichen unangetastet. Die von der
Regierung Chavez ins Leben gerufenen Missionen im Gesundheits- und
Bildungswesen bedeuten für die Bevölkerung tatsächliche und konkrete
Verbesserungen. Darüber hinausgehende wirtschaftliche und soziale Reformen,
etwa die Landreform, und der Aufbau von politischen Strukturen, welche die
bürgerlich-parlamentarische Demokratie ersetzen könnten, gehen jedoch viel zu
langsam vor sich, als dass daraus ablesbar wäre, dass sich Venezuela auf dem
Weg zum Sozialismus befinden würde.
Wenn also Chavez nach Bin Laden und Sarkawi zum Enfant
terrible Nummer drei des Westens erklärt wurde, so hängst das nicht so sehr mit
der postulierten bolivarianischen Revolution zusammen, sondern vielmehr mit
seinem radikalen und immer radikaler werdenden antiimperialistischen Diskurs,
der ihn auf der politischen Ebene in direkten Antagonismus zu den USA bringt.
Dass sich die venezolanische Oligarchie, trotz im Kern zahmer Reformen und
offensichtlicher Reformunwilligkeit des gesamten Staatsapparates (mit Ausnahme
des Präsidenten selbst), in ihrer Existenz bedroht fühlt und bereits zweimal
versucht hat, Chavez von der Macht zu putschen, zeigt jedoch, dass in Venezuela
die Würfel noch nicht gefallen sind. Es hängt im Wesentlichen von der weiteren
Entwicklung der Volksbewegung und hier wiederum von der Politik der radikalen
Linken ab, ob der derzeitige bolivarianische Prozess auch wirklich in eine
Revolution übergehen wird oder nicht.
Die venezolanische Linke ist jedoch für ihre historische
Schwäche, die vor allem mit der relativen Stabilität des venezolanischen
politischen Systems über Jahrzehnte hinweg zu tun hat, bekannt. Darüber hinaus
stand und steht sie mehrheitlich in Opposition zu Chavez. Es ist daher nicht
verwunderlich, dass angesichts der erdrückenden Popularität des Präsidenten
jene Teile der Linken, die sich zwar links von der Regierung positionieren, den
bolivarianischen Prozess jedoch unterstützen, Schwierigkeiten haben, eine
bedeutende Rolle zu spielen. Im Gegenteil, dem interessierten politischen
Reisenden zeigt sich ein Bild einer weitgehend fragmentierten Bewegung, deren
Versuche zu einer nationalen Einigung und somit zu tatsächlichem politischen
Einfluss zu kommen erst in den Kinderschuhen stecken.
Fragmentierte urbane Barrio-Linke
In Caracas sowie im nordöstlichen Kerngebiet des Landes, in
dem der Großteil der Bevölkerung lebt, sucht man lange nach Organisationen und
Bewegungen, deren Einfluss über ihr unmittelbares urbanes Territorium hinaus
geht. Zugegeben beeindruckend sind die sozialen Organisationen im Barrio 23
Enero von Caracas, das historisch für seine Aufstands- und
Widerstandsbewegungen bekannt ist. Die Kollektive Coordinadora Simon Bolivar
und Alexis Vive kontrollieren weite Teile des riesigen Stadtteils sowohl
politisch als auch sozial, führen die Missionen der Regierung durch und
organisieren die Bevölkerung. Von hier aus ging auch ein wesentlicher Impuls
für den Volksaufstand gegen den April-Putsch im Jahr 2002 aus und man glaubt es
den GenossInnen sofort, wenn sie versichern, dass sie jederzeit wieder bereit
wären, Chavez auch mit Gewalt zu verteidigen.
Jenseits der riesigen Wohnblocks scheint jedoch auch die
politische Perspektive dieser Kollektive zu enden. Versuche, gemeinsam mit
anderen politischen und sozialen Organisationen breitere und vor allem
politisch artikuliertere Strukturen aufzubauen, gibt es erst seit Kurzem. Im
Sommer führten die Kollektive des Barrio 23 Enero gemeinsam mit der Frente
Nacional Campesino Ezequiel Zamora ein einwöchiges Lager durch, das sich
explizit als politische Alternative zu den offiziellen Weltjugendfestspielen
verstand. Auf dieser Erfahrung aufbauend findet Ende Jänner parallel zum
Weltsozialforum ein weiteres Lager mit internationaler Beteiligung statt. In
dessen Rahmen wird auch erstmals ein antiimperialistisches Treffen mit dem Ziel
über eine Zusammenarbeit antiimperialistischer Kräfte aus allen Teilen der Welt
zu diskutieren, abgehalten. Von diesen Versuchen abgesehen, zeichnet sich
jedoch im Allgemeinen ein stark zersplittertes Bild der urbanen Linken ab, in
dem soziale Bewegungen, politische Organisationen, Kollektive von Studierenden
und viele mehr alle einen Beitrag zum bolivarianischen Prozess leisten wollen,
oft allerdings nicht einmal über die Aktivitäten in den anderen Stadtteilen
Bescheid wissen.
Bauernbewegung und Poder Popular
Mehr Einfluss als in Caracas und anderen Großstädten hat die
Linke im Süden des Landes, vor allem in der Region Apure, wo sie in der
radikalen Bauernbewegung tief verwurzelt ist. Zu den wichtigsten Organisationen
zählt die Frente Nacional Campesino Ezequiel Zamora (FNCEZ). Sie organisiert
die Bauernschaft politisch und sozial, führt Landbesetzungen durch und
verteidigt diese gegen paramilitärische Angriffe, organisiert
Bauernkooperativen und politische Schulungen der Bauernschaft in Escuelas de
Poder Popular (Schulen der Volksmacht). In Apure arbeitet sie eng mit dem MBP –
Movimiento de Bases Populares (Bewegung für die Volksbasis) zusammen, das in
der Grenzstadt Guasdalito den Bürgermeister stellt.
Ein Besuch in der Gemeindeverwaltung erlaubt uns Einblick zu
nehmen, wie das Ziel der MBP – Aufbau des Poder Popular (Volksmacht) – in der
Praxis umgesetzt werden soll. Wesentliches Instrument ist die engmaschige
Organisationen der Bevölkerung in sukzessive aufgebauten Parallelstrukturen zur
traditionellen Gemeindeverwaltung, der Gemeindeversammlung der Volksmacht. Die
linke Gemeinde stößt dabei allerdings auf massive Schwierigkeiten und recht
offensichtliche Sabotageversuche, vor allen Dingen das Zurückhalten von
Geldern, die der Gemeinde zustehen, durch die übergeordnete regionale
Verwaltung.
Von der Notwendigkeit eines nationales Projektes der
Volksmacht
FNCEZ und MBP sind sich durchaus bewusst, dass es notwendig
ist, die regional sowie auf die Bauernschaft beschränkte Strategie zu
überwinden, wenn der bolivarianische Prozess in Richtung Aufbau einer
Volksmacht bzw. tatsächliche soziale Revolution weiter getrieben werden soll.
Es ist notwendig, ein nationales Projekt der Volksmacht aufzubauen, das sich
jedoch als Teil des bolivarianischen Prozesses und in Unterstützung des
Präsidenten Chavez versteht. Vor allem die FNCEZ bemüht sich daher einerseits
ihre soziale Verankerung im nordöstlichen Kernraum Venezuelas, andererseits die
Ausarbeitung einer nationalen Strategie und eines nationalen Projektes
voranzutreiben.
Eine der großen Schwierigkeiten, die sich dabei stellen,
liegt paradoxerweise in der Figur von Chavez selbst. Sein Apparat, seine
Bewegung MVR – Movimiento de la Quinta República und vor allem die staatlichen
Strukturen seiner Verwaltung sind ganz offensichtlich dabei sich in Bremsen des
bolivarianischen Prozesses zu verwandeln, in denen Bürokratismus, Korruption
und Vetternwirtschaft blühen. Er selbst jedoch entwickelt zunehmend nach links
gehende Positionen, nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch was den Prozess
innerhalb des Landes selbst betrifft. Das macht es für die radikale Linke alles
andere als leicht, sich als glaubhafte Alternative zum MVR zu etablieren.
Von der Notwendigkeit internationaler Solidarität
Auf die Frage, die wir als interessierte politische Reisende
an alle venezolanischen Organisationen, mit denen wir zusammen treffen,
stellen, nämlich ob mit einem weiteren Putschversuch der Oligarchie zu rechnen
ist, reagieren die Befragten mit Kopfnicken. Die Gefahr einer US-amerikanischen
Intervention, ob in direkter oder wahrscheinlicher in indirekter Form, ist
ebenfalls allgegenwärtig. Die radikale Linke bereitet sich darauf einerseits
mit Konzepten der Volksbewaffnung vor – ein Teil der traditionellen
venezolanischen Guerilla hat als FBL – Fuerzas Bolivarianas de Liberacià³n –
überlebt. Andererseits steht die dringliche Notwendigkeit internationaler
Unterstützung außer Frage. Über Lateinamerika hinaus gehend richtet sich der
Blick auf die bestehenden antiimperialistischen Widerstandshochburgen im Irak
und Palästina. Wenn dahin gehend auch wenig Erfahrung besteht und überdies der
Aufbau eines nationalen Projektes den Großteil der Kräfte bindet, so ist der
venezolanischen Linken dennoch klar, dass ein Zusammenschluss der
antiimperialistischer Widerstandsbewegungen ein wesentliches Instrument ist, um
das physische und politische Überleben der bolivarianischen Revolution zu gewährleisten.
Ein erster Schritt in diesem Sinne wird das Antiimperialistische Treffen
während des Weltsozialforums Ende Jänner in Caracas sein.
Margarethe Berger
21. Jänner 2006