Antibesatzungs- und Antiverfassungskräfte zeigen ihre
Stärke
Selbst nach einem Monat intensivster Verhandlungen konnte
die Wahlkommission kein Ergebnis präsentieren, das sowohl die verschiedenen
irakischen Fraktionen als auch den Besatzer zufriedenzustellen in der Lage
wäre. Trotz der zahllosen Stimmen die von Wahlbetrug sprechen, sind ein
bedeutender Teil der Sitze an Kräfte gegangen die nicht nur gegen die
US-Besatzung sind (im Irak kann niemand die Besatzung offen unterstützen)
sondern auch die Verfassung ablehnen, welche das Land in drei Einheiten
aufspaltet. Tatsächlich sind die wirklichen Marionettenkräfte von Allawi und
Chalabi auf eine winzige Minderheit reduziert worden. Trotz des Siegesgeschreis
können die USA keinen wesentlichen Schritt in Richtung Stabilisierung
verzeichnen.
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Was richtig ist, ist dass das irakische Volk zumindest
derzeit, entlang der Grenzen der drei großen Gemeinschaften im Land organisiert
ist: die Schiiten, die Sunniten und die Kurden. Dies wird von den Besatzern
begrüßt und versucht zu fördern, um darauf ein System des „divide et impera“,
„teile und herrsche“ aufzubauen. Aber die Trennlinien sind weniger starr als
sie scheinen mögen. Die Widersprüche innerhalb dieser Gemeinschaften sind
stärker als berichtet wird und unter veränderten Bedingungen können sie den Weg
bahnen für eine multikonfessionelle Koalition gegen die Besatzung, oder sogar
für eine Widerstands-, und Befreiungsfront. Auf der anderen Seite bedeutet
dieses „teile und herrsche“-System auch ein Problem für die USA. Einige
neokonservative Extremisten mögen an ihr Theorem des „kreativen Chaos“ glauben,
aber der Erfolg oder Misserfolg der US-amerikanischen Mission des
„Regimewechsels“ wird danach beurteilt werden, ob sie fähig war, ein stabiles
Marionettenregime zu erschaffen und den Irak mit seinen enormen Ölressourcen in
die kapitalistische Weltwirtschaft zu integrieren, um damit imperialistische
Stabilität in die gesamte so entscheidende Region des Nahen Ostens auszustrahlen.
Dieses Ziel ist nicht in Sicht und die Wahl brachte keine signifikanten
Schritte in diese Richtung:
a)
Derzeit haben die Besatzer nahezu die gesamte territoriale
Kontrolle an verschiedene Milizen verloren, von denen einige kollaborieren,
aber allen gemein ist, dass sie für ihre eigenen Ziele arbeiten. Unter
veränderten Bedingungen kann die zeitweise Überschneidung von Interessen
verschwinden und die USA würden mit nur sehr wenig in der Hand zurückbleiben.
b)
Besonders ihre Hauptsäule, die vom Iran unterstützte
Sciri-Dawa Koalition, wird kein verlässlicher Partner mehr sein, in einer sich
militärisch zuspitzenden Lage gegen den Iran. Daher zögern die USA ihnen den
gesamten Süden zu überlassen, da dies einem iranischen Protektorat gleichen
könnte. Überhaupt könnte das Setzen auf die Schiiten, welche der Schlüssel für
die US-Intervention waren, ein Schuss nach hinten gewesen sein. Schon jetzt
kündigte die Bewegung der armen Massen, geführt von Muqtada as Sadr, an, im
Falle eines US-Angriffs auf Teheran, sich zu erheben.
c)
Für alle wichtigen Partner der USA in der Region wird die
Schaffung eines Staatengebildes entlang „ethnischer�? Kriterien als tödliche
Bedrohung für ihre eigene Integrität gesehen. Indem die USA hier zu stark in
diese Richtung tendieren, bedrohen sie damit ihre eigene wackelige Architektur
der Region, was sie bereits taten, als sie Afghanistan angriffen.
d)
Ihre Absicht sich in schon bald in Militärbasen zurückzuziehen
und die tägliche Ausübung ihrer Herrschaft einem verlässlichen Marionettenregime
zu überlassen, wie im afghanischen Model, benötigt zumindest eine zentrale
Regierung die einige entscheidende Vorrechte ausüben darf. Es gibt aber keine
solche Regierung mit der notwendigen militärischen Kapazität und Zustimmung vom
Volk, welche ohne die ständige US-Intervention überleben könnte. Eben genau
diese Widersprüche zwischen den Gemeinschaften, welche gefördert worden waren,
verhindern dies.
2
Die Wahlen bringen nicht nur diese Probleme zum Vorschein,
sondern sie legen auch Zeugnis dafür ab, dass trotz allen Formen des Betruges
und der Unregelmäßigkeiten ein bedeutender Teil der Bevölkerung nicht nur die
Besatzung sondern auch die Verfassung als eine Konkretisierung der Besatzung
ablehnt. Das trifft nicht nur für das sunnitische Milieu zu, sondern auch für
das schiitische. Muqtada as Sadr, dessen Gruppen im Parlament die stärkste
Einzelfraktion sind, ist auch ein entschiedener Gegner der Verfassung. Während
auf der anderen Seite die Koalition von Kurden, Sciri und Dawa zum Ziel hat
diese durchzusetzen. Weit davon entfernt gelöst zu werden, ist diese Frage dazu
bestimmt auch in Zukunft eine Stabilisierung des Regimes zu verhindern.
Aber hat nicht der bewaffnete Widerstand zu einem Boykott
aufgerufen, der nicht mal von seinen eigenen Unterstützern befolgt worden ist?
Bedeutet das nicht einen Rückschlag oder gar eine Niederlage für den
Widerstand? Das ist die Interpretation der imperialistischen Medien. Natürlich,
wenn man von der Annahme ausgeht, dass der Widerstand de facto bereits eine
Nationale Befreiungsfront repräsentiert und nahe dran ist, die Besatzer aus dem
Land zu vertreiben – wie einige dem Widerstand nahestehende Personen behaupten
– dann sind die Ergebnisse tatsächlich grässlich. Wenn man aber von der
Überlegung ausgeht, dass der Widerstand recht beschränkt auf die sunnitischen
Gebiete ist und große Probleme hat, eine politische Vertretung zu bilden, dann
erscheinen die Ergebnisse in einem anderen Licht.
Genau um dieses politische Vakuum zu füllen tendierte auch
die sunnitische Bevölkerung dazu, sich an den Wahlen zu beteiligen, nachdem der
Boykott im Jänner 2005 nicht den Weg für eine Widerstandsfront geebnet hatte,
worauf der Aufstand von Muqtada 2004 zu hoffen Anlass gegeben hatte. Sie gingen
jedoch nicht zu den Urnen um die Besatzung zu bestätigen, sondern um ihr klares
Nein zum Ausdruck zu bringen, so wie es die meisten Anhänger von Muqtada taten.
Das Problem im Moment ist nicht, dass die Leute sich an den
Wahlen beteiligten, sondern dass es keine Liste gab, die direkt oder indirekt vom
Widerstand gebilligt worden war. So erhielt die kollaborierende Islamische
Partei eine disproportionale große Rolle, da es eben keine organische
Verbindung zu den Listen gab, um unumgängliche opportunistische Tendenzen in
Zaum zu halten.
Während die USA ihr Bestes geben um eine sunnitische
kollaborierende Gruppe zu forcieren, um den Widerstand zu untergraben und um
ein Gegengewicht zu den schiitischen Kräften aufzubauen, steht überhaupt nicht
fest, ob es ihnen so gelingen wird, die Unterstützung der sunnitischen
Bevölkerung zu gewinnen. Das wird davon abhängen, ob die USA bereit sind,
bedeutende Macht an sie zu übertragen, nicht nur in den Regionen mit
sunnitischer Mehrheit, sondern auch auf nationaler Ebene. Der derzeitige
„föderalistische“ Verfassungsentwurf müsste hierfür fallen gelassen werden,
etwas zu dem weder die USA noch ihre derzeitigen Partner Sciri und Dawa bereit
sind. So befinden sich die USA auch auf dieser Front in Problemen.
3
Die politischen Führer des Widerstands verstehen, dass der Schlüssel
zu ihrem Sieg eine Nationale Befreiungsfront ist, die um jeden Preis Muqtada as
Sadr einschließen muss, oder zumindest bedeutende Teile seiner Gefolgschaft.
Wegen historischer Ursachen ist gerade das nicht einfach zu erreichen und
derzeit scheint es erst mal blockiert zu sein.
Es gibt jedoch einige unbestreitbare Schritte in diese
Richtung. Es gab nicht nur die Kooperation während der Aufstände 2004, sondern
es gibt auch eine gemeinsame Basis was die Ablehnung der Besatzung ebenso wie
der Verfassung betrifft. Ungeachtet der Tatsache, dass die Stimmabgabe entlang
konfessioneller Grenzen erfolgte, ist dies eine starke Basis für einen
überkonfessionellen, also nationalen, Block. Mehrere Hindernisse müssen hier
überwunden werden.
Die Widersprüche zwischen Muqtada einerseits und Sciri-Dawa
andererseits müssen anwachsen und zum Ausbruch kommen. Angesichts der
Verschlechterungen der Lebensbedingungen der armen Massen für die die
regierenden Kräfte sich verantwortlich zeichnen, ist dies eine unerbittliche Tendenz.
Dann gibt es natürlich noch die Reaktionen gegenüber einer eskalierenden
Kampagne gegen den Iran. Bestimmt wird Muqtada größere Bereitschaft zeigen, die
USA im Irak anzugreifen, als Sciri-Dawa, welche den irakischen Widerstand um
jeden Preis ausradieren wollen.
Auf der anderen Seite muss der Widerstand das
militaristische Herangehen ablegen, bei dem Politik gleichgesetzt wird mit
Kapitulation. Mit dieser weitverbreiteten Ansicht innerhalb der
selbstorganisierten Widerstandskräfte, die sich hierbei mit den antistaatlichen
Traditionen von al Anbar überschneiden mag, überlassen sie das politische Feld
auch innerhalb des sunnitischen Milieus an opportunistische oder selbst
kollaborierende Kräfte. Ohne eine politische Front hat das Volk keine andere Möglichkeit
sich politisch auszudrücken als sich an Wahlen zu beteiligen.
Aber die wichtigste Herausforderung ist es den Volksmassen
zu versichern, dass – nicht nur aber vor allem – eine politische
Widerstandsfront nicht den baathistischen Fehler des politischen Ausschlusses
wiederholt. Die vereinigten Kräfte gegen die Besatzung können nur gewinnen,
wenn sie der „Demokratie“ die von den USA aufgezwungen wird, ein Modell der
Volksmacht gegenüberstellen, welches die Partizipation der unteren Klassen
ermöglicht. Dies ist der Schlüssel um den historischen Spagat zwischen dem
Widerstand und der Bewegung von Muaqtada zu überwinden.
Antiimperialistisches Lager
28. Jänner 2006