Artikel aus den bruchlinien
Die Wahlen zum irakischen
Parlament brachten neue Gegensätze hervor anstatt eine Normalisierung zu
bewirken.
Es wäre zu erwarten gewesen, dass die westlichen Regimemedien die Wahlen
als Erfolg der US-Normalisierungsbemühungen im Irak feiern würden. So hoben sie
auch nach dem 15. Dezember 2005 dazu an, doch der Brocken erwies sich als zu
kantig und blieb ihnen im Rachen stecken, so dass sie es zunehmend vorzogen zu
schweigen. Allein die Tatsache, dass die Wahlkommission mehr als fünf Wochen dazu
brauchte ein Ergebnis zu präsentieren, musste stutzig machen. Alles erinnerte
zu sehr an das Verfassungsreferendum vom vergangenen Oktober, wo die Ergebnisse
behutsam so angepasst wurden, dass zwar das gewünschte Ergebnis schließlich
zustande kam, jedoch es den Gegnern der Verfassung nicht zu leicht gemacht
würde auf Wahlfälschung zu verweisen. Auch diesmal wurden in der Grünen Zone
von Bagdad die Ergebnisse ausgehandelt, so dass die verschiedenen, unter
einander verfeindeten Kollaborateure der USA sich nicht zu sehr unter einander
in die Haare bekommen würden und das Marionettenregime, bevor es festen Boden
unter den Füßen zu spüren bekäme, in die Luft flöge.
Doch trotz allen Feilschens, die Wahlen haben die Größe des amerikanischen
Problems nun auch auf der politischen Ebene deutlich hervortreten lassen.
Keine einzige politische Formation – vielleicht mit Ausnahme der Kurden –
kann im Irak heute für die amerikanische Militärpräsenz eintreten. Das Ende der
Besatzung ist in aller Munde, vielmehr geht es um die Bedingungen dieses Endes.
Wenn man sich nun die Wahlergebnisse näher ansieht, stellt sich heraus, dass
die radikalen Antibesatzungskräfte eine wesentliche Kraft auch im Parlament
darstellen, die die Bildung eines durch Wahlen legitimierten Marionettenregimes
(Stickwort: Demokratieexport) sehr schwierig machen.
Die schiitische Liste wird von der wichtigsten Kraft der Kollaboration
geführt, namentlich Sciri und Dawa, doch die größte Gruppe, die mittels dieser
Liste ins Parlament einziehen wird, ist die Bewegung von Muqtada as Sadr. Sie
stellt nun sogar die stärkste einzelne Fraktion im Parlament. Scheinbar
bedurften Scriri und Dawa Muqtada um die Stimmenmehrheit zu erhalten. Muqtada
hat jedoch nicht nur den sofortigen und bedingungslosen Abzug der
US-Besatzungstruppen gefordert, sondern er tritt auch gegen die Verfassung auf,
die den Irak in drei Ministaaten zerlegt, auch wenn er im Referendum nicht
gegen sie engagiert hatte. Diese Zwiespältigkeit charakterisiert seine Politik
von Anbeginn der Besatzung. Auch die gemeinsame schiitische Liste dient
letztlich den Marionetten der Besatzung.
44 Sitze wurden der Liste der Islamischen Partei zugesprochen. Einerseits
hat sich diese zur Kollaboration bereit gezeigt. So war sie bereits am
Übergangsrat Bremers beteiligt. Obwohl sie gegen die Verfassung stand,
akzeptiere sie diese, um den „politischen Prozess“ in Gang zu bringen. Doch die
starke Unterstützung, die sie im sunnitischen Bereich erhielt, kann nicht mit
dieser Kollaboration erklärt werden, sondern kam trotz dieser zustande.
Insofern als der Widerstand sich auf den militärischen Bereich beschränkt,
sahen die sunnitischen Massen keine andere Möglichkeit ihrer Ablehnung der
Besatzung politischen Ausdruck zu verleihen als die sunnitischen Listen zu
wählen. Das gilt noch viel mehr für die Liste Mutlaqs, der offen die Verfassung
bekämpft und die bewaffnete Widerstandsbewegung als legitim bezeichnet.
Gewiss, die Wahlbeteiligung war nicht so hoch wie angegeben und es gab
allerorts Wahlbetrug. Diejenige Kraft, die die regionale Kontrolle ausübt,
stopfte die Urnen mit den entsprechenden Stimmzetteln voll. Dennoch, die
Tatsache, dass der Widerstand von Angriffen absah und de facto für die Wahlen
einen Waffenstillstand befolgte, zeigt, dass er indirekt anerkannte, dass ein
guter Teil seiner Basis zur Beteiligung drängte.
Von den westlichen Medien, aber auch von vielen Unterstützern des
Widerstands wurde das als Niederlage für diesen gewertet. Doch kann jemand
ernsthaft glauben, dass, nur weil jemand seine Stimme abgibt, er die Besatzung
und ihre Institutionen nun auf einmal akzeptiert? Eine Niederlage für den
Widerstand wäre es dann gewesen, wenn tatsächlich zutreffen würde, was vielfach
in panarabischen Kreisen kolportiert wird, nämlich, dass die USA nicht mehr
könnten und vor dem Abzug ständen. Dies entspricht den eigenen
Stärkebezeugungen, die eine politische Front des Widerstands mit der
Zusammenarbeit der existierenden bewaffneten Kräfte verwechseln. Das sind Selbsttäuschungen.
Tatsächlich muss eingestanden werden, dass der Widerstand auf den sunnitischen
Bereich beschränkt und dort wiederum im Wesentlichen eine militärische Bewegung
ist, die über noch kein gemeinsames politisches Projekt verfügt.
Unmittelbar nach dem Jahr 2004, wo es mit den Aufstandsversuchen von
Muqtada as Sadr zum Zusammenfließen von sunnitischen und schiitischen Kräften
gegen die Besatzung kam, wurde der Wahlboykott des Widerstands zumindest im
sunnitischen Bereich befolgt. Doch sieht man der heutigen Realität ins Auge, so
hat der Widerstand keinen adäquaten politischen Ausdruck. Nachdem die
politische Front fehlt, ja ein richtiggehendes politisches Vakuum im Bereich
des Widerstands die Situation prägt, versuchten deren sunnitische Unterstützer
ihrer Ablehnung der Besatzung und der Verfassung mittels der Wahlen Ausdruck zu
verleihen. Das bedeutet indes noch keine Unterstützung des Marionettenregimes.
Auch die Tatsache, dass das Niveau der militärischen Aktivität des Widerstands
keineswegs zurückgegangen ist, beweist, dass die Wahlbeteiligung den Widerstand
und dessen Verankerung im Volk nicht geschwächt hat.
Viele politische Persönlichkeiten im Umfeld des Widerstands warnen vor dem
Opportunismus und der möglichen oder gar wahrscheinlichen Eingliederung der
sunnitischen Listen in den „politischen Prozess“ und das Marionettenregime der
Amerikaner – und begründen damit den Wahlboykott. Die Warnung ist richtig und
wichtig, zumal die USA im Herbst 2005 eine taktische Wende vollzogen haben und
nun besondere Anstrengungen zur Bildung einer sunnitischen Kollaborateurskraft
unternehmen. Dass die Stimmen der Basis des Widerstands an die Liste Dulaimi
der Islamischen Partei gegangen sind, stellt tatsächlich ein Problem dar. Die
Liste Mutlaq ist auch durch dessen Herkunft aus Falluja sicher näher am
Widerstand und kann sich einen offenen Verrat nicht leisten. Doch auch Mutlaq
scheint mehr von persönlichen Interessen getrieben zu sein als sich zum
Sprachrohr des Widerstands machen zu wollen.
Doch die Frage ist, wie diesem Opportunismus und vielmehr dem
amerikanischen Projekt der Kooptation etwas politisch entgegengesetzt werden
kann. Die Wahlbeteiligung als solche anzugreifen und keine politische
Alternative außer dem nackten militärischen Widerstand zu bieten schafft ein
Vakuum, das die Grundlage des Opportunismus bildet. Vielmehr muss es unter den
gegebenen Bedingungen darum gehen, mit dem Wählerwillen im Rücken die
Abgeordneten, oder zu mindestens einige von ihnen, der Position des Widerstands
zu verpflichten und entsprechend die anderen zu denunzieren. Insofern als es
unwahrscheinlich ist, dass die USA ein substantielles Angebot machen können
ohne ihre Hauptverbündeten zu vergrämen, haben die Kollaborateure nichts außer
leeren Versprechungen in der Hand.
Nachträglich gesehen wäre es jedoch das Beste gewesen, wenn der Widerstand
eine eigene Liste, so verdeckt das auch hätte stattfinden müssen, aufgestellt
oder sich verpflichtet hätte. Doch abgesehen von der schon genannten
militaristischen Tendenz, hinderte den Widerstand auch seine politische
Uneinheitlichkeit, die fehlende Fähigkeit, gemeinsame Kandidaten zu nominieren,
an einem solchen Schritt.
Viele im Widerstand betrachten einen solchen Vorschlag heute glatt als
Verrat. Doch die selbst verschuldete politische Isolation, das politische
Vakuum, gibt nicht nur dem Opportunismus anderer Kräfte Manövrierraum, sondern
wird auch in der Guerilla selbst früher oder später opportunistische Tendenzen
produzieren. Dies lehren die Erfahrungen der zentralamerikanischen Aufstandsbewegungen
in den 80er Jahren.
Bis jetzt hat sich Teheran als die entscheidende Stütze der US-Besatzung
geriert. Die, vom Iran gesteuerten Kräfte um Sciri und Dawa haben den
Staatsapparat in die Hand genommen, halten die Schiiten ruhig und bekämpfen mit
allen Mitteln den Widerstand. Die Entscheidung, auf die proiranischen
Schiitenparteien und den mit ihnen verbundenen Klerus zu setzen, fiel in
Washington noch unter den Bedingungen, dass in Teheran Kräfte kommandierten,
die letztlich die Eingliederung in die Weltwirtschaft und den politischen
Ausgleich mit dem Westen suchten. So wenig die Beziehung mit Washington auch
damals konfliktfrei war und Persien bereits ganz oben auf der Liste der
Schurkenstaaten figurierte, so handelte es sich mehr um eine Frage des Preises
als darum, ob man überhaupt handelseinig würde.
Tatsächlich lautete das Abkommen, dass die USA den Iran nicht angriffen,
solange dieser für sie im Irak die Kohlen aus dem Feuer holte. Dies mag von
beiden Seiten unehrlich gemeint gewesen sein, doch was zählte war das Resultat.
Angesichts der iranischen Hilfe für die US-Intervention in Afghanistan sowie
der historischen Rechnung, die die Mullahs vermeinten mit Baath begleichen zu
müssen, hielt das stille Abkommen.
Doch im Laufe des vergangenen Jahres änderten sich zwei Parameter:
Einerseits forcierte Teheran sein Atomprogramm und andererseits gewann
unerwarteter Weise Ahmedinejad gegen den Favoriten des Westens, Rafsanjani, bei
den Präsidentschaftswahlen. Dies zeigte, dass der antiwestliche Impuls der
islamischen Revolution noch nicht tot ist und ließ in Washington die
Alarmglocken schrillen. Das neokonservative Messerwetzen fand wieder einmal
Eingang in den Regimemainstream. So wie im Vorfeld des Irak-Krieges gegen Baath
läuft heute die Kampagne gegen den Iran auf Hochtouren.
Welche Formen die Aggression gegen den Iran auch annehmen wird, als sicher
kann gelten, dass es ohne den Aufbau eines militärischen Drohpotentials nicht
gehen kann. Dabei kommt dem Irak als Aufmarschgebiet eine außerordentlich
wichtige Rolle zu. Die Tatsache, dass proiranische Kräfte die Kontrolle über
die mehrheitlich schiitischen und kurdischen Gebiete des Irak und insbesondere
über die gesamte Grenzlinie inne haben, wird so zu einem strategischen Problem
für Washington.
Nun das Pferd zu wechseln, die schiitische Kräfte als Hauptstützen der
Besatzung fallen zu lassen, wird selbst den radikalsten Neokonservativen als zu
abenteuerlich erscheinen. Doch sich eine zweite Stütze, ein Gegengewicht
aufzubauen, das später im Zuge einer militärischen Aggression gegen den Iran
als Alternative dienen kann, scheint plausibler. Diese Hypothese dient als
Schlüssel zum Verständnis der amerikanischen Avancen gegenüber dem sunnitischen
Milieu und insbesondere der Baath-Partei. Nach drei Jahren „Entbaathizierung“
wird Washington wohl vermeinen, dass der Welt gegenüber der Beweis erbracht
sei, dass man es ernst meinte, wenn es um die Vernichtung des Gegners geht. Im
Übrigen hat sich die Entbaathizierung, die die ersatzlose Zerschlagung des
Staatsapparates nach sich zog, als kolossaler strategischer Fehler erwiesen,
der die Möglichkeit zu einer bewaffneten Widerstandsbewegung schuf. Vermutlich
hätte ein in Amt und Würden verbliebener, enthaupteter Baath-Staatsapparat ein
viel verlässlicheres Marionettenregime abgegeben als es heute die proiranischen
Kräfte tun.
Darum wurden gegen den Willen der heutigen Machthaber in den letzten Wochen
des vergangenen Jahres Hunderte, zum Teil hohe Baath-Funtionäre aus der US-Haft
entlassen. Als ehemalige Baathisten auf den sunnitischen Kandidatenlisten
erschienen und das neue Bagdader Regime diese streichen wollte, drückte
Washington sie dennoch durch.
Ob das amerikanische Kalkül aufgeht hängt jedoch nicht von ein paar
mickrigen Zugeständnissen ab. Wenn den sunnitischen Eliten die Macht über den
gesamten Irak zurückgegeben wird, sei es auch in Kooptation mit verschiedenen
schiitischen Kräften so wie es schon aus der Zeit der probritischen Monarchie
Präzedenzfälle gibt, so würde das zweifellos funktionieren. Doch die
proiranischen Kräfte lassen sich sicher nicht so einfach von der Macht
verdrängen. Dazu bedürfte es eines Krieges der unweigerlich Züge eines
Bürgerkrieges annehmen müsste. Mit welcher Härte und Ausdauer diese geführt
werden könnte, mag die Erinnerung an den Iran-Irak-Krieg anschaulich machen.
Solange Kriegshandlungen gegen den Iran nicht unmittelbar bevorstehen, können
die USA daran wohl kein Interesse haben. Insofern ist es auch unwahrscheinlich,
dass sie den sunnitischen Eliten ein überzeugendes Angebot zu machen in der
Lage wären. Die USA haben also einen Widerspruch benutzt und verstärkt, der
ihnen entgleiten könnte.
Die Attraktivität der von den Besatzern entworfenen neuen Verfassung des
Iraks liegt für die kurdische und schiitische Führung in dem, was euphemistisch
als Föderalismus bezeichnet wird. Tatsächlich sieht die Konstitution drei
Ministaaten entlang dessen vor, was der westliche Diskurs gerne als Ethnien
bezeichnet, die nur mehr lose durch eine schwache Zentrale zusammengehalten
werden. Für die Kurden erscheint das als ein Schritt in Richtung der erstrebten
Unabhängigkeit oder zumindest als Konsolidierung der Autonomie. Für die
proiranischen Schiitenparteien dient die Verfassung zur formalen Absegnung
eines iranischen De-facto-Protektorates im Süden des Iraks.
So wenig die drei Entitäten Ethnien sind – die Kurden sind eine
Nationalität und Schiiten und Sunniten sind Konfessionen der Nation der
arabischen Iraker -, so sehr haben die Wahlen ihrer Konstituierung als
politische Entitäten Vorschub geleistet, etwas, was in der jüngeren irakischen
Geschichte keineswegs so eindeutig angelegt wäre, wie es uns die westlichen
Medien glauben machen wollen.
Seitens der USA ist diese Dreiteilung im Sinne der alten Strategie des
Teile-und-Herrsche konzipiert worden. Doch die Zerlegung des Iraks entlang
dieser Linien ist für die USA nicht problemlos und könnte die Situation statt
sie zu stabilisieren noch weiter außer Kontrolle bringen.
Neben dem Problem des bereits berührten unerwünschten iranischen Einflusses
können die USA letztlich an Chaos und bürgerkriegsartigen Zuständen kein
Interesse haben. Nicht nur, dass sie zur Ausbeutung der Ölreserven halbwegs
geordneter Verhältnisse bedürfen. Auch geopolitisch müssen sie an einem
funktionierenden Zentralstaat, so schwach er auch sein mag, festhalten. Sie
traten den Krieg an, um ihrem globalen System Stabilität und ihrem Recht
Geltung zu verschaffen. Ja, letztlich werden sie auch daran gemessen werden,
wie sehr der von ihnen proklamierte Export der Demokratie nach amerikanischem
Vorbild funktioniert. Wenn mittelfristig nichts von diesen Ankündigungen wahr
gemacht, der Irak ein zweites Afghanistan wird, wenn nicht einmal die
Rohölproduktion gesteigert werden kann, so läuft das auf einen Verlust der
Glaubwürdigkeit hinaus, der der amerikanischen Vormachtstellung abträglich ist.
Drittens sei noch bemerkt, dass auch alle wesentlichen Verbündeten in der
Region eine Veränderung der Grenzen als Destabilisierungsfaktor für ihre
eigenen Regime fürchten. Mag sein, dass die Neocons auch hinsichtlich dieser
„regime change“ planen – man hat in der Ukraine gesehen, dass auch Verbündete
nicht vor den USA sicher sind – doch bei nüchterner Betrachtung reicht die
Macht der USA einfach nicht aus, an so vielen Fronten gleichzeitig zu kämpfen.
Ansonsten riskieren sie wie beim Afghanistankrieg ein jahrzehntelang bewährtes
Bündnissystem zu zerschlagen, ohne dieses durch eine angemessene Alternative
ersetzen zu können. Seit dem Sturz der Taliban befindet sich das strategisch
überaus wichtige Pakistan in einer existentiellen Krise. Es könnte sich also
ergeben, dass die USA im Irak Geister gerufen haben, die sie wie der
Zauberlehrling nicht zu kontrollieren vermögen.
Indes sind die zentrifugalen konfessionalistischen Tendenzen auch für den
Widerstand ein Problem. Doch bei genauerem Hinsehen finden sich auch
entgegengesetzte, auf die nationale Vereinigung zielende Momente. Neben dem
sunnitischen Widerstand, der ja den nationalen Anspruch nie aufgegeben hat, ist
es vor allem die Bewegung von Muqtada, die sich gegen die Spaltung des Landes,
so wie sie die Verfassung vorsieht, stellt. Wiewohl es sich um eine
konfessionelle Bewegung handelt, so ist sie dennoch nicht konfessionalistisch
(genauso wie sich die schiitische Hisbollah im Libanon als einzige Partei des
Landes gegen das konfessionalistische Wahlsystem stellt). In der Tiefe der
schiitischen Massen überwiegt nach wie vor ein irakisch-arabischer
Nationalismus, der über dem Naheverhältnis zu den persischen Glaubensbrüdern
steht – Aspekte, welche sich nicht grundsätzlich auszuschließen brauchen.
Die historische Perspektive des irakischen Widerstands steht und fällt
damit, ob er Wege zu finden vermag die Brücke zu den antiimperialistischen
Teilen des schiitischen politischen Islam zu bauen. Gewiss, der historische
Konflikt vor allem mit Baath sitzt tief und wird nicht leicht zu überwinden
sein. Doch es gibt unzweifelhaft Momente, die in diese Richtung weisen.
Es ist unrealistisch von Baath eine glaubhafte Selbstkritik über die
vergangenen dreißig Jahre zu erwarten, umso mehr als ihre Anhänger heute eine
führende Rolle im Widerstand spielen, während die schiitischen Massen in einer
Wartestellung verharren.
Viele mögen die zunehmende Islamisierung des sunnitischen Widerstands als
Problem ansehen, doch für ein Bündnis mit der Bewegung Muqtadas könnte es sogar
ein Vorteil sein, weil damit die historische Verantwortung für den reaktionären
Krieg gegen den Iran und die daraus resultierende Unterdrückung des schiitischen
politischen Islams, der zur dominanten Strömung unter den Schiiten wurde, in
den Hintergrund rückt. Der Islam könnte sich also als identitäres Bindeglied
erweisen. So problematisch sich das Fehlen von genauen politischen
Vorstellungen im Islam über die Verfassung eines Staates erwiesen hat, so sehr
könnte das im irakischen Fall von Vorteil sein.
Entscheidend für eine solche politische Front des Widerstands zur
nationalen Befreiung werden zwei Punkte sein: einerseits soziale Gerechtigkeit,
vor allem für die vorwiegend schiitische Armut, einzufordern und zu erkämpfen;
andererseits die politische Partizipation der Volksmassen, insbesondere auch
hier wiederum der schiitischen, die bisher gänzlich ausgeschlossen waren, zu
ermöglichen. Das Programm muss also eines der Volksmacht sein, einerlei ob
diese nun einen islamischen Anstrich trägt oder nicht.
Nicht nur von der westlichen, sondern auch von der arabischen Presse wird
über Verhandlungen zwischen den USA und Teilen des Widerstands gesprochen. Je
mehr, desto heftiger dementiert allerdings das politische Milieu in der
Umgebung des Widerstands. Tatsache ist jedenfalls, dass von Seiten der USA im
Herbst eine wichtige taktische Wende vollzogen wurde. Der Widerstand soll nicht
mehr nur mit militärischen Mitteln besiegt, sondern auch politisch eingebunden
werden. Allem Anschein nach ging bis jetzt keine der entscheidenden Kräfte des
Widerstands auf das Angebot ein. Dies wird prinzipiell begründet: „Mit
Besatzern verhandelt man nicht, außer über ihren sofortigen Abzug.“
Die Position scheint auf den ersten Blick hart und aus einer Situation der
Stärke heraus. Doch bei näherem Hinsehen wird sie überaus problematisch. Bisher
hat sie gehalten, weil die Angebote der Besatzer nicht ausreichten. Doch entwickelt
sich die amerikanische Aggression gegen den Iran, so wird die Bereitschaft zu
substantiellen Zugeständnissen seitens der USA steigen. Und dann ist es mehr
als zweifelhaft, ob die Ablehnungsfront hält.
Militärisch hat sich der Widerstand als erstaunlich stark erwiesen. Doch
seine Position ist insgesamt schwierig, nicht nur, weil er bis jetzt keine
gemeinsame politische Vertretung bilden konnte, sondern auch, weil er
international völlig alleine ist und früher oder später durch den Verschleiß
der Mittel auch militärische Schwierigkeiten entstehen werden.
Gesteht man sich diese Kräfteverhältnisse ein, so verwandelt sich die
grundsätzliche Ablehnung von Verhandlungen zu einer Auflage für
opportunistische und gar kapitulatorische Tendenzen ganz in Analogie mit der
Frage der Wahlen. Das Problem sind nicht Verhandlungen als solche – diese
können ein wertvolles propagandistisches Medium sein -, sondern mit welchen
Positionen man dort auftritt, ob man in der Substanz das Recht auf
Selbstbestimmung verteidigt oder ob man kapituliert. Auch auf diesem Feld wäre
es wohl besser, wenn der Widerstand den opportunistischen Tendenzen offensiv
den Wind aus den Segeln nähme und seine Bereitschaft zu Verhandlungen unter
klar definierten Bedingungen signalisierte. So kann eine gefährliche Spaltung
hintan gehalten und die Hegemonie der antiimperialistischen Strömungen erhalten
werden.
Jedenfalls muss sich der Widerstand auf viele Jahre des Kampfes einstellen.
Militärisch mag das ein Problem sein, politisch spielt die Zeit eher für den
Widerstand. Nicht nur, dass sich die USA in die von ihnen instrumentalisierten
Widersprüche verstricken, sondern auch in der schiitischen Bevölkerung wird die
Kluft zwischen kollaborierender Führung und antiamerikanischer Basis größer,
welches Muqtada tendenziell auf die Seite des Widerstands drängt. Die
konfessionalistischen Anschläge, die von den Irakern entweder westlichen
Geheimdienste oder ausländischen salafistischen Kämpfern zugeschrieben werden,
haben es bis jetzt noch nicht geschafft, konfessionelle Spannungen nach
pakistanischem Vorbild auszulösen. Von Seiten der Massen ist der Wunsch nach
nationaler Einheit zumindest als ein Moment da. Es hängt vom politischen
Weitblick der Führungen ab, ob sie diese in einem wechselseitigen Prozess der
Annäherung in ein gemeinsames politisches Programm zur nationalen Befreiung
gießen können.
Willi Langthaler
Wien, Ende Januar 2006
Wenn man sich nun die Wahlergebnisse näher ansieht, stellt sich heraus,
dass die radikalen Antibesatzungskräfte eine wesentliche Kraft auch im
Parlament darstellen, die die Bildung eines durch Wahlen legitimierten
Marionettenregimes (Stickwort: Demokratieexport) sehr schwierig machen.
Tatsächlich muss eingestanden werden, dass der Widerstand auf den
sunnitischen Bereich beschränkt und dort wiederum im Wesentlichen eine
militärische Bewegung ist, die über noch kein gemeinsames politisches Projekt
verfügt.
Doch die selbst verschuldete politische Isolation, das politische Vakuum,
gibt nicht nur dem Opportunismus anderer Kräfte Manövrierraum, sondern wird
auch in der Guerilla selbst früher oder später opportunistische Tendenzen
produzieren.
Nun das Pferd zu wechseln, die schiitische Kräfte als Hauptstützen der
Besatzung fallen zu lassen, wird selbst den radikalsten Neokonservativen als zu
abenteuerlich erscheinen. Doch sich eine zweite Stütze, ein Gegengewicht
aufzubauen, das später im Zuge einer militärischen Aggression gegen den Iran
als Alternative dienen kann, scheint plausibler.
Die historische Perspektive des irakischen Widerstands steht und fällt
damit, ob er Wege zu finden vermag die Brücke zu den antiimperialistischen
Teilen des schiitischen politischen Islam zu bauen.
So kann eine gefährliche Spaltung hintan gehalten und die Hegemonie der
antiimperialistischen Strömungen erhalten werden.