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Der „befreite“ Gazastreifen

28. Februar 2006

Haben sich die Lebensbedingungen der
Bevölkerung tatsächlich verbessert?Nur wenige Monate sind seit dem Rückzug der
siebentausend israelischen Siedler aus dem Gazastreifen vergangen, doch die
Spannungen in diesem Stück Land, das an das Meer grenzt, bleiben hoch. Die
politische Strategie, die dem israelischen Rückzug zugrunde liegt, stellt
keineswegs, wie das die westlichen Medien darstellen, den einzigen wirklichen
Versuch bisher dar, einen Friedensprozess einzuläuten. Vielmehr handelt es sich
um einen unilateralen Schachzug, der dazu dient, die Fortsetzung der Besatzung
des Westjordanlands und Ostjerusalems zu verschleiern. Seit damals hat Israel
sein Werk des Siedlungsbaus durch die Errichtung neuer Vorposten – Embryonen
neuer Siedlungen – im Jordantal und im Westjordanland fortgesetzt. Der Mauerbau
geht ohne Unterbrechung und wie bisher in Illegalität weiter. Die militärischen
Übergriffe in den besetzten Gebieten haben nie aufgehört.

Doch gerade im Gazastreifen sind die
Lebensbedingungen der Bevölkerung weiterhin sehr kritisch, sowohl was die
Lebensqualität betrifft, als auch was die öffentliche Ordnung betrifft. Die
Bevölkerung, die schon von 38 Jahren der israelischen Besatzung und
insbesondere den letzten während der Intifada gezeichnet ist, sieht sich nach
der „Befreiung“ ihres eigenen Landes wirtschaftlichen Bedingungen gegenüber,
die noch nie so dramatisch waren. Es genügt, sich vor Augen zu halten, dass die
Arbeitslosigkeit zurzeit bei 38% und der Prozentsatz der Personen, die unter
der Armutsgrenze von zwei US-Dollar pro Tag leben bei 73% liegen.1

Die Wirtschaft des Gazastreifens, die in hohem Maße
von der Landwirtschaft abhängt, liegt auf dem Boden und die schüchternen
Hoffnungsschimmer auf Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen hängen noch von der
weiteren Entwicklung der Kontrolle über den Grenzübergang bei Rafah ab. Dieser
wurde nach 38 Jahren im Dezember 2005 wiedereröffnet und stellt den ersten
Teilabschnitt der Landesgrenze unter alleiniger Kontrolle der palästinensischen
Autorität dar. Da jedoch der Abschnitt von einer Beobachter-Task-Force der EU
und israelischen Funktionären überwacht wird, gibt es noch keine Klarheit
darüber, wie sehr die Funktionalität des Grenzübergangs davon und von möglichen
Einschränkungen beeinträchtigt sein wird.

Zum derzeitigen Zeitpunkt etwa sind die
palästinensischen Ausfuhren nach Israel fast vollständig blockiert und die
Grenze wird nur sporadisch geöffnet. Tonnen von landwirtschaftlichen Produkten
der palästinensischen Ländereien müssen tagelang warten, bevor sie den
Grenzübergang passieren können.

Nur jene Personen, die offiziell in Gaza leben und
im Besitz eines Identitätsausweises sind, verfügen potentiell über die volle
Mobilität in Hinblick auf Ein- und Ausreise aus Rafah. Die Palästinenser, die
im Westjordanland, im Ausland oder ohne gültiges Dokument im Gazastreifen (etwa
verheiratet mit Personen aus dem Gazastreifen oder mit Touristenvisa) leben,
können nur über den Grenzübergang Kerem Shalom ein- und ausreisen, der von
Israel kontrolliert wird. Das palästinensische Einwohnerregister wird von
Israel geführt und die Palästinensische Autonomiebehörde hat keinerlei
Befugnisse in so zentralen Belangen des Lebens wie Geburten, Hochzeiten,
Todesfälle, Immigration. Sie kann auch keine Erlaubnisse für den Wechsel von
Wohnsitzen aus Gaza in das Westjordanland oder für die Einreise aus dem
Westjordanland in den Gazastreifen ausstellen, nicht einmal wenn es sich um
gesundheitliche oder familiäre Motive handelt. Das Community Mental Health
Programme von Gaza berichtet, dass Hunderte von palästinensischen Bürgern, die
auf ihre Behandlung warten, wochenlang auf der ägyptischen Seite des Rafah-Grenzübergangs
festsitzen.

Es muss überdies daran erinnert werden, dass Israel
neben allen Landesgrenzen, den Grenzübergang Rafah ausgenommen, auch den Zugang
zum Meer, den Luftraum, die Wasservorkommen sowie die Stromversorgung
kontrolliert und diese in jedwedem Moment absperren kann. Was den Zugang zum
Meer betrifft, so hat die Fischerei, die für viele palästinensische Familien
die Lebensgrundlage darstellt, seit Beginn der zweiten Intifada große Einbußen
erlitten. Die Rechtfertigung von israelischer Seite dafür war, dass es
notwendig sei, dem Waffenschmuggel via Meer Einhalt zu gebieten. Vor der
Intifada konnte sich ein Fischerboot bis zu zwanzig Meilen von der Küste
entfernen, heute wurde die erlaubte Entfernung auf drei Meilen reduziert. Diese
Einschränkungen bedeuten für viele Familien, dass sie ihrer wichtigsten
Einnahmequelle verlustig gehen. Heute sind sie auf Hilfszahlungen des United
Nations World Food Programme angewiesen.

Auch für die SchülerInnen und StudentInnen, die
Schulen oder Universitäten im Westjordanland besuchen, gab es durch die Öffnung
des Grenzübergangs keine Veränderung in der Bewegungsfreiheit: Ihnen ist es
nach wie vor verboten, ihre Familien im Gazastreifen zu besuchen.

Die Regierung Sharon hat Ende Dezember des
vergangenen Jahres die „Operation Blue Skys“ beschlossen, die auf die Schaffung
einer Bufferzone im Norden des Gazastreifens ausgerichtet ist, zu der den
Palästinensern der Zugang verweigert werden soll. In dieser Zone gilt
Schießbefehl auf alle jene, die das Zutrittsverbot überschreiten.2 Es handelt sich um einen Streifen Landes, der
sechs Kilometer lang und in der Nähe des Flüchtlingslagers Jabaliya gelegen ist
und in dem sich vor dem Abzug die israelischen Siedlungen Dugit, Ele Sinai und
Nissanit rund um die Städte Beit Hanoun und Beit Lahya befanden. Ziel ist es,
den Abschuss von Qassam-Raketen zu verhindern. Zu diesem Zweck wird eine Form
der Kollektivstrafe eingesetzt.

Wenige Wochen nach dem Abzug ist Gaza nach wie vor
nicht frei. Es ist vielmehr weiterhin vom Gutdünken der israelischen Armee
abhängig. Wie in vielen Medien berichtet wurde, ist der Gazastreifen praktisch
zu einem riesigen Gefängnis für 1,4 Millionen Palästinenser geworden, von denen
die Hälfte Flüchtlinge sind. Israel hat der palästinensischen Autonomiebehörde
noch nicht die Schaffung einer Busverbindung zwischen dem Gazastreifen und dem
Westjordanland ermöglicht, auch wenn dies Teil des im November 2005 im Rahmen
der Eröffnung des Rafah-Grenzübergangs unterzeichneten Abkommens darstellt.
Ohne diese notwendige Busverbindung und ohne die endgültige Aufhebung der
politischen, sozialen und wirtschaftlichen Isolation gegenüber dem Rest der
Welt wird es nicht möglich sein, der erdrosselten Wirtschaft Luft zu geben und
der palästinensischen Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu
ermöglichen. Dies ist zwar das erklärte Ziel vieler Entwicklungsprogramme, die
von der EU und den USA unterstützt werden; die tatsächlich wesentlichen Punkte
sind jedoch andere: die Besatzung des Westjordanlandes, der Siedlungsbau, der
das Territorium immer stärker zerstückelt, die Mauer und die Flüchtlingsfrage –
das alles sind die Probleme, die nach wie vor nicht angesprochen werden und die
auf politischer Ebene auch von der so genannten internationalen Gemeinschaft ignoriert
werden. Doch gerade von der Lösung dieser Fragen hängt auch die politische,
gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft des Gazastreifens ab.

Beatrice Dacli

12. Januar 2006

Beatrice Dacli lebt in Triest und ist in
der internationalen Solidaritätsbewegung für Palästina aktiv.

1 UNDP/PAPP, Eye on Gaza, Bd. 3, 2005 –
www.papp.undp.org/focus/gazaeng.pdf

2 www.btselem.org, 29. Dezember 2005: Creation
of „Death Zone“ in northern Gaza strip is illegal.

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