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Es reicht – die ägyptische Oppositionsbewegung Kifaya

28. Februar 2006

Interview mit Abdelhalim Qandil

Abdelhalim Qandil ist Sprecher der demokratischen ägyptischen
Oppositionsbewegung Kifaya und Mitglied der ägyptischen panarabischen Nasseristischen
Partei, sowie Chefredakteur ihrer Wochenzeitung Al-Arabi. Er ist Mitgründer der
Bewegung Kifaya und einer ihrer Hauptsprecher. Aufgrund eines seiner Artikel,
in dem er über politische Intrigen von Suzan Mubarak, der Ehegattin des
Präsidenten, schreibt, wurde er letztes Jahr von Regierungsanhängern entführt
und misshandelt. Die Entführer schlugen ihn bewusstlos und ließen ihn nackt am
Rand einer Wüstenstraße liegen. Dieser Einschüchterungsversuch schlug fehl. Er
machte Qandil und die Bewegung Kifaya im gesamten arabischen Raum bekannt. Die
Solidaritätswelle, die danach entstanden ist, hat sehr zur Etablierung und
Verbreitung von Kifaya beigetragen. Qandil nahm an der Solidaritätskonferenz
mit dem irakischen Widerstand teil, die am 2. Oktober 2005 in Rom stattgefunden
hat. Organisiert vom Österreichisch-Arabischen Kulturzentrum besuchte Qandil
auf seinem Rückweg nach Kairo Wien, wo eine weitere Pressekonferenz und ein
Vortrag über die jetzige Situation in Ägypten und im arabischen Raum
stattfanden. Wir interviewten Qandil am 6. Oktober 2005 im
Österreichisch-Arabischen Kulturzentrum.

Sie sind ein tragendes Mitglied der
Nasseristischen Partei. Der Name der Partei bezieht sich auf die
sozialistische, panarabische Linie Nassers. Was ist vom Nasserismus heute
geblieben? Was für einen Sinn macht der Panarabismus heute noch?

Die arabische Region befindet sich heute in einem
offenen Krieg bzw. in einem Wettbewerb um Schicksale und Interessen. Der Kampf
umfasst die gesamte Region. Es ist eine Art griechisches Drama, wo die
Darsteller von den Rollen bestimmt werden. Die Rolle Ägyptens in diesem
Wettbewerb ist einfach jene des Hauptdarstellers, sei es für das
imperialistische Projekt oder für die neue Befreiungsbewegung. Das ist kein
„Ägyptozentrismus“, sondern ein Gesetz der Geschichte und der Geografie. Der
irakische oder der palästinensische Widerstand konnten oder können das
amerikanische Projekt in der Region zum Stillstand bringen, doch die totale
Niederlage dieses Projekts ist unmöglich, solange ihm keine Alternative
entgegen gestellt wird. Jedes Gegenprojekt kann nur vom Kopf beginnen und der
Kopf ist Ägypten, ist Kairo, wo wir das Regime stürzen müssen. Es ist eine
Ironie der Geschichte, dass die Niederlage im Juni 1967 den arabischen Willen,
dessen Zentrum Nassers Ägypten war, nicht brechen konnte, sondern dass es der
Scheinsieg vom Oktober 1973 war, der uns den Teilsieg entriss und seit dem die
Politik in die Gegenrichtung ausschlagen lässt.

Hier ist es notwendig, genauer auf die die Rolle
von Nasser und der Bewegung der freien Offiziere einzugehen: Ägypten war seit
1882 unter britischer Besatzung. Seit damals gab es mehrere nationale
politische Führungen, deren Forderungen eine Verfassung und das Ende der
Besatzung waren. Man blickte nicht über die Grenzen Ägyptens hinaus. Diese
Führungen interessierten sich nicht im Geringsten für die sozialen Probleme in
Ägypten. Der Krieg von 1948 und die Gründung des Staates Israel waren ein
historischer Wendepunkt. Nasser und seine Kollegen haben als Offiziere an
diesem Krieg teilgenommen und erkannten die Zusammenhänge zwischen dem
zionistischen Feind, dem Kolonialismus und der herrschenden Klasse in Ägypten
selbst.

Die Revolution von 1952 war der Start der
panarabischen Welle in den 50er und 60er Jahren. Die panarabische Idee wurde
neu gestaltet, indem sie einen klaren fortschrittlichen sozialen Charakter
erhielt. Der Konflikt hatte neue Dimensionen angenommen. Im Jahr 1952 war der
gesamte arabische Raum noch unter britischer und französischer Besatzung
gewesen. Zehn Jahre später hatte der größte Teil des arabischen Raums die
vollständige oder wenigstens formale Unabhängigkeit errungen. In den nächsten
zehn Jahren sahen wir verschiedene Entwicklungen: das Scheitern der
ägyptisch-syrischen Einheit unter dem Druck der reaktionären Kräfte, der Krieg
im Jemen, in dem sich Ägypten auf die Seite der Revolution stellte, die großen
sozialen Umwandlungen usw. Ägypten erlebte in dieser Epoche ein riesiges
Wirtschaftswachstum, das laut den Berichten der Weltbank der größte in der Dritten
Welt war. Zwischen 1956 und 1966 betrug das kontinuierliche Wachstum im
Durchschnitt 7,6%. Auch die militärische Niederlage von 1967 und der Verlust
des Suez-Kanals brachte das Wachstum nicht zum Stillstand. Es betrug 1967-1968
4% und 1969-1973 5,19%, und dies trotz des Krieges und hoher Militärausgaben.
Als die von Nasser aufgebaute Armee 1973 den Suez-Kanal stürmte, stand Ägypten
in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, das technische Niveau und die
Bildungsrate auf dem selben Entwicklungsniveau wie Südkorea. Heute hingegen
steht Ägypten laut den internationalen Entwicklungsberichten auf Platz 122 und
Südkorea an zehnter Stelle.

Das zeigt das Ausmaß der Tragödie, die nach 1973 in
Ägypten stattgefunden hat. Das war nicht einfach ein Kurswechsel oder ein
Wechsel von politischen Richtungen, Standpunkten oder Plänen. Es war eine
systematische Vernichtung. In den Jahren zwischen 1973 und 1977 gab es in
Ägypten einen Richtungsstreit. Die Legitimität der Revolution von 1952 richtete
sich gegen jene vom Oktober 1973, als Anwar Sadat den Sieg benutzte, um das
gesamte Revolutionsregime zu eliminieren. Der Konflikt endete mit der
Unterdrückung des Aufstands vom Januar 1977. Damals erhob sich das ägyptische
Volk zum letzten Mal. Danach stabilisierte Sadat sein Regime durch das Ausland.
Camp David kam zustande. Nach diesem Abkommen gab das ägyptische Regime nicht
nur seine Führungsrolle im arabischen Raum, sondern auch die Führung des
eigenen Landes auf. Die politischen Entscheidungen wurden nicht mehr in Kairo
getroffen, sondern in Washington, genau wie sie vor 1952 in London getroffen
wurden. Ägypten wurde zu einer amerikanischen Kolonie und das gesamte arabische
Befreiungsprojekt erlitt eine Niederlage. Ägyptens Position wandelte sich von
einer Führungsrolle in die eines Vermittlers, eines Maklers. Ägypten übte Druck
auf die Palästinenser aus, am Friedensprozess teilzunehmen und sich zu fügen.
Mubaraks Regime gab 1991 auch die arabische Deckung für die US-Aggression gegen
den Irak, was zum heutigen Ergebnis geführt hat. Durch das ägyptische Regime
konnten die USA die gesamte Region erobern. Bagdad wäre nicht gefallen, wenn
nicht Ägypten 25 Jahre früher politisch eliminiert worden wäre.

Das Regime behauptet aber, wirtschaftliche
Gewinne aus den politischen Manövern erzielt zu haben. Wie sieht die ägyptische
Wirtschaft aus?

Wenn man die Zuwachsraten unter Mubarak beobachtet,
so sieht man, dass diese stark zurückgegangen sind. Im Jahr 1993 zeigt sich
sogar ein negativer Wert. In den letzten Jahren bewegen sich die Zahlen um 2%.
Das ist ein totales wirtschaftliches Scheitern. Dies inkludiert auch einen
massiven Abbau der industriellen Basis und der Kapitalakkumulation. Der
staatliche industrielle Sektor wurde nicht privatisiert, sondern einfach
zerteilt. Es gibt viele Bespiele, wie etwa die Stahlindustrie oder die
Schiffswerften in Alexandria. Die Basis für jede Entwicklung, sei sie
kapitalistisch oder sozialistisch, wurde einfach hinweggefegt. Obwohl Ägypten
in den letzten Jahren des Präsidenten Sadat und in den Jahren von Mubaraks
Regime insgesamt 200 Milliarden Dollar vom Ausland erhielt (davon 50 Milliarden
amerikanische Wirtschaftshilfe und 70 Milliarden von den Überweisungen
ägyptischer Arbeitskräfte im Ausland), sind die Wachstumsraten zurückgegangen,
die Schulden gestiegen und die Produktionsbasis größtenteils zerstört. Ende
1973 waren alle Schulden Ägyptens Militärschulden und sie überstiegen nie zwei
Milliarden Dollar. Heute beträgt die ägyptische Staatsschuld 110 Milliarden
Dollar. Diese Schulden werden aufgrund der fehlenden Produktionsbasis auch für
die Zukunft ein großes Problem sein.

Nach der Demontage der nationalen Unabhängigkeit
und dem Scheitern der Wirtschaft erleben wir heute eine Krise. Die
Einkommensverteilung ist heute ähnlich wie in der Zeit vor 1952. Nach einer
parlamentarischen Studie besitzen heute 2% der Ägypter 40% des
Nationaleinkommens. Wir haben mehr Millionäre als Großbritannien, während zwei
Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Von 28 Millionen
Arbeitskräften sind zehn Millionen arbeitslos. Neun Millionen Jugendliche im
Heiratsalter können wegen ihrer Armut nicht heiraten. Es wird ständig von
Reformen geredet, während die Wirtschaft weiter den Bach hinunter geht. Das
Wort „Reform“ selbst macht den Menschen in Ägypten heute Angst, weil man
darunter nur eine Verschlechterung der Lage versteht.

Und politisch? Hier wird Ägypten als Vorreiter
der Demokratie im arabischen Nahen Osten dargestellt.

Die Zeit Mubaraks wird von seinem Regime als das
blühende Zeitalter der Demokratie dargestellt. Aber in Summe sieht es wie folgt
aus: Im Namen der so genannten Terrorbekämpfung oder im Kampf gegen die
islamischen Gruppen wurden alle Parteien, Gewerkschaften, politische
Organisationen und Institutionen marginalisiert. Der Ausnahmezustand dauert nun
bereits 24 Jahre. Das Parlament, das von der Exekutive kontrolliert wird, hat
diesen jährlich um ein weiteres Jahr verlängert. Dann sind sie pragmatischer
geworden und verlängerten ihn alle drei Jahre auf weitere drei. Die letzte
Verlängerung gilt bis 2007. Es wird vermutet, dass der Ausnahmezustand danach
durch das „Antiterrorgesetz“ ersetzt wird. Dieses Gesetz ist eine
Wiederherstellung des Ausnahmezustands in einer zeitgemäßeren Form.

Seit Mitte der 90er Jahre wurden die Gewerkschaften
aus Angst vor islamischer Kontrolle „verstaatlicht“. Die wichtigsten
Gewerkschaften sind unter staatlicher Kontrolle. Bei anderen wurden die Wahlen
sabotiert bzw. auf unbestimmte Zeit verschoben. Nur zwei Gewerkschaften konnten
die Blockade durchbrechen: die Journalistengewerkschaft und die Gewerkschaft
der Anwälte, die seit vier Jahren der staatlichen Handhabe entkommen ist.

500000 Haftbefehle wurden unter Mubaraks Herrschaft
ausgestellt. Heute gibt es in Ägypten 25000 politische Gefangene. Diese Zahlen
stammen aus dem Bericht des Nationalen Menschenrechtskomitees, das quasi eine
staatliche Institution ist. Die Zahlen sind vergleichbar mit jenen im Irak
unter amerikanischer Besatzung oder in Palästina unter israelischer Besatzung.

Die politischen Differenzen mit dem Regime werden
mit äußerster Brutalität behandelt. Es fing mit den islamischen Gruppen an,
dann ging es gegen politische Aktivisten und Journalisten. Ich selbst wurde zu
einem Opfer davon, aber ein anderer Journalist von al-Ahram namens Rida Hilal
ist einfach verschwunden! In der ganzen ägyptischen Geschichte ist keiner so
einfach verschwunden. Der Fall von Hilal ist ein bekannter Fall, aber es gibt
auch Hunderte, die wegen Verdacht auf Mitgliedschaft in islamischen Gruppen
verhaftet wurden und einfach verschwunden sind. So etwas kannten wir in keiner
anderen Epoche vor diesem „blühenden Zeitalter der Demokratie“!

Der fünfte Punkt ist das Ergebnis der bereits
genannten: Die allgemeine, noch nie dagewesene Ausplünderung des Landes. Laut
offiziellen Zahlen – und ich meine hier den jährlichen Wirtschaftsbericht der
staatlichen Zeitung al-Ahram und den Bericht der Wirtschaftskommission des
Parlaments – wurden 300 Milliarden Dollar unterschlagen. Das ist eine
astronomische Zahl! Dies nur in drei Bereichen: beim Ausverkauf der
Staatsbetriebe, beim Kapitalschmuggel ins Ausland und bei faulen Bankkrediten.
Das bedeutet, dass der ägyptische Staat, der schon immer für seinen
Bürokratismus kritisiert worden ist, heute in eine Mafia übergangen ist.

Die Anhänger des Regimes behaupten immer, dass die
ägyptische Wirtschaft in den 60er Jahren unter Nasser unter den Militärausgaben
im Krieg gegen Israel litt. Wir sehen jedoch, dass Ägypten seit 1973 keinen
Krieg mehr geführt hat und dass seit damals die Entwicklungsraten trotzdem tief
gesunken sind. Heute sehen wir einen Übergang des Regimes vom Einparteiensystem
zu einem Einfamiliensystem.

Warum haben die Ägypter diese Missstände so
lange geduldet?

Die Ägypter haben nicht einfach geschwiegen. Alle
meinungsbildenden Institutionen wurden staatlich „rationalisiert“. Die offene
Politik starb und es entstand eine Art „innere Politik“, eine unterdrückte Wut.
Die Zerschlagung der linken und panarabischen Kräfte erzeugte ein Vakuum, das
von der islamischen Bewegung gefüllt wurde. Die islamische Bewegung ist eine
Art urwüchsiger Protest mit primitiven Aktionsformen. Sie bildete eine
organische Partei, eine Subgesellschaft oder einen Staat im Staat, um den
gescheiterten Staat in Bezug auf die sozialen Bedürfnisse zu ersetzen. Sie hat auch
mit dem bewaffneten Widerstand experimentiert, der die ganzen 90er Jahre
andauerte und 1997 mit dem Anschlag in Luxor endete. Dieser hatte aber
verheerende Folgen auf die Perspektive einer politischen Entwicklung. Danach
wurde die sichtbare Opposition auf die Muslimbrüder reduziert, und wie unter
der Regierung von Sadat wurde die Linke erst von den Universitäten und dann von
der Straße verdrängt. Gemeinsam mit dem Staat hatten sie die totale
Dämonisierung des sozialistischen Projekts der Revolution von 1952 betrieben.

Außerdem haben wir in Ägypten die
„Parteienkommission“, die ausschließlich von der Staatspartei kontrolliert
wird. Diese Kommission ist weltweit ohnegleichen. Wer eine Partei gründen
möchte, soll um die Erlaubnis der Regierungspartei ansuchen. Also man geht zum
Staat und bittet höflich, ob man eine Oppositionspartei gründen darf! Natürlich
akzeptiert die Regierung keine ernsthafte Opposition. So entstanden 17
künstliche Oppositionsparteien, die mit Politik nichts zu tun haben. Diese sind
wie Vogelscheuchen und dienen dazu, dass die Regierung mit dem Vorhandensein
von 21 Oppositionsparteien prahlen kann. Parteien mit fundierter politischer
Grundlage – wie die liberale Wafd, die sozialdemokratische Tajammu und die
Nasseristische Partei – haben zwar einen politischen Hintergrund, aber nicht
das Recht, politisch zu agieren. Was hat das für eine Bedeutung, wenn man eine
Partei zulässt und diese in ein Kämmerchen einsperrt. Alle Versammlungen
außerhalb des Parteilokals sind verboten. Alle Aktivitäten an der Universität,
auf der Straße, alle Demonstrationen und Kundgebungen usw. sind verboten.
Politik ist verboten! Die legalen Parteien sind zu so etwas wie Fußballvereinen
geworden.

Mit der steigenden Wirtschaftskrise waren die
Ägypter mit dem physischen Überleben beschäftigt. Wer arbeitslos ist, sucht
Arbeit und wer Arbeit hat, sucht sich einen zweiten Job, um mit der Inflation
mithalten zu können. Vor Jahren sind Millionen Ägypter in den Irak und in
andere Länder emigriert, was die Lage ein bisschen entspannen konnte. Heute ist
das auch nicht mehr möglich. Dies geschah nicht isoliert von den Entwicklungen
in der Region. Im Ausland kamen die Ägypter in Kontakt mit anderen arabischen
Gesellschaften und wurden von ihnen beeinflusst. Die Krise hat zu einem unerträglichen
Zustand geführt.

Kommen wir nun zur Bewegung Kifaya. Die
demokratische Opposition ist endlich zur Tat geschritten. Wie ist das zustande
gekommen?

Zur sozialen Katastrophe kam auch die nationale
Schande, die ihren höchsten Punkt mit der Besatzung des Iraks erreicht hat. Der
Moment kam am 22. März 2003, als der Irak angegriffen wurde. Duzende politische
Aktivisten hatten vereinbart, bei Kriegsbeginn spontan eine Kundgebung am
Tahrir-Platz zu veranstalten. Sie wollten dies tun, damit in der Geschichte
nicht geschrieben steht, dass in Ägypten keiner protestiert hätte. Dort wurden
wir, aber auch der Staat, von Zehntausenden Demonstranten überrascht, die sich
spontan versammelten. Bei dieser Massenkundgebung wurden auch soziale
Forderungen laut. Die Repression war verheerend. Sogar einige
Parlamentsabgeordnete wurden von den Sicherheitskräften misshandelt. Die
Aktionen gingen weiter und die Unterdrückung ebenso. Im September 2004
gründeten dreihundert politische Aktivisten die Bewegung Kifaya. Zwischen März
und September begriffen die Aktivisten unterschiedlicher Generationen, dass um
aus der Sackgasse herauszukommen auch die ägyptische Frage – und nicht nur
Palästina und der Irak – zu behandeln sind. Den ersten Aufruf von Kifaya
unterschrieben ein paar Dutzend Menschen, dann stieg die Zahl auf dreihundert.
Dieser Aufruf wäre wertlos geblieben, wären wir nicht zur politischen Aktion
übergangen. Bis heute haben 20000 Personen den Aufruf von Kifaya
unterschrieben. Solche Aktionen, wie die des letzten Jahres, kannte Ägypten
seit 1977 nicht. Die Aktionen von Kifaya, von den Richtern und natürlich auch
von den Muslimbrüdern, haben zwei politische Rechte errungen, die nicht einfach
von der Regierung zugestanden wurden: zunächst das Demonstrationsrecht, das laut
Ausnahmezustand verboten wäre. Das Gesetz sieht die Versammlung von fünf
Personen auf der Straße als eine illegale Demonstration an. Wir haben für
unsere Kundgebungen um keine Erlaubnis gebeten. Das zweite Recht ist das Recht,
den Präsidenten zu kritisieren. Laut Gesetz ist dies eine Straftat. Das ist das
erste Mal in der ägyptischen Geschichte, dass der Herrscher zum Gegenstand von
Kritik wird.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen durften
angeblich mehrere Kandidaten antreten. Kifaya rief trotzdem zum Boykott auf und
betrachtete diese Wahlen als eine Farce. Was ist der Hintergrund dieser
Haltung?

Unsere Forderung ist eine radikale Reform des
ägyptischen Präsidialsystems. Was am 7. September 2005 stattfand, war keine
Wahl im demokratischen Sinne. Bei Wahlen gibt es ein selbstverständliches
Recht, nämlich das Recht auf Kandidatur. Dieses Recht war bei diesen Wahlen
nicht gegeben. Die Ägypter wurden in zwei Gruppen eingeteilt: dreihundert
Mitglieder der erwähnten legalen Parteien, die kandidieren durften, und die
übrigen 72 Millionen Ägypter, die es nicht durften. Um kandidieren zu können,
braucht man 250 Unterschriften von Parlamentsmitgliedern. Diese kann nur ein
Mann in Ägypten bekommen. Das waren für Mubarak maßgeschneiderte Wahlen. Die
Bevölkerung hat dies auch nicht begrüßt. Dies drückte sich in der niedrigen
Wahlbeteiligung aus, die laut offiziellen Zahlen bei 20% der registrierten
Wähler lag. Dazu kommt, dass viele Menschen in Ägypten an sich wahlberechtigt
wären, aber nicht in die Wählerlisten eingetragen sind. Um in diese Listen
eingetragen zu werden, muss man sich bei der Polizei melden. Abgesehen von den
Kosten geht man in Ägypten nicht oder jedenfalls nicht freiwillig zur Polizei.
Das macht weitere 16 Millionen, die nicht gewählt haben. So haben nur 12,5% der
Wahlberechtigten an diesen Wahlen teilgenommen. Das sind die offiziellen
Ergebnisse, die sowieso nach oben „aufgerundet“ sind. Beim Referendum über das
neue Wahlgesetz gaben die offiziellen Stellen eine Beteiligung von 53% bekannt.
Das heißt, dass auch in den offiziellen Angaben die Wahlbeteiligung um die
Hälfte gesunken ist. Außerdem meinte ein Wahlbeobachter über das Referendum,
dass nur 4% der Wahllokale unter der Kontrolle der Wahlbeobachter standen. Das

deutet auf eine unverschämte Fälschung des Referendums hin. Mubarak versucht
seine Diktatur mit einer Scheindemokratie zu verhüllen. Aber das größere
politische Verbrechen ist sein Versuch die Präsidentschaft an seinen Sohn
weiter zu vererben. Ägypten hat heute eine Art doppelter Präsidentschaft: eine
formale von Mubarak und eine reale, die sein Sohn ausübt. Andererseits gibt es
eine Bewegung für eine Veränderung, die nicht nur Aufrufe veröffentlicht hat,
sondern auch auf der Straße gegen diese Verbrechen demonstriert hat. Am 27.
September, als Mubarak für eine weitere Präsidentschaft vereidigt wurde,
demonstrierten 15000 Personen unter dem Slogan „Illegal“.

Der zweite Teil des Dramas hat mit dem Irak und der
amerikanisch-israelischen Position zu tun. Das Regime von Mubarak und seiner
Familie lehnt sich an die amerikanische Unterstützung an. Mubarak hat für die
Verlängerung seiner Präsidentschaft für weitere sechs Jahre einen politischen
Preis an die USA und Israel bezahlt: Die Amerikaner gaben ihm grünes Licht und
dafür hat er den israelischen Spion Azzam Azzam trotz gerichtlicher
Verurteilung freigelassen. Er unterschrieb das QUIZ-Abkommen, das die
ägyptische Wirtschaft u.a. für israelische Beteiligungen öffnet. Der ägyptische
Botschafter, der seit dem Beginn der palästinensischen Intifada aus Tel Aviv
zurückgezogen war, ist nach Israel zurückgekehrt und ein ägyptischer
Botschafter ist nach Bagdad geschickt worden. Ich spreche hier von Herrn Ihab
Sharif, der kurz nach seiner Ankunft in Bagdad umgebracht wurde. Dann kam das
katastrophale Erdgas-Abkommen mit Israel, nach dem Israel für 25 Jahre
ägyptisches Gas zu einem festgesetzten Preis erhält. Der Ton Mubaraks gegenüber
Sharon hat sich in den letzen Monaten deutlich gemildert. Die Bewegung Kifaya
sieht Ägypten als eine amerikanische Kolonie. Sie will Ägypten von der
amerikanischen Kolonialisierung und vom US-gesteuerten Regime befreien.

Der Aufruf von August 2004 war der Ausgangspunkt
von Kifaya. Hier wurde Ägypten wieder an seinen richtigen Platz im Zentrum der
arabischen Frage gestellt. Wir mussten Ägypten von einem Land der Aufrufe zum
Land der Demonstrationen machen. Kifaya ist weder eine Partei noch eine Front
einer oder mehrerer Parteien. Kifaya ist eine Plattform, eine Art Rahmen, in
dem sich alle mit dem Willen zur Veränderung in Ägypten zusammenfinden. Hätten
wir uns mit dem Aufruf begnügt, wäre dieser in einer Schublade verendet. Die
20000 Unterschriften verdanken wir der Aktion. Erst die Aktion gibt dem Wort
seinen Wert. So begann eine Reihe von Entwicklungen, die Ägypten seit 1977 nicht
kannte.

Es war diese Reihe von politischen Aktionen, die
uns die bereits erwähnten Rechte gebracht hat.

Wie sehen die Perspektiven für Ägypten aus?

Es gibt drei unterschiedliche Szenarien. Das erste
ist jenes, worauf das Regime abzielt -meiner Meinung nach das
unwahrscheinlichste von allen -, nämlich dass Mubarak seine nächste
Präsidentschaftsperiode nicht beendet und die Präsidentschaft mitten in dieser
Periode vererbt wird. Ich möchte an die Verfassungsänderung bezüglich
Kandidatur erinnern (…§76). Die alte Fassung besagt, dass ein Drittel der
Parlamentsabgeordneten einen Kandidaten vorschlagen müssen, der von zwei
Dritteln der Abgeordneten bestätigt werden muss; dann findet ein Referendum
über die vorgeschlagene Person statt. Die Änderungen des alten Paragraph waren
nicht sehr tief greifend: Obwohl scheinbar Gegenkandidaten möglich sind, sind
die Kriterien im neuen Paragraph so angelegt, dass nur ein Kandidat bei den
nächsten Wahlen diese erfüllen kann, nämlich Mubarak junior. Wir haben schon
bei diesen Wahlen gesehen, was für Gegenkandidaten auftreten konnten. Als ob es
im Lande keine islamischen oder nationalen Strömungen gäbe. Der Kandidat muss
einer legalen Partei angehören und 5% der Parlamentabgeordneten hinter sich
haben, das sind 22 im Volksrat und 22 im Parlament. Wenn man weiß, wie diese
gewählt werden, erkennt man die Unmöglichkeit solcher Kriterien. Hingegen sehen
wir eine Ablehnung der Thronfolge sogar seitens vieler Sektoren im
Staatsapparat selbst. Das Regime arbeitet zwar systematisch daran, doch ich
glaube nicht, dass es Erfolg haben wird. Es ist nicht nur die breite Ablehnung,
sondern auch die immer kleiner werdende Basis des Regimes, was man an der
geringen Wahlbeteiligung erkennen kann. Das Regime hat keine soziale oder
politische Verankerung in der Bevölkerung. Auch die Partei des Regimes ist auf
eine Familienangelegenheit reduziert. Das Regime hat sich selbst geschwächt
durch die weitgehende Privatisierung, den Abbau des staatlichen Sektors und
dadurch, dass es allen Befehlen des Internationalen Währungsfonds gehorcht. Die
einzige soziale Rolle, die das Regime noch hat, ist die Unterstützung der
Lebensmittelspreise. Diese nehmen aber jährlich zu und belasten die Staatskassa
schwer. Heute wollen sie diese Unterstützung in direkte Bargeld-Zuschüsse
umwandeln, was aber die Inflation verstärkt und zu höheren Preisen führt
(einige Waren würden das 40fache kosten). Dieser Schritt wird aber auch vom
Währungsfond und von den USA verlangt. Die Regierung versucht diesen Schritt
möglichst hinauszuzögern, wissend, dass er zu einer ernsthaften
gesellschaftlichen Krise führen wird.

Die einzige Kontakt zwischen dem Regime und der
Bevölkerung sind die Schlagstöcke der Sicherheitskräfte. Die Truppen der
„zentralen Sicherheit“ umfassen heute beinahe eine Million Soldaten. Mit ihren
schwarzen Anzügen sind sie ein Abschreckungsinstrument. Arme, ungebildete
Bauern werden benützt, um auf die Demonstranten zu schlagen.

Das Szenario der vererbten Präsidentschaft kann
nicht zu Ende geführt werden, nicht nur weil es zu offensichtlich ist, sondern
auch weil das Regime über keine politische und soziale Basis verfügt und nicht
mehr in der Lage ist, eine solche zu schaffen.

Das zweite Szenario ist eine friedliche Beendigung
von Mubaraks Regime. Dieses ist durch die Entwicklung der ägyptischen
Oppositionsbewegung möglich geworden. Die neue Oppositionswelle richtet sich
sowohl gegen die Knechtschaft durch die USA als auch gegen den Verfall
Ägyptens. Die Oppositionswelle beruht nicht nur auf der Diktatur Mubaraks,
sondern auf der allgemeinen Degradierung, die von der Diktatur hervorgerufen
wurde. Wir tragen keine Waffen und wollen einen friedlichen Ausgang. Wir sind
sowohl gegen die Terrorgruppen, die Hunderte Ägypter ermordeten, als auch gegen
die Terrorherrschaft Mubaraks, welche die menschliche Würde von Millionen
Ägypter tötet. Das Land durchlebt heute eine totale Krise, die über den Rahmen
der Politik, der Wirtschaft und der Geschichte geht. Wir wollen diese
Herrschaft beenden, damit Ägypten aus diesem Alptraum aufwacht. Wir werden das
Geplünderte nicht zurückgewinnen können, aber wir wollen der Plünderung ein
Ende setzen. Es ist das Szenario der politischen Wut. Ich hoffe, wir werden in
den nächsten Monaten fähig sein, eine Demonstration von 10000 Menschen zu
organisieren. Außerdem arbeiten wir daran, die Schritte mit den anderen
Gruppierungen zu koordinieren. Kifaya ist selbst keine Partei, sondern umfasst
Personen aus verschiedenen Parteien, darunter Nasseristen und andere
Panarabisten, islamische Aktivisten der Arbeitspartei und der Zentrumspartei,
sowie linke Parteien und Gruppen wie Tajammu, die Revolutionären Sozialisten
und die Sozialistische Volkspartei. Wenn wir es schaffen, mit einem gemeinsamen
Programm aufzutreten und gemeinsam mit den Muslimbrüdern einen Weg in Richtung
friedliche Beendigung des Regimes zu gehen, wird dieses Szenario immer
wahrscheinlicher.

Das dritte Szenario ist der Volksaufstand, was
durch das erste Szenario (die Machtvererbung) oder durch die Repression des
Regimes gegen das zweite Szenario (die friedliche Opposition) hervorgerufen
werden kann. Die ägyptische Gesellschaft hat die Eigenschaft, sehr lange
geduldig zu sein, aber dann plötzlich wie ein Sturm auszubrechen. Was kommen
wird, wird dem Wesen nach nicht nur eine Mischung der Aufstände von 1919, 1952
und 1977 sein, sondern einen hohen Blutzoll kosten. Das ist genau, was wir
vermeiden wollen. Das Problem mit diesem Szenario ist sein unvorhersehbarer
Ausgang.

Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass in
unserer Region eine offene Konfrontation stattfindet. Der bewaffnete Widerstand
im Irak ist die Kehrseite des politischen Widerstands in Kairo.

Nasser war als junger Offizier im palästinensischen
Dorf Falluja eingeschlossen, als er die Verhältnisse erkannte und mit seinen
Kameraden die Revolution der Freien Offiziere begann. Heute kommt die Lektion
aus dem irakischen Falluja, aber wir können und wollen nicht eine neuerliche
Revolution Freier Offiziere haben. Wir wollen diesmal einen Aufstieg, der
andauert. Eine Revolution freier Menschen muss die Veränderung – damit dieser
Aufstieg, diese Renaissance Bestand hat – nicht nur für das Volk, sondern auch
durch das Volk herbeiführen.

Das Interview führte

Mohamed Aburous.

Mohamed Aburous ist Vorsitzender des
Arabischen Palästina-Clubs in Wien und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Intifada.

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