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“Wir müssen über den reinen Protest-Antikapitalismus hinausgehen”

11. März 2006

Interview mit Alberto Hijar Serrano, Taller de Construccià³n
del Socialismo, Mexiko

Hintergrund des folgenden Interviews bildet einerseits die
Sechste Deklaration des zapatistischen EZLN sowie dessen Andere Kampagne, in
der einige traditionelle zapatistische Positionen revidiert und der Aufbau
einer nationalen, einheitlichen Volksbewegung an die mexikanische Linke
herangetragen wird. Andererseits ist die politische mexikanische Situation von den
bevor stehenden Präsidentschaftswahlen gekennzeichnet, bei denen sich ein
Regierungswechsel von der rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion hin
zu sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution abzeichnet. Die
Bruchlinien sprachen mit dem mexikanischen Professor für Kunstgeschichte sowie
langjährigen politischen Aktivisten Alberto Hijar über die aktuelle Situation
der Volksbewegung in Mexiko, die Krise und die Chancen der Linken in Mexiko und
Lateinamerika sowie die Bedeutung der Präsidentschaftswahlen.

Bruchlinien: Was hältst du von der Sechsten Deklaration
aus der Selva Lacandona? Wie siehst du die Öffnung des Zapatismus gegenüber der
Linken, die Aufgabe der ausschließlichen Orientierung auf die indigene
Bevölkerung, den Positionswechsel in der Wahlfrage, dass eben die Zapatisten
bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen dazu aufrufen, keinem der
antretenden Kandidaten die Stimme zu geben, auch nicht dem der Partei der
Demokratischen Revolution (PRD). Wie sind diese Entwicklungen zu verstehen?

Alberto Hijar: Im Allgemeinen stehe ich der Sechsten
Deklaration positiv gegenüber. Was jedoch in den neuen Konzepten der EZLN
fehlt, ist der Vorschlag einer Organisierung, die von der Linken und von der
Basis ausgeht. Ein weiterer Kritikpunkt unsererseits ist, dass jetzt von Seiten
der EZLN alle politischen Parteien, die offiziell registriert sind und auf die
eine oder andere Weise finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten,
abqualifiziert werden. Wir haben als Taller de Construccià³n del Socialismo
(TCS) vorgeschlagen, dass dahingehend eine Selbstkritik notwendig ist, die
nicht bei der Kritik an der angeblichen Linken, allen voran der PRD, stehen
bleibt. Diese Selbstkritik würde auch eine Bilanzierung der Entwicklung der
EZLN beinhalten, vor allem des ersten Jahres ihres Bestehens, als die
Volkskoordination der Arbeiter, Bauern und Indigenas aufgelöst wurde, die wir
gegründet hatten um die Erste Nationale und Demokratische Konvention in
Chiapas, die von der Ersten Deklaration der Zapatisten aus der Selva Lacandona
einberufen worden war, zu begleiten.

Damals hat die EZLN mit der PRD kokettiert und auf den
Wahlsieg des damaligen Kandidaten Cuatemoc Cárdenas gehofft. Das bedeutete
praktisch, der PRD die Vertretung nach Außen zu übertragen, während
gleichzeitig uns, die wir uns gegen diese elektoralistische Beschränkung
ausgesprochen hatten, die Legitimität entzogen wurde. Nach der Niederlage der
PRD ging das EZLN sogar so weit, mit der Partei der Nationalen Aktion (PAN),
einer rechten Partei, zu kokettieren. Marcos erklärte damals, dass es in dieser
Partei ehrenhafte Leute gebe, an die man sich wenden müsse. Insgesamt wurde
diese uns notwendig erscheinende Selbstkritik nie explizit ausgeführt, sondern
im Grunde auf die Kritik an Lopes Obrador, dem heutigen Spitzenkandidaten der
PRD, reduziert. Ihm wird vorgeworfen, ein Demagoge zu sein, der eigentlich von
der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) kommt, die mehr als
siebzig Jahre lang in Mexiko regiert hat. Die Kritik an den anderen Parteien
ist auch schon viel weniger stark.

Wir sehen dennoch in der neuen Position des EZLN eine Form
der Selbstkritik. Die Abgrenzung von den Wahlprozessen sehen wir positiv, denn
damit soll versucht werden eine linke Bewegung aufzubauen, was für uns vom TCS
den Aufbau des historischen Blockes bedeutet. Wie Gramsci sagte, im politischen
Kampf, im Stellungs- und im Bewegungskrieg ist es notwendig, die die Hegemonie
des Volkes, auf Grundlage der Rechte der Arbeiter, aufzubauen. Auf dieser Basis
kann der historische Block der linken sozialistischen Opposition geschaffen
werden.

Ich denke, dass die Sechste Erklärung aus der Selva
Lacandona und die Andere Kampagne (1) diese Möglichkeiten eröffnen, wobei die
Andere Kampagne den Schwachpunkt hat, dass sie über kein wirkliches Projekt
oder definiertes politisches Programm verfügt. Sie kann als eine Art
Ablenkungsmanöver in der dringend notwendigen Konsolidierung des angesprochenen
linken Blockes betrachtet werden, der ab sofort Bündnisse innerhalb der Linken
und der Volksbewegung aufbauen müsste.

Bruchlinien:Du denkst also nicht, so wie es ein Großteil
der mexikanischen Linken tut, dass die Sechste Deklaration und die Andere
Kampagne der Linken und der mexikanischen Volksbewegung zu einem neuen
Aufschwung verhelfen könnten?

Alberto Hijar: Ich habe nur wenig Hoffnung, dass es so sein
könnte, denn es ist wahr, dass keine der linken Organisationen große
Anziehungskraft auf die Massen ausübt. Dazu kommt eine sehr große Isolation,
die sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass eine einzige Gewerkschaft zur
Teilnahme an der Anderen Kampagne eingeladen wurde, nämlich die Mexikanische
Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter. Das ist fürchterlich. Außerdem ist eine
der Hauptlosungen dieser Gewerkschaft die Verteidigung der nationalen
Souveränität im Sinne der Verteidigung der staatlichen Kontrolle über die
Energiereserven und das Wasser. Das halte ich zwar nicht für falsch, aber
dennoch für eine sehr banale politische Position, die nicht begreift, dass die
Souveränität des Staates zu garantieren, bedeuten würde, diesem korrupten
Staat, der diese Souveränität längst an die großen transnationalen Multis
ausgeliefert hat, einen großen Gefallen zu tun. Die Verteidigung der nationalen
Souveränität müsste als Verteidigung der Souveränität der arbeitenden Menschen
verstanden werden und der gewerkschaftliche Kampf müsste in diesem Sinne
weiterentwickelt werden. Wir sehen also, dass die einzige Gewerkschaft, die zur
Teilnahme eingeladen ist, keine große politische Klarheit hat.

Die Versuche der Vereinigung und Koordination, die es in der
mexikanischen Volksbewegung gibt, vor allem die Nationale Bewegung gegen den
Neoliberalismus, wurde von Marcos in sehr vehementer und vor allem
unberechtigter Art und Weise delegitimiert: Er hat die Positionen der
Koordination als Dummheiten abqualifiziert, während es hingegen durchaus
sinnvolle Aussagen waren, die einmahnten, dass die nationale Dimension, auf die
sich am Anfang auch das EZLN bezogen hat, zurückgewonnen werden müsste. Später
hat sich das EZLN dann immer mehr auf eine Bewegung der indigenen Bevölkerung
reduziert. Diese Abqualifizierungen tragen nur dazu bei, dass die
Massenwirksamkeit weiter abnimmt, obwohl es auf der anderen Seite stimmt, dass
das EZLN trotz allem nach wie vor großen Einfluss auf die Massen ausübt.

Die sechs Versammlungen, die in der Selva Lacandona für die
eingeladenen Organisationen abgehalten wurden, waren wirklich beeindruckend.
Alle fanden sie an sehr schwer zugänglichen und entlegenen Orten statt. Die
Organisationen haben sich bemüht dorthin zu gelangen. Einige mussten die
gesamte Republik durchqueren und sie taten es, um an den angegebenen Ort zu
kommen. Möglicherweise gibt es auf der ganzen Welt keine Organisation, die eine
derartige Anziehungskraft hat, die es schafft im Durchschnitt zweihundert
Organisationen dazu zu bringen, sich zu sechs Versammlungen an einen entlegenen
Ort zu begeben.

Das ist die Hoffnung, die ich habe. Doch die Voraussetzung
ist, dass wir nicht vom Zivilismus überrollt werden und sich alles in ein
riesiges Fest verwandelt, mit Gesängen und Tänzen und dem Schreien von Parolen
und sonst nichts. Notwendig ist es jetzt vielmehr, darüber hinaus Vorschläge zu
entwickeln, die über den reinen Protest-Antikapitalismus hinausgehen.

Bruchlinien: Kannst du erläutern, was mit der
mexikanischen Linken seit den 90er Jahren passiert ist? Damals gab es einen
starken Aufschwung der Volksbewegung, auch der politisch-militärischen
Bewegung. Wir haben gesehen, dass diese Bewegung den mexikanischen Staat in
eine Situation der Instabilitiät gebracht hatte. Heute scheint es im Gegenteil,
dass sich der mexikanische Staat bester Stabilität erfreut, während die mexikanische
Volksbewegung eine schwere Krise durchlebt, ja praktisch einen
Auflösungsprozess. Stimmt diese Sicht der Dinge und was sind die Gründe für
diese Krise?

Alberto Hijar: Die Einschätzung ist im Großen und Ganzen
korrekt. Wir müssen immer wieder auf die Niederlage des bewaffneten Kampfes in
Mexiko hinweisen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das EZLN die einzige
politisch-militärische Organisation ist, die dem mexikanischen Staat den Krieg
erklärt hat. Das ist die Grundlage für seinen Masseneinfluss und für seinen
Einfluss auf der ganzen Welt. Doch der mexikanische Staat hat die Kraft und die
Schlauheit besessen, das EZLN mit paramilitärischen Gruppen, mit Hilfsplänen
für die Region, mit einer Politik, die die Gemeinden untereinander entzweit und
somit isoliert hat, zu zermürben. Das war möglich, weil die Volksbewegung nicht
die Fähigkeit besessen hat, über die reinen Protestmobilisierungen
hinauszugehen.

Ich denke, dass die Andere Kampagne, die im Januar beginnen
wird, keine so großen und spektakulären Mobilisierungen zu Stande bringen wird,
wie sie zu Beginn der zapatistischen Bewegung das Zentrum von Mexiko-Stadt
gefüllt haben. Es wäre schön, wenn ich mich irren würde, doch es scheint, dass
das Fehlen von Vorschlägen, der Mangel an programmatischer Klarheit die Reise
des Delegado Zero, wie sich Marcos jetzt nennt, durch Mexiko beeinträchtigen
wird. So wird wiederum klar werden, wie wenige politische Kader das EZLN hat.

Demgegenüber gibt es keine markanten politischen Positionen
der Arbeiterbewegung, die im Gegenteil in ihren Kämpfen fragmentiert und von
einander isoliert ist, etwa in der Verteidigung der Pensionen, des
Sozialversicherungssystems oder der Bildung als öffentliches Gut. Diese Kämpfe
finden statt, aber ohne, dass es ein gemeinsames politisches Projekt geben
würde, das sie eint. Es handelt sich im Grunde einfach um den Kampf gegen die
Globalisierung.

Hier kommt die korporatistische Tradition des mexikanischen
Staates zum Tragen, die auf die Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas zurückgeht.
Dieser hat durch die Einführung des korporatistischen Systems dem Kampf der
revolutionären Fraktionen das Wasser abgegraben und den mexikanischen Staat als
einen kapitalistischen konsolidiert, der somit nur einer großen Gewerkschaft
gegenüber gestanden ist, anstatt mit zahlreichen Gewerkschaften verhandeln zu
müssen. Das gleiche geschah mit der Bauernbewegung, doch auch die Bewegung der
Unternehmer wurde korporatistisch organisiert.

Das ist eigentlich eine Strategie, die dem Faschismus
entlehnt ist, vor allem dem italienischen, und langfristig bedeutet sie eine
vertikale und autoritäre Kontrolle über die Arbeiter- und Bauernbewegung, die
wir bis jetzt nicht aufbrechen konnten. Es gibt zahlreiche
Bauernorganisationen, viele von ihnen werden brutal unterdrückt. Ihre Anführer werden ermordet, ihre Böden
besetzt, sie werden von ihrem Land vertrieben oder dieses wird konfisziert um
darauf Unternehmen zu errichten – das ist alles dem Plan Puebla Panamá, einem
Instrument der kapitalistischen Globalisierung, zu verdanken. Wir haben nicht
die Kraft starke Arbeiter- und Bauernorganisationen aufzubauen.

Das bedeutet im Grunde auch, dass wir wenige Möglichkeiten
haben, den Kampf in der Stadt weiterzuentwickeln. Das sah man auch am Verlauf
der Studentenbewegung, die den längsten Streik in der Geschichte der
Universidad Nacional Autà³noma de Mà©xico hervorgebracht hat. Fast zwei Jahre
lang dauerte dieser Streik, doch nichts ist davon übrig geblieben. Der Rektor,
der damals die militärische Stürmung und Besetzung der Universität angeordnet
hatte, ist heute eine hoch geehrte Persönlichkeit, der Monat für Monat Auszeichnungen
und Doktorate Honoris Causa auf der ganzen Welt erhält. Doch von der
Studentenbewegung ist nichts übrig geblieben, sie hat sich nicht einmal in
spezifischen Bildungsprojekten niedergeschlagen.

Demgegenüber kann die Andere Kampagne einen Versuch
darstellen, uns zu koordinieren, unsere ideologischen Differenzen zu
diskutieren und schließlich zu überwinden. Das scheint zwar schwierig zu sein,
doch es ist notwendig und wir arbeiten daran.

Bruchlinien: Im Frühling wird es Präsidentschaftswahlen in
Mexiko geben und man spricht von einem möglichen Wahlsieg von Lopes Obrador,
dem Kandidaten der PRD. Ist das ein Kandidat der Linken?

Alberto Hijar: Die Regierungsführung von Lopes Obrador in
Mexiko-Stadt, wo er zurzeit Bürgermeister ist, ist ein Beweis für seine
politische Linie. Auf der einen Seite umgibt er sich mit politischen
Hilfsfunktionären, die das Lumpenproletariat kontrollieren, d.h. die
Straßenverkäufer usw. Diese Menschen sind im Grunde nicht wirklich arme
Menschen, oft handelt es sich auch um recht wohlhabende Leute, die über
zahlreiche Verkaufsstände verfügen und die Straßenverkäufer sind, weil sie
keine Steuern zahlen wollen. Neben der Unterstützung für diese Leute führte
Lopes Obrador auch ein Wohlfahrtsprogramm für alte Menschen durch. Dadurch
gelang es ihm, sich eine große soziale Basis zu schaffen, ohne ein einziges
Gesetz oder die Steuerpolitik verändern zu müssen, denn nur so wäre es möglich
gewesen, den alten Leuten eine wirkliche und konstante Unterstützung zu
gewährleisten.

Die Stadtregierung Lopes Obrador hat im Bereich des
Arbeitsrechtes die individuellen Verhandlungen zwischen Unternehmern und
Arbeitern eingeführt, bzw. gefördert, die mündlichen Verträge, bei denen es
keine Unterschrift mehr gibt und im Endeffekt die Arbeiter dem Willen des Chefs
vollkomen unterworfen sind.

Ein weiteres Beispiel ist die Umwandlung des historischen
Zentrums der Stadt. Dafür wurde eine spezielle Kommission gegründet, der auch
der reichste Mann Lateinamerikas, Carlos Slim, angehört. Diese Kommission hat
den frühreren Bürgermeister von New York, Carlo Giuliani, eingeladen um seine
Vorschläge anzuhören. Giuliano hat seinen Plan Zero Tolerance empfohlen, der
unter anderem bedeutet hat, dass das historische Zentrum von den Armen
gereinigt wurde. Sie wurden aus ihren Wohnungen, meist in alten und
verwahrlosten Häusern, hinausgeworfen. Die Straßenkinder wurden vertrieben.
Dann wurden die Fassaden und die Straßen gereinigt, der Verkehr wieder
lebensfähig gemacht und kurz alles so gerichtet, dass die Stadt einer eleganten
Innenstadt mit teuren Cafà©s und Restaurants gleicht. Das hat er geschafft.

Das sind einige der Charakteristika von Lopes Obrador und
den Leuten, die ihn umgeben. Das hat nichts mit linken Positionen zu tun. Aber
angesichts des Fehlens von fähigen Leuten innerhalb der Rechten, angesichts der
Korruption der PRI, die Mexiko mehr als siebzig Jahre lang regiert hat, und
angesichts der PAN, die ihr katholisches und ehrenhaftes Profil vollkommen
verloren hat und sich stattdessen in eine Partei von skrupellosen Unternehmern
verwandelt hat – angesichts dessen ist es möglich, dass Lopes Obrador die
Wahlen gewinnt. Diese Möglichkeit führt zu einer Spaltung unter den
Organisationen der Linken in der Frage, ob Lopes Obrador unterstützt werden
muss oder ob stattdessen – die Position, die wir vertreten – der Aufbau einer
Volksmacht notwendig ist, damit, unabhängig davon, wer Präsident ist, dieser so
weit wie möglich einem politischen Programm des Volkes unterworfen wird. Das
ist die einzige Möglichkeit eine Alternative zum Neoliberalismus aufzubauen.

Ich möchte darüber hinaus noch sagen, dass die Idee Toni
Negris von einem allmächtigen Imperium mit seinen eisernen Institutionen wie
dem IWF, der Weltbank und der WTO politisch falsch ist. Denn wenn wir annehmen,
dass das Imperium allmächtig ist, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auf
die Straße zu gehen und uns zu verbrennen. Ich denke, dass das Imperium nicht
konsolidiert ist. Die letzten Treffen der WTO sind gescheitert, die europäische
Verfassung konnte nicht verabschiedet werden, in Amerika kommen in
verschiedenen Ländern Regierungen an die Macht, die bei allem Populismus links
stehen. In Bolivien hat gerade die Bewegung zum Sozialismus (MAS) von Evo
Morales die Wahlen gewonnen, eine mächtige Volksbewegung aus indigener
Bevölkerung, Arbeitern und Bauern. Das bedeutet, dass es in Amerika eine
Perspektive gibt und ich denke, die ist interessant.

Ich möchte noch darauf verweisen, dass der springende Punkt
zu sein scheint, ob wir nach wie vor daran festhalten, einen Staat auf dem
konstitutionellen Weg aufzubauen, über Wahlen, bei denen wir vielleicht einmal
einen Abgeordneten gewinnen, dann wieder verlieren. Das scheint keine
Perspektive des Kampfes zu sein, ganz im Gegenteil müssen zur Konstitutierung
der Volksmacht alle uns zu Verfügung stehenden Mitteln eingesetzt werden.

Bruchlinien: Welchen Einfluss haben die bolivarianische
Revolution und Hugo Chavez mit seinem antiimperialistischen Diskurs auf die
mexikanische Linke?

Alberto Hijar: Der Einfluss ist groß. Doch ich denke, dass
die Schwierigkeiten, die etwa die argentinische Regierung hat, die Korruption
des Staates und der Arbeiterpartei in Brasilien und die Bremse, die die Person
Evo Morales und die Bewegung zum Sozialismus praktisch darstellen, indem sie
die Volksbewegung auf konstitutionelle Bahnen lenken, ich denke, dass diese
Phänomene die Grenzen aufzeigen, die auch der bolivarianischen Bewegung in
Mexiko gesetzt sind. Diese Grenzen bestehen vor allem darin, dass es vom
Gesichtspunkt des venezolanischen und des kubanischen Staates aus gesehen keine
anderen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Transformation gibt, als diese
beiden Staaten zu respektieren und den Machterhalt ihrer beiden Führer zu
garantieren.

Es scheint, dass Hugo Chavez ein Projekt der
konstitutionellen Reform eingeleitet hat, um sicherzustellen, dass er auch noch
für viele weitere Jahre Präsident der Republik sein kann. Das stellt natürlich
einen Widerspruch zur Volksbewegung dar, die in Venezuela sehr stark ist und aufgrund
dieser Stärke auch die neuen Strukturen im Gesundheitsbereich, in der Bildung
usw. durchgesetzt hat. Die Volksbewegung hat Chavez auch dazu verholfen, das
Referendum zu gewinnen. Er ist der einzige Präsident, der nicht weniger als
neun Wahlen oder Referenden gewonnen hat. Das alles hat er der Volksbewegung zu
verdanken.

Der Widerspruch zwischen einem starken Staat mit einem
starken Führer und der Volksbewegung, deren gesellschaftliche und historische
Perspektive die Konsolidierung der Volksmacht ist, das ist heute die
Hauptfrage. Diese Volksmacht zu konsolidieren, ist die einzige Möglichkeit,
diese Staaten, die eine nationalistische antiimperialistische Linie verfolgen,
doch – wie die Regierung Chavez – sich letztendlich nicht der Konfrontation mit
den großen nordamerikanischen Konsortien stellen, die Konsolidierung der
Volksmacht ist eben die einzige Möglichkeit diese Staaten weiterhin auf einen
revolutionären Prozess zu orientieren. Venezuela exportiert weiterhin Erdöl an
die USA.

Das sind die Grenzen, die heute dem Stellungs- und
Bewegungskrieg gesetzt sind. Man kann nicht so tun, als ob die gegnerische
Seite einfach durch einen Willensakt annuliert werden könnte, als ob der Staat
mit allen seinen Widersprüchen oder die Volksbewegung mit allen ihren Schwächen
nicht existieren würden. Das ist die Situation in Lateinamerika, wie sie sich
heute darstellt.

Mexiko-Stadt

22. Dezember 2005

(1) La Otra Campaña – die Andere Kampagne ist die derzeit
laufende Kampagne des EZLN in Hinblick auf den Wahlkampf, in der zum Aufbau
einer explizit nicht elektoralistischen antagonistischen Bewegung in ganz
Mexiko aufgerufen wird.

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