Die Geschichte des Libanon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist vor allem eine Geschichte des aufgeschobenen antikolonialen Befreiungskampfes. Jener Prozess, der in anderen ehemaligen Kolonien in der Region wie Syrien, Irak oder Ägypten bereits in den 1940er und 1950er Jahren zum Sturz der prowestlichen Monarchien führte – das Streben der progressiven Bourgeoisie nach nationaler Souveränität und die Mobilisierung breiter Teile der Bevölkerung – konnte durch die Einbindung großer Teile des Bürgertums, von kleineren Zwischenfällen abgesehen, im Libanon bis 1975 verhindert werden.
Als das Land 1943 von Frankreich in die Unabhängigkeit entlassen wurde, wurde nicht nur die Kolonialverfassung von 1926 – mit Ausnahme der Mandatsklauseln – beibehalten. Mit dem so genannten Nationalpakt wurde auch ein konfessionelles Proporzsystem festgeschrieben, dass den prowestlich eingestellten christlichen und sunnitischen Oberschichten die Herrschaft sicherte. Ein aufgeblähter Staatsapparat, der alle Konfessionen mit gut bezahlten Ämtern versorgte und eine boomende Wirtschaft, deren Profite über die Klientelsysteme der jeweiligen Konfessionen bis in die Mittelschichten hinabsickerten, sorgte für ein stabiles politisches System. Die Loyalität einer Konfession galt ihrer Elite und deren Loyalität dem Staat.
Dieses Bild perfekter Harmonie, wie es sich vor allem in den Städten bot, war jedoch von Anfang an trügerisch. Denn abseits des politischen und wirtschaftlichen Lebens wuchs ein potenziell antagonistisches Subjekt heran, welches das konfessionalistische System nicht zu integrieren vermochte: die Schiiten.
Im Gegensatz zu den Sunniten und Maroniten lebte die schiitische Bevölkerung bis in die 1960er Jahre in ihrer überwältigenden Mehrheit auf dem Land und war somit von wirtschaftlichem Aufschwung und politischer Einflussnahme gleichermaßen ausgeschlossen. Zwar hatten auch sie ursprünglich ihren Teil am Konfessionsproporz abbekommen, doch hatten sie als die am stärksten wachsende Volksgruppe ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung von der letzten offiziellen Volkszählung 1932 bis ins Jahr 1983 auf 40 % verdoppelt und waren somit stark unterrepräsentiert. Hinzu kam, dass die Kluft zwischen der riesigen Masse der Armen und den wenigen reichen Großgrundbesitzern größer war als bei den anderen Volksgruppen, welche jeweils auch über einen breiten Mittelstand verfügten. Dies führte dazu, dass die politischen Ämter, die den Schiiten vorbehalten waren, nur innerhalb eines kleinen oligarchischen Kreises aufgeteilt wurden und so die Mehrheit überhaupt von jedweder Vertretung ausgeschlossen blieb. Auch der Aufstieg in die Bourgeoisie blieb ihnen in diesem System verwehrt, denn die alles entscheidenden Klientelverbände existierten für Schiiten nur auf dem Land, sodass sie es schwer hatten, in der Stadt Fuß zu fassen, wo sie auf sich alleine gestellt der ständigen Diskriminierung durch andere Konfessionen ausgesetzt waren. Für die Schiiten stellte die konfessionelle Organisierung der Gesellschaft daher vor allem eine konfessionelle Diskriminierung dar und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich dagegen erheben und zu einem politischen Faktor werden würden.
Diese Zeit kam, wenn auch nur zögerlich, zu Beginn der 1960er Jahre. Die Krise der Landwirtschaft und später die israelischen Luftangriffe gegen PLO-Stellungen, trieben die schiitischen Massen in die Städte, vor allem nach Beirut, wo sie sich als ungelernte Arbeiter und Tagelöhner durchschlugen. Hierdurch wuchs zwar die Bereitschaft in offenen Konflikt mit dem System zu treten weiter an, doch gestaltete sich die Transformation in ein eigenständiges Subjekt aufgrund von mangelnder Bildung und einem erst ansatzweise entwickelten politischen Bewusstsein als schwierig.
Zu Beginn der 1970er Jahre hatte sich auch außerhalb der schiitischen Bevölkerung die gesellschaftliche Polarisierung des Landes stark zu Gunsten der Linken gewandelt. Immer wieder kam es zu sozialen Auseinandersetzungen und Studentenprotesten. Der soziale Konflikt, der jahrzehntelang vom libanesischen System erfolgreich unterdrückt worden war, brach nun umso stärker auf. Die Linke, die in anderen arabischen Befreiungskämpfen oft vom panarabistisch ausgerichteten Bürgertum an die Wand gespielt worden war, wurde zur dominanten Kraft der Opposition. Als 1975 gemeinsam mit konservativ-muslimischen Kräften, die ein größeres Stück am Konfessionsproporz verlangten, das System selbst aber nicht antasten wollten, die Libanesische Nationalbewegung (LNM) gegründet wurde, stand diese unter der unangefochtenen Führung der Progressive Socialist Party (PSP) von Kamal Junblat, welcher der drusischen Religionsgemeinschaft angehörte.
Auch und vor allem auf die Schiiten übten die linken Parteien, ebenso wie der vom Südlibanon ausgehende Befreiungskampf der PLO eine gewaltige Anziehungskraft aus. Schon bald stellten sie in vielen dieser Parteien die Mehrheit der Mitglieder, doch die Parteieliten, die weiterhin in drusischer und sunnitischer Hand verblieben, erwiesen sich als unfähig, auf diese Chance angemessen zu reagieren. Zu sehr waren sie von ihrer Tradition her mit dem drusischen, sunnitischen und teils auch christlichen Mittelstand verbunden, als dass sie in der Lage gewesen wären, das enorme revolutionäre Potenzial, das die schiitische Frage mit ihrer gewaltigen sozialen Sprengkraft in sich barg, zu erkennen und ihm einen politischen Ausdruck zu geben. Vor die Wahl gestellt, das Projekt der LNM maßgeblich auf die schiitische Frage auszurichten, d.h. den größten bestehenden gesellschaftlichen Antagonismus in den Mittelpunkt zu stellen oder mit den etablierten konservativ-muslimischen Kräften zusammenzuarbeiten, entschied sich die Linke für letzteres. Anstatt revolutionär ausformuliert zu werden, wurde die Diskriminierung der Schiiten mittels der Parole der gesamtmuslimischen Unterdrückung unter die reformistischen Forderungen der sunnitischen Eliten subsumiert. Dies schlug sich unter anderem darin nieder, dass sich in der LNM zunehmend die bürgerliche Forderung nach einer Reform des konfessionalistischen Systems gegen die Forderung nach seiner Zerschlagung durchsetzte.
Auch die PLO, die seit ihrer Vertreibung aus Jordanien 1970/71 verstärkt im Libanon präsent war, versagte aufgrund ihres politischen Opportunismus darin, das revolutionäre Potenzial der Schiiten zu organisieren.
Vor allem die Fatah hatte zwar von Anfang an erkannt, dass die arabischen Regimes nicht die treibende Kraft im Kampf um die Befreiung Palästinas darstellen können, hing aber trotzdem noch der Illusion an, dass eine friedliche Koexistenz mit ihnen möglich sei, obgleich diese Konzeption bereits in Jordanien zur Katastrophe geführt hatte.
Dementsprechend hatte auch die libanesische Revolution in ihren Überlegungen keine strategische Bedeutung. Im Gegenteil verpflichtete sie sich dem libanesischen Staat gegenüber sogar sich nicht in innerlibanesische Angelegenheiten einzumischen, wenn dieser sie dafür im Süden des Landes operieren ließe. Das Verhältnis der Palästinenser zu den Schiiten im Süden stand daher, trotz anfänglicher Sympathie, unter keinem guten Stern. Nicht als Brüder waren sie in den Libanon gekommen, um gemeinsam gegen Israel und die reaktionären maronitischen Herrscher zu kämpfen, sondern sie hatten mit dem Staat einen Deal ausgehandelt, der gleich doppelt auf Kosten der Schiiten ging: Dafür, dass die PLO im Süden ihren Befreiungskampf gegen Israel führen durfte, unter dem aufgrund der Vergeltungsschläge vor allem die Zivilbevölkerung litt, verzichtete sie darauf, eben diese Bevölkerung in ihrem eigenen Befreiungskampf zu unterstützen. Als 1975 der Bürgerkrieg ausbrach, hielt sich die Fatah konsequenterweise weitgehend zurück und griff erst 1976 voll ein, als die christlichen Forces Libanaises (FL) palästinensische Flüchtlingslager angriffen.
Die Verteidigung der Schiiten gegen Israel und die FL hatte jedoch für die PLO auch nach dem Eintritt in den Bürgerkrieg keine besondere Priorität.
Im Gegensatz zur Linken hatten Teile des libanesischen Establishments bereits Anfang der 1960er Jahre die Gefahr erkannt, die ihrer Herrschaft aus dem Erwachen der Schiiten entstehen könnte, und versuchten daher diese mit Hilfe einer kooperationsbereiten Führung in das libanesische System zu integrieren. In dem Imam Musa al-Sadr, der 1959 aus dem Iran in den Libanon gekommen war und dort sogleich eine rege karitative und politische Aktivität begonnen hatte, fand man den geeigneten schiitischen Partner für diesen Integrationsprozess. Als authentischer Streiter für die schiitische Sache und charismatischer Führer hatte er sich schon bald einen beachtlichen Ruf erworben. Da er gleichzeitig als strikter Antikommunist stets betonte in keinerlei Antagonismus zum libanesischen System zu stehen und voll auf die friedliche Integration setzte, bildete er ein willkommenes Gegengewicht zur Linken.
Da der Staat tatsächlich zu einigen Zugeständnissen bereit war, wuchs auch das Ansehen al-Sadrs und seiner Schiitischen Bewegung weiter an. Die Mehrheit der schiitischen Dörfer wurde an das Straßen- und Stromnetz angeschlossen, der Zugang zu Bildungseinrichtungen und Posten in der Staatsbürokratie wurde erleichtert und 1967 wurde den Schiiten der Oberste Schiitische Rat (OSR), dessen Präsident al-Sadr wurde, als autonome Vertretung zugestanden.
Die christlichen Kräfte rund um die maronitische faschistische Kata’ib (Falange), die sich später in der Libanesischen Front bzw. deren Miliz, den Libanesischen Streitkräften (FL) zusammenschlossen, erkannten bereits 1970, dass ihre politische Hegemonie angesichts des breiten links-muslimischen Bündnisses, dem sie sich gegenüber sahen, stark im Schwinden war, und beschlossen in die Offensive zu gehen. Immer wieder lieferten sich ihre Milizen kleinere Gefechte mit der PLO, welche trotz ihrer Passivität als Hauptschuldige für die geänderten Kräfteverhältnisse ausgemacht wurde.
Als am 13. April 1975 ein erfolgloser Anschlag auf Pierre Jumayyil (Ge…ma…yel), den Führer der Kata’ib, verübt wurde, nützte dieser den Anlass, um die Situation zu eskalieren. Noch am selben Tag wurde ein mit Palästinensern besetzter Bus beschossen und dabei alle 28 Insassen getötet. Bald weiteten sich die Kämpfe auf das ganze Land aus, wobei sich von der PLO jedoch nur PFLP und DFLP von Anfang an daran beteiligten. Der Krieg wurde von christlicher Seite mit unglaublicher Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführt. Die vor allem schiitischen Muslime, die im überwiegend christlichen Ostbeirut und nahe gelegenen Vororten lebten, wurden zu Tausenden massakriert und zu Hunderttausenden vertrieben. Als die FL 1976 ebenso palästinensische Flüchtlingslager angriff, trat auch die Fatah in den Krieg ein. Die linke Allianz gewann hierdurch bald die Oberhand und hatte den Sieg schon vor Augen, als Syrien mit dem stillschweigenden Einverständnis der USA und Israels mit 10 000 Soldaten intervenierte und den maronitischen Eliten die Macht sicherte.
Die Linke und die PLO mussten nach dieser vorläufigen Niederlage den Preis für ihren strategischen Fehler in der schiitischen Frage bezahlen. Die von al-Sadr gegründete Amal, die immer offener ihr reaktionäres Gesicht zeigte, konnte die Empörung über den „Verrat“ der Palästinenser geschickt ausnutzen und sich immer wieder kleine Scharmützel mit der PLO liefern. Die Feindseligkeit gegenüber den Palästinensern ging sogar soweit, dass die Amal ohne größere Widerstände unter den Schiiten die wiederholten israelischen Interventionen begrüßen und offen mit den Besatzern kollaborieren konnte.
Doch auch wenn die Amal dieses Versagen der Linken kurzfristig für sich nutzen konnte, so war es doch offensichtlich, dass auch al-Sadrs Stern im Sinken begriffen war. Bereits der Bürgerkrieg an sich bedeutete ein fulminantes Scheitern seines ganzen Projektes der friedlichen Integration. Als er sich aber selbst nach Ausbruch der Kämpfe standhaft weigerte sich da…ran zu beteiligen und seine Amal 1976 sogar als Verbündete Syriens in den Krieg eintrat, wurde es offensichtlich, auf welcher Seite der Barrikade er stand. Glücklicherweise war er jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits so geschwächt, dass er keinen großen Schaden mehr anrichten konnte. Seine Amal-Miliz wurde ohne Probleme von der LNM überwältigt und entwaffnet. 1978 verhalf er seiner Bewegung immerhin noch zu einem eschatologisch verklärten Symbol, als er bei einem Besuch in Libyen unter mysteriösen Umständen für immer von der Bildfläche verschwand. Doch auch hierdurch konnte der Untergang, der durch die strategische Ausrichtung auf Israel als Verbündeten vorprogrammiert war, nicht langfristig verhindert werden.
Das direkte militärische Eingreifen Israels war das wesentliche Element der zweiten Phase des libanesischen Bürgerkrieges. Nachdem Syrien zwar im Interesse des Imperialismus den Sieg der Linken verhindert hatte, jedoch nicht dazu bereit war, die PLO gänzlich zu zerschlagen und sich so seiner einzigen Versicherung gegenüber dem Zionismus zu berauben, beschloss Israel, die Sache selbst zu regeln und dabei nicht nur die PLO aus dem Libanon zu vertreiben, sondern auch den syrischen Einfluss, der nun nicht mehr erwünscht war, zurück zu drängen und eine den eigenen Vorstellungen entsprechende Regierung einzusetzen. (Auch die Erweiterung der israelischen Grenzen war wohl eine Option, doch es ist umstritten wie engagiert dieses Ziel tatsächlich verfolgt wurde.)
Wie erwähnt gelang es der Amal anfangs noch, die israelischen Interventionen, unter anderem die erste großangelegte Invasion von 1978, als Befreiung von der PLO zu verkaufen. Mit der Operation „Frieden für Galiläa“ 1982 änderte sich jedoch die Stimmung. Auch sie wurde von der Amal zuerst begrüßt, doch die Brutalität und Rücksichtslosigkeit, mit der die Besatzer diesmal vorgingen, machte diese Position bald unhaltbar. Der Einmarsch der israelischen Armee kostete allein im ersten Jahr fast 18 000 Libanesen und Palästinenser das Leben, eine halbe Million Menschen wurde zu Flüchtlingen. Den Bewohnern des vorwiegend muslimischen Westbeiruts wurde das Leben zur Hölle gemacht um die Kapitulation der PLO zu erzwingen und als diese abgezogen war, richtete die auf die Flüchtlingslager Sabra und Shatila losgelassene Falange dort ein Massaker an. Als im Oktober 1983 ein israelischer Armeekonvoi durch die alljährliche Ashura-Prozession fahren wollte, kochte die Stimmung schließlich über.
Auch die Amal flirtete von nun an mit dem Widerstand gegen die Besatzung und die von ihr eingesetzte Regierung, wodurch sie ihr Image auch phasenweise wieder aufbessern konnte, doch naturgemäß stand es mit ihrer Glaubwürdigkeit nicht zum Besten. Somit war der Boden für eine neue Organisation bereitet, die weder mit dem Versagen der Linken noch der Kollaboration der Schiitischen Bewegung belastet war. 1982 wurde diese Lücke mit der Gründung der Partei Gottes, der Hizbullah, gefüllt.
Der Ursprung der Hizbullah ist jenem der Amal nicht unähnlich. Die Gründer der Hizbullah standen Musa al-Sadr in Sachen Antikommunismus um nichts nach und wie er hatten auch sie im Ausland studiert. Doch war es bei ihnen nicht der Iran, sondern das irakische Najaf, wo sie vor allem vom modernistischen Theologen Baqir al-Sadr beeinflusst wurden. Dieser propagierte im Gegensatz zu Musa al-Sadr nicht die Reform des libanesischen Systems, sondern die Errichtung eines islamischen Staates. Die späteren Gründer der Hizbullah standen daher von Anfang an in einem Widerspruch zu Musa al-Sadr, der unter den gegebenen Bedingungen leicht einen revolutionären Charakter annehmen konnte. Denn auch wenn sich die Forderung nach einem islamischen Staat in zahlreichen Ländern als mit dem Imperialismus kompatibel erwiesen hatte, so setzte sie die neu gegründete Bewegung in der spezifischen libanesischen Situation und unter dem Einfluss der ebenfalls antiimperialistischen iranischen Revolution doch in einen scharfen Gegensatz zu den herrschenden christlichen Eliten und den israelischen Besatzern.
Doch trotz ihres politischen Radikalismus und ihrer beachtlichen militärischen Erfolge hatte es die Hizbullah zu Beginn nicht leicht sich durchzusetzen. Ihre unbedingte Parteinahme für den Iran, die so weit ging, nicht nur ein islamisches System nach iranischem Vorbild anzustreben, sondern sogar die Unterordnung des Libanon unter die religiöse und politische Autorität Khomeinis zu fordern, stieß in der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Auch ihre klandestine Struktur und ihre oft lebensfremden Moralvorstellungen ließen sie eher als radikale Sekte erscheinen denn als Partei, die den Anspruch erhebt, die Massen zu führen. Auch das genaue politische Profil blieb zuerst im Dunklen. Obgleich sie bereits 1982 ihre ersten militärischen Aktionen unternahm und 1983 unter dem Namen „Islamischer Jihad“ den bekannten Doppelanschlag gegen das amerikanische und französische Kontingent der Multinational Force (MNF) durchführte, bei dem fast dreihundert Soldaten starben und der den Abzug der MNF 1984 bewirkte, dauerte es bis 1984, ehe sie erstmals unter dem Namen „Hizbullah“ an die Öffentlichkeit trat und politische Erklärungen publizierte.
1984 konnte sich die Amal noch ein letztes Mal als bedeutende oppositionelle Kraft präsentieren, als sie mit der „Intifada des 6. Februar“ gemeinsam mit Syrien und der PSP das israelisch-libanesische „Abkommen über die Beendigung des Kriegszustandes“ zu Fall brachte. Spätestens mit der Aufnahme ihres Vorsitzenden Nabih Birri in die verschiedenen Regierungen ab 1984 wurde die Integration der Amal in das libanesische System jedoch endgültig besiegelt. Unter dem Vorwand, eine Rückkehr der PLO in den Libanon verhindern zu wollen, nahm sie 1985 auch ihren alten Feldzug gegen die palästinensischen Flüchtlinge wieder auf, der mit syrischer Unterstützung bis 1988 andauern sollte. Die Tatsache, dass die Amal auch zunehmend in den Drogenhandel abglitt, ließ ihr Ansehen noch weiter sinken.
Die Hizbullah konnte von diesem Niedergang zwar bedingt profitieren, doch fiel ihr das Überleben zu jener Zeit aus den genannten Gründen durchaus nicht leicht. Am ehesten konnte sie sich eine stabile Basis in der Bekaa-Ebene an der Grenze zu Syrien aufbauen, während die Amal ihre Dominanz im Süden, auch Dank Absprachen mit den israelischen Besatzern, verteidigen konnte.
Erst Ende der 1980er Jahre konnte die Hizbullah die Situation im Süden deutlich für sich entscheiden. Im Ta’if-Abkommen, das am 22. September 1989 zwischen Abgeordneten des Parlaments und den Bürgerkriegsparteien beschlossen wurde, wird der Stärke und dem Ansehen der Hizbullah bereits Rechnung getragen. Das Abkommen wurde mit syrischer Hilfe sowie stillschweigender Zustimmung der USA und Israels gegen die ultra-rechte maronitische Fraktion um General Aoun durchgesetzt und markiert im Allgemeinen das Ende des Bürgerkriegs. Es regelt nicht nur eine leichte Anpassung des kon…fes…sio…na…lis…ti…schen Systems an geänderte demographische Gegebenheiten, indem Christen und Moslems die selbe Zahl an Abgeordneten zugestanden wird, sondern es wird darin auch der Hizbullah als einziger Miliz gestattet, ihre Waffen bis zur Befreiung des gesamten Libanons von israelischer Besatzung zu behalten. Bezüglich der syrischen Truppen wurde vereinbart, dass sich diese aus dem Libanon zurückziehen sollen, ohne dafür jedoch einen genauen Zeitplan fest zu legen.
Nachdem sowohl die Maroniten als auch die Linke deutlich geschwächt aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen waren, kam es in den 1990ern zu einer Neugruppierung der Kräfte. Während sich die libanesische Bourgeoisie rund um den sunnitischen Multimilliardär und zweifachen Ministerpräsidenten Rafik Hariri formierte, bildete das Zentrum der oppositionellen Bewegungen fortan der Befreiungskampf der Hizbullah, der im Mai 2000 schließlich den Abzug Israels (außer von den Shib’a-Farmen) erzwang und die mit Israel verbündete Südlibanesische Armee zerschlug.
Dass die Hizbullah diesen bislang beispiellosen Sieg über eine der stärksten Armeen der Welt erringen konnte, obwohl sie Mitte der 1980er Jahre noch Schwierigkeiten hatte sich gegen die konkurrierende Amal durchzusetzen, hängt vor allem mit jenem Faktor zusammen, den viele westliche Beobachter bis heute nicht wahrhaben wollen, nämlich dem demokratischen Charakter der Hizbullah.
Als pro-iranische Sekte beginnend, war die Hizbullah Mitte der 1980er intelligent genug, zu erkennen, dass der politische Erfolg nicht nur davon abhängt, militärische Operationen gegen die Besatzungstruppen durchführen zu können, sondern vor allem auch von der Fähigkeit, sich zu öffnen und unter dem Druck der Massen eine Transformation der Partei in gewissen Grenzen zu ermöglichen. Als sterile Kaderpartei mit abstrakten islamischen Vorstellungen im Sinne al-Qa’idas hätte die Hizbullah in der libanesischen Realität kaum langfristig bestehen können. Stattdessen zeigte sie in vielen Bereichen eine ungeahnte Flexibilität, die längst nicht mehr als taktische „Tarnmanöver“ einer eigentlich reaktionären Partei erklärbar sind, sondern tatsächlich eine strategische Orientierung auf den Widerstand darstellen, dem sich die Struktur der Gesellschaft unterzuordnen hat. Alte Moral- und Wertvorstellungen werden durcheinandergewirbelt und unter dem Licht der Zweckmäßigkeit neu geordnet. Vor allem die alten patriachalen Herrschaftsstrukturen werden, oft sogar gegen den Widerstand von Teilen der Bevölkerung, zurückgedrängt. So wird etwa der unbedingte Gehorsam der Kinder gegenüber den Eltern als unislamisch erklärt. Das erlernbare Wissen erhält eine starke Aufwertung gegenüber der Erfahrung, d.h. dem Alter. Durch alle Bereiche der Anwendung und Interpretation des Islam zieht sich das Prinzip, dass nicht das Alter, die Abstammung oder der Reichtum entscheidend sind, sondern einzig und allein, ob man dem rechten Weg des Islam folgt, d.h. was man für den Widerstand leistet. Die Rolle der Frau wird ebenfalls aufgewertet, obwohl man natürlich nicht von einer vollen Gleichberechtigung sprechen kann. So wird ausdrücklich das Bild der Frau als Kämpferin betont. Die Bewahrung der Familienehre wird in die Hand jedes einzelnen Familienmitgliedes gelegt und so die Vormundschaft der männlichen Mitglieder über die weiblichen zurückgedrängt. Auch bei der Eheschließung wird den Frauen das Recht zuerkannt, sich den Ehepartner selbst auszusuchen.
Es ist das historische Verdienst der Hizbullah, dass sie mit Pragmatismus und politischer Intelligenz eine Bewegung geformt hat, die Israel eine derart schmachvolle Niederlage bereiten konnte, die selbst den Sieg der Fatah von Karameh bei Weitem in den Schatten stellt. Indem sie das revolutionäre Potenzial der Schiiten von der reaktionären Führung durch die Amal befreit hat, hat sie es geschafft, die oppositionellen Strömungen der libanesischen Gesellschaft zu einer neuen Kraft zusammen zu fassen, in welcher der schiitischen Armut endlich der ihr gebührende zentrale Platz zukommt, die Reste der ehemaligen Linken und der PLO jedoch ebenso integriert werden konnten.
Die heutige Hizbullah ist daher von ihrem Wesen her grundverschieden von Parteien wie der Amal. Das gesellschaftliche Subjekt, die Volksbewegung, die sich mit ihrer Hilfe gebildet hat, kann von der Parteiführung, selbst wenn sie es wollte, nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich in eine offen reaktionäre Richtung gelenkt werden. Dennoch besteht die Hizbullah nicht aus Marxisten und neigt daher dazu, auch dem Druck nach rechts nachzugeben und eine reformistische Richtung einzuschlagen. Exemplarisch für die verheerenden Folgen dieses Fehlens marxistischer Theorie ist die Forderung der Hizbullah nach einem islamischen Staat zu nennen. War diese Forderung in den 1980er Jahren noch eines der zentralsten Elemente ihrer Politik, so erkannte sie schon bald die Schwierigkeit damit Sympathien zu gewinnen und ließ sie stillschweigend fallen. Hierbei schüttete sie jedoch das Kind mit dem Bade aus, da sie zugleich jeden Anspruch auf eine revolutionäre Zerstörung des bestehenden Staates aufgab und sich in das libanesische System integrierte. An dieser Problematik hat sich bislang nichts geändert: Obwohl das Ansehen der Hizbullah durch die aktuelle Auseinandersetzung mit Israel wahrscheinlich noch weiter wachsen wird, bleibt die Forderung des islamischen Staates unpopulär. Langfristig wird es eine entscheidende Bewährungsprobe für die Hizbullah darstellen, ob sie nicht nur Israel die Stirn bieten kann, sondern auch, ob sie die Massen für den Sturm auf die immer noch bestehende konfessionalistische Elitenherrschaft mobilisieren kann.
Bjarne Köhler
4. August 2006
Bjarne Köhler ist Mitglied des Solidaritätskomitees für Palästina in Graz.