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Wider den säkularistischen Fundamentalismus

11. August 2006

Zur Stellung des
Antiimperialismus zum politischen Islam

Unter jenen, die
den israelischen Angriff auf den Libanon als Aggression betrachten und
verurteilen, herrscht oft ein massives Vorurteil gegen jene Organisationen, die
den Widerstand der Masse des Volkes anführen, nämlich die Hizbollah im Libanon
und die Hamas in Palästina. Das hat zur Folge, dass sie nicht bereit sind sich
mit dem Widerstand zu solidarisieren. Sie setzen ihre Hoffnungen in
unterschiedlichen Graduierungen auf Europa, zwischen den Institutionen und der
Zivilgesellschaft schwankend. Wie illusorisch das ist, haben die Willfährig-
bzw. Machtlosigkeit der EU gegenüber den USA in den letzten Kriegen gezeigt.
Diejenigen die das realistisch sehen, versinken daher oft in Passivität.

Nicht nur in
einem großen Teil der Linken, sondern auch in der Tiefe der Bevölkerung gibt es
eine diffuse Angst vor dem unbekannten Bösen, das als islamischer Terrorismus
durch die Medien geistert. Es gelang in den letzten Jahren einen Chauvinismus
zu schüren, der sich als Abwehr für diese neue Hauptbedrohung darstellt – und
zwar nicht nur durchsichtige Bedrohung für die Interessen der Eliten, sondern
auch als Gefahr für das tägliche Leben der breiten Masse.

Tatsache ist,
dass die heutigen Widerstandsbewegungen im arabischen und islamischen Raum von
Organisationen geführt werden, die dem politischen Islam zuzurechnen sind. Es
gilt daher, sich mit diesen näher auseinanderzusetzen.

Hisbollah und
Hamas

Hisbollah und
Hamas könnten unterschiedlicher nicht sein, dennoch ist es gerechtfertigt, sie
in einem Atemzug zu nennen.

Die Hamas ist
eine grundlegend konservative Organisation, eine Emanation der Moslem-Brüder,
deren Organisation von Ägypten aus die ganze arabische Welt durchzieht. Die
Moslembrüder sind der Illusion eines ungestörten Handelskapitalismus
verpflichtet und tendieren zu vorsichtiger Kooperation mit dem Imperialismus,
was am Beispiel ihres Heimatlandes leicht belegt werden kann.

Doch die extreme
Form der Unterdrückung in Palästina hat all diesen Illusionen die Grundlage
entzogen. Hinzu kommt, dass die nationale Befreiungsbewegung der PLO, geführt
von der Fatah und in ihrem Schlepptau auch der Linken, im Oslo-Abkommen einen
historischen Kompromiss eingegangen war. Die Anerkennung Israels und mit ihm
des kolonialen Raubes des größten und besten Teils des Landes sowie der
Vertreibungen hoffte man gegen einen eigenen Staat und ein Ende der
zionistischen Expansion abzutauschen. Dabei war dies nicht nur der Wunsch der kollaborationistischen
Eliten, sondern der Mehrheit der Palästinenser. Sie waren bereit nach einem
Jahrhundert des Befreiungskampfes auf fast alles zu verzichten, um dadurch eine
gesicherte staatliche Existenz zu erlangen. Doch Israel interpretierte diese Teilkapitulation
nur als Zeichen der Schwäche und trieb die Kolonisierung ganz Palästinas nur
noch schneller voran. Oslo stellte für Israel nichts als einen Fetzen Papier
dar, bestimmt zur Täuschung der internationalen Öffentlichkeit. Nach und nach
wurde den Palästinensern klar, dass sie betrogen worden waren. Israel will
keinen Frieden, sondern Expansion mit allen Mitteln.

Die Hamas stieg
zur dominanten Kraft der palästinensischen Befreiungsbewegung auf, weil sie
Oslo konsequent abgelehnt hatte. Das ist der Hauptfaktor auch für den Wahlsieg
der Hamas, auch wenn die Reislamisierung natürlich davon nicht zu trennen ist.
Die islamische Kultur steht dabei als Symbol für den Widerstand und ist erst in
zweiter Linie konservativ.

Teile der
radikalen Linken Palästinas warnen vor einer Entwicklung der Hamas nach dem
Vorbild der Fatah, vielleicht in noch viel kürzerer Zeit. Der äußere Druck und
ihr Konservativismus könnte sie dazu zwingen, Israel ebenfalls anzuerkennen.
Obwohl es unzweifelhaft solche Tendenzen in der Hamas gibt, bestehen die
Bedingungen für eine solche Kapitulation nicht. Es ist Israel und der Westen,
die auf militärische Aggression setzen und keinen Platz für ein neues Oslo
zulassen. Auf der anderen Seite ist da der Druck von unten durch den Widerstand
des Volkes, an dem die Hamas nicht vorbei kann, ob sie will oder nicht.
Angesichts der Hungerblockade und des enormen äußeren Drucks ist ein
Doppelspiel indes durchaus vorstellbar, doch so etwas wie Oslo wird dieses wohl
kaum gebären.

Die Hisbollah ist
im Gegensatz zur Hamas von ihren Wurzeln her wesentlich progressiver. Sie
entstand anders als die Hamas als Widerstandsorganisation gegen die
zionistische Besatzung des Libanon und stützte sich von Anfang an auf die armen
Bevölkerungsschichten. Je mehr sie zu einer Massenorganisation wurde, desto
mehr legte sie die sektiererischen Züge ab und öffnete sich auch nach links.
Insbesondere ihre Militärorganisation integrierte sehr viele linke Kader. Was
die Kulturfrage anbelangt, so fördert sie die Beteiligung der Frauen auf allen
Ebenen des öffentlichen Lebens, allerdings unter dem Gesichtspunkt der strengen
Geschlechtertrennung. Im Libanon kommt noch der Aspekt der multikonfessionellen
Gesellschaft ohne dominante Mehrheitsreligion hinzu, der sie viel toleranter
als die ihnen verwandten islamischen Bewegungen in anderen Ländern macht. Die
Hisbollah tritt als weitgehend konfessionelle Organisation sogar gegen das
undemokratische konfessionalistische politische System des Libanon ein.

Die Hisbollah ist
nicht nur die Organisation des antiimperialistischen Volkswiderstands, sondern,
wenn auch in verzerrter Form, des Klassenkonflikts. Sie repräsentiert die
schiitischen Unterklassen. Ihr Vorschlag zur Lösung des Klassenkonfliktes ist
indes nicht revolutionär, sondern sozialdemokratisch. So wie die Hamas
unterhält die Hisbollah ein Sozialsystem, das vermutlich noch umfassender und
stärker auf die Linderung der Klassendifferenzierung abzielt – die im Libanon
natürlich viel stärker ist, als im besetzten Palästina.

Aus der Sicht des
Antiimperialismus, der den Widerstand der Massen gegen die imperialistische
Unterdrückung unterstützt, stellen Hisbollah und Hamas die historisch-konkrete
Form des Volkswiderstands gegen den Zionismus dar. Daran ändern auch ihre
oftmals konservative Kultur und ihrer Moderationsversuche nichts. Nur durch die
Unterstützung und Beteiligung am Kampf kann diesem eine revolutionäre Richtung
gegeben und er in ein globales Programm der Emanzipation eingeschrieben werden.

Islamischer
Staat?

Aber strebt der
politische Islam nicht einen islamischen Staat an? Einen Gottesstaat, in dem es
keine Demokratie gibt, ganz nach iranischem Vorbild?

Ja, beide
sprechen von einem islamischen Staat. Doch sind die Vorstellungen darüber sehr
nebulös und unkonkret. Fixpunkt ist eigentlich nur die Umsetzung des
islamischen Moral- und Verhaltenskodex, sowie die islamische Rechtssprechung,
die eng miteinander verflochten sind.

Was ein
islamischer Staat wirklich bedeuten kann, ist sehr stark von den
gesellschaftlichen Bedingungen des jeweiligen Landes abhängig. In Afghanistan
oder auch im Iran bedeutet er etwas anderes als im Irak, Palästina oder gar dem
Libanon.

Der Iran wird
immer als warnendes Beispiel angeführt. Doch die Herrschaft des Klerus ist
sicher ein persisch-schiitisches Spezifikum, denn in den Ländern mit
sunnitischer Mehrheit gibt es keinen Klerus als gesonderte Kaste, die den
Anspruch auf die Macht erheben könnte.

Die entscheidende
Frage ist jene nach der Volkssouveränität, der Macht der Unterklassen oder auch
des Volkes. Wir wissen aus dem Westen, wo diesem Prinzip formal Genüge getan
wird, wie sehr die repräsentative Demokratie ausgehöhlt und zu einem Spielball
der Oligarchie werden kann. Umgekehrt bedeutet das Bekenntnis zum islamischen
Charakter eines Staates, die konstitutive Bezugnahme auf den Islam, noch keine
Aussage über die Machtverhältnisse und die herrschende politisch-soziale Kraft.
Selbst der Iran, der auf die Doktrin der Herrschaft der Rechtsgelehrten
basiert, nennt sich Republik, also Sache der Öffentlichkeit, Angelegenheit des
Volkes. Es scheint durchaus möglich im Rahmen einer ganz allgemeinen Referenz
zum Islam ein politisches System zu bilden, das den Volksmassen über deren
Repräsentanten die Macht verleiht. Das schließt auch die notwendigen Eingriffe
in die Eigentumsverhältnisse ein.

In Staaten wie
dem Irak oder dem Libanon, wo es unterschiedliche islamische oder sogar starke
christliche Konfessionen gibt, drängt sich die Demokratie als einzig mögliche
Integration aller wesentlichen Konfessionen noch mehr auf. Denn ohne
Massenkonsens ist ja an eine Machtübernahme gar nicht zu denken. Der Bezug zum
Islam erhält dann einen immer symbolischeren Charakter, weil er sich nicht mehr
auf eine Konfession und die sie repräsentierenden Eliten stützen kann.

Die Haltung der
westlichen Öffentlichkeit und der Linken

In der
Auseinandersetzung mit dem politischen Islam im Westen zeigt sich die
widerspruchsvoller Position der kombinierten Ablehnung von US-israelischem
Krieg und politischem Islam, die in weiten Teilen der Bevölkerung, aber auch
der europäischen Linken verbreitet ist.

Nur am Rande sei
daran erinnert, dass ein Teil der historischen Linken sich offen auf die Seite
Israels und seines Aggressionskrieges stellt. Das ist Ausdruck der Tatsache, dass
diese Teile der Linken mit den imperialistischen Eliten kooperieren und Teil
ihres Medien- und Ideologieapparates geworden sind. Sie sind das Endprodukt der
Degeneration der historischen Linken nach 1989/91 hin zum proamerikanischen,
amerikanistischen Liberalismus. Der ideologische Mainstream, deren Einpeitscher
sie oftmals geworden sind, hat viel stärker als vor dem Ende der Sowjetunion
den Zionismus adoptiert. Der früher mit der Linken verbundene und daher
verfemte Antifaschismus konnte angesichts der Implosion der Linken integriert
und zu einer proamerikanisch-proisraelischen Legitimationsideologie
transformiert werden.

Die
Antiglobalisierungsbewegung sowie die Zivilgesellschaft sprechen gerne von der
Spirale aus Terror und Krieg, die durchbrochen werden müsse, ohne genau angeben
zu können, wie das zu bewerkstelligen sei. Sie drücken damit jedoch vermutlich
die Meinung der schweigenden Mehrheit aus.

Auch der
gegenwärtige Krieg gegen den Libanon scheint das simple Schema zu bestätigen.
Einerseits scheint da der Terror der Palästinenserorganisationen sowie die
Raketen der Hisbollah gegen die israelische Zivilbevölkerung zu sein,
andererseits die Kriegshandlungen Israels und seines Mentors USA.

Diese Position
setzt nicht nur beide Seiten unzulässigerweise auf die gleiche Ebene, sondern
unterstellt auch die selbständigen Existenz eines Phänomens namens islamischer
Terrorismus, das grundsätzlich böse und bekämpfenswert sei. Diese Auffassung
verstellt und verweigert nicht nur die Frage nach den zugrundeliegenden
politisch-sozialen Ursachen, sondern sie greift auch bei allen Variationen auf
kolonialistisch-chauvinistische Erklärungen zurück, die dem Islam
Menschenverachtung unterschieben.

Trotz aller
möglichen Absetzung vom amerikanisch-israelischen Präventivkrieg wegen
Unverhältnismäßigkeit oder der nur schwer zu verleugnenden geopolitischen
Machtinteressen, bestätigt die genannte Position von der Spirale Terror-Krieg
die Grundstruktur des amerikanischen Arguments, nämlich, dass dem Terror mit
Gewalt entgegengetreten werden müsse.

Ganz systematisch
soll ausgespart bleiben, dass Israel und die USA nicht nur Teile der
arabisch-islamischen Welt besetzt halten, sondern auch die formal unabhängigen
Staaten unter ihrer politischen, wirtschaftlichen, militärischen und nicht
zuletzt kulturellen Botmäßigkeit halten. Angesichts dieser überwältigenden
militärischen Überlegenheit der Neokolonialisten kann der Widerstand nicht die
klassischen Formen des Befreiungskrieges annehmen.

Es handelt sich
wie nie zuvor um einen asymmetrischen Krieg, in dem selbst die Formen der
traditionellen Guerilla nur selten anwendbar sind. Die Gefangennahmen der
israelischen Soldaten sind solche Aktionen, die indes ausgesprochen selten
erfolgreich durchgeführt werden können. Obwohl es sich um rein militärische
Ziele handelte, war der Aufschrei in der westlichen Öffentlichkeit fast größer
als sonst. Das zeigt, dass es tatsächlich nicht um den Schutz von Zivilisten
geht, sondern dass Israel unantastbar ist.

Meistens jedoch
wird von palästinensischen Attacken auf Zivilisten berichtet. Dabei wird
geflissentlich verschwiegen, dass die Siedler in den palästinensischen Gebieten
bis an die Zähne bewaffnet sind, de facto als Teil der Armee fungieren und oft
noch unberechenbarer und aggressiver bei ihrem Landraub vorgehen als die
eigentliche Armee selbst. Dass sie Kinder und Frauen ins Kampfgebiet mitnehmen,
liegt nicht in der Verantwortung der Palästinenser, sondern ist Teil ihrer
Strategie und Legitimation.

Was Attentate
oder Raketenbeschuss auf israelischem Staatsgebiet in den Grenzen von 1967
betrifft, so wird der jüdische Staat gerne als normale bürgerliche Gesellschaft
dargestellt. Tatsächlich gibt es aber wie in kaum einem anderen Land eine
untrennbare Verflechtung zwischen Zivilem und Militärischem. Jeder Staatsbürger
hat das Recht in der Öffentlichkeit Waffen zu tragen, wovon auch ausgiebig
Gebrauch gemacht wird. Der palästinensischen Urbevölkerung, soweit sie nicht
vertrieben wurde, kommt dieses Recht indes nicht zu. Anders wären die systematischen
Vertreibungen (wenn es nicht im Interesse des Westens wäre, würde wohl von
ethnischen Säuberungen die Rede sein) nicht möglich.

Die israelische
Gesellschaft mag sozial und kulturell tief zerklüftet sein, doch ihr
Grundcharakteristikum bleibt der Kolonialismus – und darin ist man über alle
Differenzen hinweg einig. Die internen Streitereien über die Formen der
weiteren Expansion sind eine Sache, doch was die bis 1967 eroberten Gebiete
betrifft, gibt es einen totalen Konsens gegen das Recht auf Rückkehr für die
vertriebene Urbevölkerung sowie für den Ausschluss der verbliebenen
Palästinenser als Nation aus dem Staatswesen. Alle sind sich einig: Israel muss
ein exklusiv jüdischer Staat bleiben, also die antiarabische Apartheid als
kunstitutives Wesensmerkmal behalten. Der Charakter Israels als jüdischer
Staat, also in Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser, ist
sakrosankt, unantastbar. Jeder Israeli – soweit er erwachsen ist und nicht
politischen Widerstand leistet – ist also Teil dieses nationalen Konsenses der
kolonialen Unterdrückung der Palästinenser.

Im Angesicht der
ständigen zionistischen Aggression auf die Palästinenser ohne Unterschied ob
Zivilisten, Partisanen oder Militärs gibt es unter den Arabern und insbesondere
unter den Palästinensern einen starken Drang nach Vergeltung. Nachdem wegen der
drückenden Überlegenheit der Besatzer im engeren Sinn militärisch nichts zu
erreichen ist, äußert sich diese Selbstverteidigung in der Formel: „Wenn wir
für sie Freiwild sind, dann sollen auch sie nicht ruhig schlafen können.“

Es ist von einem
formal-ethischen Standpunkt leicht die Palästinenser dafür zu verurteilen, dass
sie dem Zionismus mit gleicher Münze zurückzahlen – einmal davon abgesehen,
dass sie eine viel höhere Opferzahl zu beklagen haben als der Zionismus. Von
der Befreiungsbewegung, so die Meinung vieler, könnte erwartet werden einen
moralisch höheren Standpunkt einzunehmen als jenen der Kolonisten. Doch hier
stellt sich die Frage nach den konkreten politischen Alternativen jenseits
jeden Formalismus.

Vielfach wird
eingewendet und als Alternative angegeben, dass man auf die Differenzierung der
israelischen Gesellschaft setzen müsse. Dabei muss man sich im Klaren sein,
dass keine Gesellschaft auf der Welt, nicht einmal die USA, so grundsätzlich
den Kolonialismus befürwortet. Die Vernichtung der Palästinenser als Nation ist
die Realverfassung Israels. Die zionistische Bewegung spricht das auch mehr
oder weniger offen aus. Es gibt in Israel keine wirksame Kraft, die für das Selbstbestimmungsrecht
der Urbevölkerung steht, was das Rückkehrrecht der Vertriebenen sowie ihrer
rund fünf Millionen Nachkommen einschließt. Die Palästinenser auf einen solchen
antizionistischen Pol in der zionistischen Gesellschaft zu vertrösten, hieße sie
zum ewigen Warten zu verdammen.

Und was ist mit
Uri Avnery, werden die Vertreter der These vom gemeinsamen Klassenkampf von
arabischen und israelischen Arbeitern einwenden. Diese sehr schwache
Friedensbewegung tritt in der Substanz für die Einhaltung der Oslo-Verträge
durch Israel ein. Doch sie kommt zu spät, ihre Zeit ist vorbei, Israel hat die
Verträge systematisch gebrochen und sie konnte es nicht verhindern. Die
Zwei-Staaten-Lösung ist eine von der zionistischen Realität überholte Illusion,
aus deren Scheitern die Palästinenser die Konsequenzen gezogen haben. Diese
Idealisten eines gezähmten, zivilisierten Zionismus den ums Überleben
kämpfenden Araber als Alternative zu präsentieren, ist nicht nur politisch
hoffnungslos, sondern grenzt an Zynismus.

Der Anstoß zur
Zersetzung des Zionismus kann nur von außen kommen. Das heißt in erster Linie,
dass Israel die politisch-militärische Stärke des arabischen Widerstands gegen
den Westen, der von den USA geführt wird, zu spüren bekommen muss. Nur
Niederlagen, die die kolonialen Träume zerplatzen lassen, können den Zionismus
in seinen Grundfesten erschüttern. Das bezieht sich sowohl auf Israel selbst,
als auch auf den gesamten Westen und insbesondere die USA. Wichtiger
Bestandteil dessen ist der Sturz der prowestlichen Regime in der arabischen
Welt und die Entwicklung von politisch-militärischen Widerstandsbewegungen wie
im Irak oder im Libanon.

Ein anderer nicht
zu unterschätzender Aspekt ist die Bekämpfung des Zionismus an seinen
ideologischen Wurzeln in Europa. Man muss klarmachen, dass Israels Konzeption
als exklusiv jüdischer Staat nicht durch den Genozid an den Juden legitim wird.
Der deutsche Völkermord an den Juden rechtfertigt in keiner Weise die
Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser, die in keinerlei
Zusammenhang mit dem Holocaust stehen.

Die traditionelle
Position der palästinensischen Befreiungsbewegung eines einheitlichen
demokratischen Staates im ganzen historischen Palästina wäre die Grundlage für
ein friedliches Zusammenleben von Moslems, Juden und Christen. Dieses Modell
der Ein-Staaten-Lösung stellt aber das genaue Gegenteil des derzeitigen
zionistischen Staates Israel dar, der sich als rein jüdischer Staat definiert
und eigentliche Heimat aller Juden der ganzen Welt versteht. Um dieses falsche
Gleichsetzung von Judentum und Zionismus aufzubrechen, ist es auch wichtig
darauf hinzuweisen, dass die europäischen Juden integraler Bestandteil der
europäischen Gesellschaften waren und es im Grund die Pflicht eines
antifaschistischen Gesellschaftsverständnisses wäre, ihnen ihren Platz in den
europäischen Gesellschaften zurückzugeben.

Gleichzeitig muss
gezeigt werden, dass der historische Antisemitismus vorbei ist, auch deswegen,
weil die Eliten ihn fallen haben lassen. Während in Europa die Juden eine
relativ sichere Existenz haben, ist gerade Israel der unsicherste Platz.
Darüber hinaus wird auch die israelische Politik, wie selbst die israelische
Linke betont, immer mehr zur Hauptquelle eines neuen Antisemitismus.

Zurück zur Strategie
der arabischen Befreiungsbewegung: Der palästinensische Gegenterror ist sicher
ein Zeichen der Schwäche, weil explizit militärische Ziele kaum getroffen
werden können. Er findet aber weitgehenden Konsens, weil es keine andere
Möglichkeit gibt, die palästinensische Würde zu verteidigen. Wie sonst kann
Israel und der Welt gezeigt werden, dass man Palästinenser nicht ungestraft wie
Vieh abschlachten kann? Friedlicher und ziviler Protest ist angesichts des
Wütens der israelischen Militärmaschine sehr schwierig. Das zeigt auch das Ende
der Intifada und ihre Ersetzung durch militärische Aktionen unter Opferung des
eigenen Lebens. Schon Jean-Paul Sartre zeigte in seinem Vorwort zu Frantz
Fanons „Verdammten dieser Erde“, dass der Gegengewalt eine befreiende Wirkung
zukommt, die die Opfer des Kolonialismus und Imperialismus von Objekten der
Unterdrückung zu Subjekten der Befreiung macht.

So paradox es
klingen mag: Mit Stillhalten und sich zur Schlachtbank führen lassen, kann kein
Keil in die zionistische Bewegung getrieben werden. Ein widerstandsloses
Gewährenlassen des Zionismus würde dessen inneren Konsens und auch jenen im
Westen nur noch weiter stärken. Das zeigt die gesamte palästinensische
Leidensgeschichte und insbesondere das Scheitern des Oslo-Abkommens.

Trotz der
Schwierigkeiten mit dem Begriff „zivil“, gibt es auch in der israelischen
Gesellschaft Abstufungen zwischen militärisch und zivil. Anschläge gegen das
zivile Moment können nicht gerechtfertigt werden, doch ergibt sich ihr
Auftreten aus der Lage und der spezifischen Dynamik des Konfliktes. Wer den
Palästinensern den Zeigefinger vorhält, muss nicht nur Alternativen aufzeigen,
sondern sich auch für diese engagieren.

Von Seiten der
Araber muss neben dem äußeren politisch-militärischen Druck auf den Zionismus
auch das Angebot an die jüdischen Kolonisten in Palästina gerichtet werden, auf
Basis eines demokratischen antiimperialistischen binationalen Staates zu
verbleiben – natürlich unter der Voraussetzung des Bruchs mit dem Zionismus.
Das befindet sich explizit in der Charta der PLO, implizit aber auch im
politischen Islam, der ebenfalls zwischen Juden, denen ein gesicherter Status
zuerkannt wird, und Zionisten unterscheidet. Im Übrigen darf niemals vergessen
werden, dass die islamische Welt vor dem Zionismus als Zufluchtsort für
verfolgte europäischen Juden diente!

Ein religiöser
Konflikt?

Terrorismus und
Islam werden immer in einem Atemzug genannt. In der medialen Darstellung und
der entsprechenden öffentlichen Wahrnehmung, ja selbst in den Schablonen der
Linken, handelt es sich um einen religiösen Konflikt. Denn der Islam sei eine
barbarische, grausame und kriegerische Religion. Sie predige den Dschihad, den
heiligen Krieg gegen den Westen und seine Werte von Demokratie und Freiheit.
Und auf einmal scheint es, als würden die Eliten die Frauenrechte entdecken,
die der Islam so zu missachten scheint.

Der Hinweis, dass
es in Palästina und in weiten Teilen der arabischen Welt auch Christen gibt,
die für Jahrzehnte oft die Speerspitze der nationalen Bewegungen stellten, ist
nur ein Mosaikstein. Auch heute gibt es beispielsweise eine Kooperation
zwischen der Hamas und der linken Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP),
deren Führung christliche Wurzeln hat.

Die
Unterstellung, dass es sich um einen religiösen Konflikt handeln würde,
impliziert, dass dieser irrational sei und nicht vernünftig gelöst werden
könne.

Die religiöse
Ausdrucksweise vernebelt die Sicht auf den Kern – oder dient zuweilen auch als
Vorwand für jene, die nicht sehen wollen. Denn im Grunde handelt es sich
weiterhin um einen kolonialen Konflikt, dessen Zentrum Palästina ist, der
jedoch die ganze arabische Welt betrifft. Der arabische Widerstand gegen
Israel, die USA und den Westen ist und bleibt in der Substanz eine nationale
Befreiungsbewegung.

Lange Zeit war
diese Befreiungsbewegung auch von linken, säkular-nationalistischen Bewegungen
geführt. Deren Scheitern, das mit der Implosion der Sowjetunion besiegelt
wurde, stürzte diese aber in eine tiefe Krise. Das Vakuum wurde von einem sich
politisierenden Islam aufgefüllt, der sich von einer konservativen
prowestlichen Haltung immer mehr zum Antiimperialismus hinentwickelte.

Genau an diesem
Punkt stoßen sich die Zivilgesellschaft und das kritische Bewusstsein in
Europa. Sie halten Religion für prinzipiell reaktionär und konservativ, der
niemals eine befreiende Rolle zukommen kann. Sie bleiben einem dogmatischen
Säkularismus verbunden, dem der Feind abhanden gekommen ist. Im Kampf gegen
potemkinsche Dörfer des Klerikalismus riskieren sie auf der Seite der neuen
aufgeklärten Herrschenden zu stehen.

Tatsächlich
entstand die säkularisierende Aufklärung gegen die Kirche, die eines der
Bollwerke des Feudalismus darstellte. Doch zweihundert Jahre Kapitalismus und
Klassenkampf hat die Form der Herrschaft völlig verändert. Sie ist in Europa
durchgängig säkular, die Kirche ist nur mehr eine Randerscheinung, derer die
Herrschaft nicht mehr bedarf. Im Gegenteil, was den Nahost-Konflikt betrifft,
nimmt der Vatikan Positionen ein, die mit der Antiglobalisierungsbewegung
durchaus konkurrieren können und zuweilen diese in der Haltung gegen den
amerikanischen Krieg sogar übertreffen.

In der
islamischen Welt, die nur mit Einschränkungen über einen Kamm geschoren werden
kann, zeigte sich anfangs ebenfalls die konservative Rolle der religiösen
Institutionen, die den Befreiungskampf hemmten und zur Kooperation mit dem
Imperialismus tendierten. Doch die kapitalistisch-imperialistische
Durchdringung sowie der heftige Widerstand dagegen haben die Verhältnisse grundlegend
gewandelt.

Die
positivistisch inspirierte nationalistische Linke ist mit ihrem dem Westen
nachempfundenen Entwicklungsmodell gescheitert. In dem Maße, in dem der
politische Klassenantagonismus in der westlichen Gesellschaft ausklang und die
Befreiungsbewegungen ihre Bündnispartner verloren, wurde der Westen
verständlicherweise en bloc zum Feind. Auch Ideologien westlicher Provenienz
verloren an Anziehungskraft. Noch mehr, die europäische Aufklärung, am Beginn
der Befreiungsbewegung durchwegs als Instrument verstanden und willkommen
geheißen, wandelte sich immer mehr zu einem Werkzeug im Interesse des
westlichen Imperialismus und seiner angeblichen zivilisatorischen Mission. So
entstand der Islam als kulturelles Gegenmodell, als neue nationale Identität.

Natürlich fließt
da ein religiöser Aspekt ein, werden auch oft konservative kulturelle Ideen mit
eingeflochten, doch im Wesentlichen ist es ein neues, modernes Phänomen. Es ist
kein Ersatz für die nationale Befreiung, sondern ihre neue Ausgestaltung. Es
ist vor allem eine kulturelle Identität, die Eigenständigkeit gegen die
Unterdrücker gibt. Darum hat der Imperialismus den Islam in Nachfolge des
Kommunismus auch zum neuen Hauptfeind erkoren und ihm den Krieg der Kulturen
erklärt. Der Islam hat seinerseits den Fehdehandschuh aufgenommen.

Die engeren
politischen Vorstellungen dieser islamischen Neuerstehung sind indes äußerst
vage. Der Koran selbst, der ja die zentrale theologische Referenz darstellt,
gibt keine Antworten. So sind der modernen und sich verändernden Interpretation
Tür und Tor geöffnet, abhängig von der gesellschaftlichen Umgebung.

Die
Reislamisierung auf gänzlich neuer Grundlage mag ein Bruch sein. Doch es gibt
eine dahinterliegende Kontinuität, die nur all zu oft ausgeblendet wird, nämlich
die imperialistische Unterwerfung. Trotz aller Schwankungen bleibt der
Widerstand gegen diese das die Situation prägende und dominierende Moment. Und
hier bestätigt sich auch eine alte marxistische Idee: die herrschenden
kapitalistischen Eliten, so sehr sie sich auch islamisch verkleiden mögen,
tendieren zur Kooperation mit dem Imperialismus, während die verarmten und
entrechteten Massen den Widerstand speisen. So konservativ ihre kulturellen
Vorstellungen auch sein mögen, werden sie in den Kampf gegen den Imperialismus
gerissen, engagieren sie sich politisch, öffnen sich die Tore zur Veränderung,
auch ihrer kulturellen Vorstellungen.

Die starren
Kategorien müssen fallen, Tatsache ist,
dass der antiimperialistische Kampf der Ausdruck des gegenwärtigen
Hauptwiderspruchs der kapitalistischen Gesellschaft ist. Der Antiimperialismus
ist der Motor des Antikapitalismus. Die Emanzipation muss aus diesem Kampf
heraus entwickelt werden, denn einen anderen gibt es nicht.

Es geht also
darum den „säkularistischen Fundamentalismus“ zu überwinden, der im Islam
ausschließlich ein Herrschaftsinstrument sieht. Ganz im Gegenteil muss sein
antiimperialistisches, die gegenwärtige kapitalistisch-imperialistische
Herrschaft bedrohendes Potential genutzt, gelenkt und entwickelt werden. Das,
nicht nur um die kapitalistischen Oligarchien zu stürzen, sondern auch um die
Grundlagen für einen neuen Sozialismus zu legen. Dieser muss sich aber von den
von der Linken mitgeträumten Vorstellungen von einer globalen, vom Westen bestimmten
kulturellen Homogenisierung trennen. Der Islam als Kultur und Religion muss mit
dem Sozialismus vereinbar werden. Was niemals mit der menschlichen Emanzipation
vereinbar sein wird, ist hingegen die Herrschaft von privilegierten Eliten,
egal ob mit islamischem oder westlichem Gesicht. Diese sind auf die eine oder
andere Weise mit dem kapitalistischen System verbunden oder führen zu einem
solchen, gegen die Interessen der Mehrheit.

Willi Langthaler

1. August 2006

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