Imperiale Offensive zur Neuordnung des Nahen Ostens
Die vergangenen beiden Monate haben den Nahen Osten in eine der größten Krisen seit Jahren verwickelt: Israels militärische Aggression gegen die palästinensischen Gebiete sowie vor allem der darauf folgende Angriffskrieg gegen den Libanon haben nicht nur unsägliches Leid über die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten gebracht, sondern auch die politische Anspannung in höchsten Kreisen der Weltpolitik sichtbar gemacht. Es geht offenkundig darum, die Neuordnung des Nahen Ostens nach US-imperialen Wünschen in einer großangelegten Offensive weiter voranzutreiben.
Die Entführung eines israelischen Soldaten im Juni durch Kräfte des palästinensischen Volkswiderstandes diente der israelischen Regierung als willkommener Vorwand um in den palästinensischen Gebieten, vor allem im Gazastreifen, eine massive Militäroperation zu starten, der Dutzende von Zivilisten zum Opfer fielen und die verheerende Zerstörungen an der Infrastruktur mit sich brachte. Das Leben im Gazastreifen wurde durch diese Operation praktisch unmöglich gemacht: Die Versorgung mit Wasser, Strom, Lebensmitteln und Medikamente ist äußerst prekär, wenn nicht überhaupt unterbunden.
Die Zerstörung der Infrastruktur dient ganz offensichtlich dem zynischen Ziel, der Bevölkerung die physische Lebensgrundlage zu entziehen und sie dadurch mürbe zu machen. Dies stellt eine Teilstrategie zur Erreichung des Hauptzieles dar, das zweifellos darin liegt, die Hamas außer Gefecht zu setzen, einerseits indem ihr politisch der Boden der Unterstützung durch die Bevölkerung entzogen werden, andererseits indem ihre politischen und militärischen Führer physisch liquidiert und ihre Infrastruktur vollkommen zerstört werden soll. Kalkül der israelischen Regierung ist, dass sich die palästinensische Bevölkerung durch diesen tagtäglichen Terror wieder einem politischen Subjekt zuwendet, das bereit ist, den Widerstand aufzugeben und sich den politischen Bedingungen Israels unterzuordnen. Diese Linie wird deutlich von Mahmud Abbas und seiner Partei, der Fatah, verkörpert.
Bereits die Vorgeschichte zur jüngsten Aggression gegen das palästinensische Volk zeigt eine Verschiebung vor allem der europäischen Politik, die in höchstem Maße Besorgnis erregend ist. Über Jahre hinweg wurden vom Westen demokratische Wahlen in Palästina gefordert, mit dem Argument, nur mit einem „demokratisch legitimierten“ Verhandlungspartner käme eine Verhandlungslösung in Frage. Nun sind die Parlamentswahlen vom Januar 2006 auch nach Meinung westlicher Beobachter mit Sicherheit demokratische Wahlen gewesen, soweit dies unter Bedingungen militärischer Besatzung überhaupt möglich ist. Das Ergebnis, der Wahlsieg der Hamas, drückt den politischen Willen des palästinensischen Volkes aus, sich durch jene politische Kraft vertreten zu sehen, die den Widerstand aufrecht erhalten will. Da dieses Wahlresultat dem Westen und auch der EU politisch nicht genehm ist, wird der eigenen jahrelangen Forderung nicht Genüge getan, das Wahlergebnis nicht anerkannt und die palästinensische Bevölkerung durch Vorenthaltung versprochener Finanzmittel bestraft.
Diese höchst zynische Haltung der EU zeigt ihre zunehmende politische Unterordnung unter die USA – eine Haltung, die während der Militäroffensive im Gazastreifen und zuletzt im Krieg gegen den Libanon noch deutlicher wurde. Eine wesentliche Rolle spielen dabei auch die westlichen Medien, die immer weniger darum bemüht sind, die Ereignisse in ihrem Zusammenhang und ihrer Gesamtheit darzustellen. Während jahrelang die palästinensische Strategie in ihrem verzweifelten Widerstandskampf israelische Zivilisten anzugreifen, angeprangert wurde, hat der gelungene Versuch, den israelischen Streitkräften direkt einen Schlag zu versetzen, einen noch lauteren Schrei der Empörung in den westlichen Medien hervorgerufen. Einzig besorgt um das Leben des israelischen Soldaten, wurde kaum bis gar nicht erwähnt, dass tausende von Palästinenserinnen und Palästinensern, unter ihnen zahlreiche Jugendliche, in israelischen Gefängnissen sitzen, viele von ihnen ohne Anklage oder Verurteilung.
Auch die Hizbullah hatte ihre Gründe, als sie die beiden israelischen Soldaten gefangen nahm. Einerseits ist die Besatzung des Libanons durch die israelische Armee nach wie vor nicht vollständig beendet, andererseits findet an der Grenze zwischen Libanon und Israel seit dem Abzug der israelischen Truppen im Jahr 2000 ein ständiger Kleinkrieg statt, in dem die Hizbullah die schiitische Bevölkerung gegen israelische Angriffe verteidigt.
Auch hier nahm Israel die zugefügte Demütigung zum Anlass um mit dem Störenfried Schluss zu machen und den Libanon ein für alle mal in die gewünschte Architektur befriedeter und untergeordneter Regime im Nahen Osten einzufügen. Das Mittel sind auch hier massive Zerstörungen der gesamten Infrastruktur des Landes, hunderte von Toten und Tausende von Verletzten und vor allem die Vertreibung fast der gesamten Zivilbevölkerung aus dem Südlibanon.
Dennoch ist es nach einigen Wochen des Krieges offensichtlich, dass es Israel nicht gelingen wird die Hizbullah zu zerstören, weder physisch noch politisch. Zu stark sind ihre Wurzeln unter den Schiiten des Libanon und zu sehr stehen auch die anderen Bevölkerungsteile hinter dem Widerstand gegen den israelischen Krieg.
Deutlicher als bei der israelischen Aggression im Gazastreifen zeigt sich im Libanonkrieg die US-Politik als Drahtzieher bzw. Nutznießer der Vorgänge. Deutlicher als im Gazastreifen greift die US-Diplomatie ein, gibt der israelischen Regierung grünes Licht für die Fortsetzung ihres Zerstörungswerkes, Verhindert die Verurteilung der israelischen Offensive durch die UNO und die so genannte internationale Gemeinschaft, boykottiert jeden Schritt in Richtung Waffenstillstand und übt Druck aus, um die Sympathien der Bevölkerung im Westen einzig und allein hinter Israel zu vereinigen. So offensichtlich sind die Interessen der US-Regierung, dass selbst die Hizbullah sich bemüßigt fühlt, davon zu sprechen, dass Israel durch die USA vor sich her getrieben, wenn nicht gar benützt würde.
Das mag übertrieben sein, dennoch ist deutlich, dass die USA den Krieg nützen möchten um ihr imperiales Projekt im Nahen Osten voranzutreiben. Dabei erweist sich die Neutralisierung der Hizbullah nur als ein kleiner Baustein auf dem Weg zur Niederringung größerer Feinde, nämlich Syrien und Iran. US-Außenministerin Rice wird nicht müde, auf die Verantwortung Syriens und des Iran hinzuweisen und die Hizbullah als Handlangerin der beiden Länder darzustellen.
Dieser analytische Fehler – die Hizbullah ist eine authentisch gewachsene Widerstandsbewegung der schiitischen Bevölkerung des Libanon, mit tiefen Wurzeln und beträchtlicher Eigenständigkeit gegenüber ihren syrischen und iranischen Verbündeten – mag der Kriegspropaganda geschuldet sein. Er weist aber darauf hin, dass sich das US-amerikanische Projekt nicht so leicht umsetzen lassen wird, im Gegenteil Gefahr läuft, neben dem Irak und Palästina einen weiteren offenen Widerstandsherd im Libanon zu schaffen. Ein „regime change“ in Syrien, der wahrscheinlich relativ leicht zu bewerkstelligen wäre, würde das Risiko einer Machtübernahme islamischer Kräfte in sich bergen. Während ein Regimewechsel im Iran sich derzeit nicht so einfach darstellt, würde ein richtig gehender Krieg diese Weltregion tatsächlich in einen Brandherd verwandeln und einen möglicherweise unkontrollierbaren Flächenbrand auslösen. Daher setzen die USA weiterhin auf eine Taktik der enger werdenden Belagerung der beiden „Schurkenstaaten“ – die Lücke des Libanon im Belagerungsring versuchen sie derzeit zu schließen.
Um den Preis einer humanitären Katastrophe unter der libanesischen Zivilbevölkerung bedeutet der anhaltende Widerstand der Hizbullah jedoch für das politische Erleben der arabischen Massen einen Hoffnungsschimmer. Wenn mit jedem Tag deutlicher wird, dass die westliche Propaganda von einem schnellen Ausräumen der Widerstandsnester nichts mit der Realität zu tun, im Gegenteil, die israelische Armee schwere Verluste hinnehmen muss, so heißt das für die unterdrückten arabischen Völker ihren eigenen Kampf wieder ein Stückchen aufflammen zu sehen. Der Angriffskrieg Israels verstärkt die Frontstellung der arabischen Völker gegenüber Israel und die USA, er zerstört die lang gehegte Illusion in eine möglicherweise freundlicher gesinnte Haltung der EU und stachelt ihren Widerstandsgeist an. Anstatt die Region zu befrieden, erhöht die Kriegspolitik der USA und Israels die mancherorts offenen, immer mehr jedoch auch latente Bereitschaft, den Kampf gegen den Westen aufzunehmen.
Wie bereits in Palästina sichtbar, stellt die Haltung der EU zum Krieg Israels gegen den Libanon ihre vollkommene Unterordnung unter die USA außer Zweifel. Kaum vorstellbar scheint es, dass noch vor wenigen Jahren die europäischen Staaten eine eigene Politik im Nahen Osten verfolgten, die den imperialen Interessen der USA zuweilen auch zuwider lief.
Deutlich wird aber auch eine Verschiebung der Wahrnehmung unter der Bevölkerung der westlichen Staaten. Während die humanitäre Katastrophe beklagt, die Unverhältnismäßigkeit Israels angeprangert und insgesamt der Krieg verurteilt wird, gibt es dennoch eine wachsende Zustimmung zur vermeintlichen Unantastbarkeit Israels, die von den Medien, der Regierungspolitik und der intensiven Intervention Israel untergeordneter Kulturinstitutionen immer stärker gefordert wird. Die Keule des Antisemitismus – marginal noch zu Zeiten des israelischen Angriffs auf den Libanon in den 1980er Jahren – hat inzwischen vor allem in den Mittelschichten Massenwirksamkeit und steht einer dringend notwendigen Solidarisierung mit dem arabischen Widerstand grundsätzlich im Wege. Während noch vor einigen Jahren in der öffentlichen Meinung ein klares Verständnis darüber herrschte, dass die Nazi-Verbrechen an den Juden bedingungslos zu verurteilen sind, dies allerdings nichts mit der Beurteilung der aktuellen Politik des israelischen Staates zu tun habe, im Gegenteil, wer damals Verfolgte verteidigte, das auch heute wieder tun müsse – so hat die Erpressung der öffentlichen Meinung durch den Antisemitismus-Vorwurf heute immer größeren Erfolg.
Eine Veränderung dieses Stimmungsbildes im Westen mag durch die Bombardierung des UN-Beobachterpostens der israelischen Armee in Gang gekommen sein, welche die Herrenmenschen-Arroganz der israelischen Unantastbarkeit zum Greifen deutlich gemacht hat.
Während also eine unmittelbare Durchsetzung der imperialen Pläne im Nahen Osten dank des Widerstandes der arabischen Massen derzeit unwahrscheinlich scheint, so zeichnet sich dennoch Besorgnis erregend ab, dass die Frontstellung des Westens gegen die arabischen und islamischen Massen immer unnachgiebiger und vor allem immer geschlossener wird und dass es den westlichen Regierungen zunehmend gelingen könnte, ihre Bevölkerungen mit in das Boot des Terrorkrieges, des Kampfes der Kulturen zu holen.
Hier liegt eine der Hauptaufgaben der antiimperialistischen und Solidaritätsbewegungen im Westen: Dieser Tendenz Einhalt zu gebieten, den drohenden Konsens mit der US-amerikanischen Terrorpolitik zu durchbrechen und im Gegenteil eine Solidarisierung mit den legitimen Widerstandsbestrebungen der arabischen Völker zu erreichen.
Margarethe Berger
31. Juli 2006
Margarethe Berger ist Mitglied der Intifada-Redaktion.