Die Stadt Nablus im sechsten Jahr der Intifada
„Yes, thanks for the music!“, sagt Mohammed,
als in der Nähe eine Gewehrsalve abgefeuert wird. Nablus liegt nicht im Irak,
nicht im Gazastreifen und auch nicht im Libanon; Nablus liegt im Herzen der
besetzten Palästinensischen Gebiete, der Westbank. Die israelische Armee kommt
fast täglich in unterschiedlichen Formationen in die Stadt, um Leute zu
verhaften oder gezielte Tötungen vorzunehmen. Aber auch bewaffnete Milizen der
einzelnen Parteien probieren ihre Waffen aus. Nablus ist eine Stadt, die gegen
die israelische Besatzung kämpft und gegen ihren eigenen Untergang.
Seit dem Beginn der zweiten Intifada umgibt
Nablus ein Ring israelischer Kontrollposten, die sich auf den Bergen postieren
und die Stadt umschließen. Es existieren zwei Zufahrtsstraßen, die ebenfalls
von Soldaten „gesichert“ werden. Die Stadt ist heute ein riesiges
Freiluftgefängnis, das sich in unterschiedliche Zonen aufteilt. Die Altstadt,
die drei Flüchtlingslager und einige „ruhigere“ Viertel. Die Flüchtlingslager
Balata und Al Askar sind die beiden größten Lager in der Westbank.
Im Balata Camp wohnen mehr als 22.000
Menschen. Die Hälfte von ihnen ist unter 15 Jahren. Da immer mehr Menschen auf
engem Raum zusammenleben, werden die Häuser immer höher, die Freiräume immer
kleiner. Das Lager ist eng, die Bausubstanz der Häuser ein Alptraum und
mittendrin spielen die Kinder. „Ich glaube es bräuchte Jahre von intensiver
Betreuung, damit die Kinder fähig sind ein normales Leben führen.“ sagt ein
Freund, der uns durch das Lager führt, in dem er zu Hause ist. Er sagt das,
weil wir an jeder Ecke Kinder treffen, die in ihren Spielen das zeigen, was sie
gesehen haben. Alle haben sich Waffen gebaut oder spielen mit Plastikpistolen,
aus leeren Kartons und Strippe haben sie sich kugelsichere Westen gebastelt.
Für den Fotografen, der uns begleitet posieren sie in Märtyrermanier.
Noch vor sechs Jahren konnte jeder
Palästinenser nach Israel fahren und viele Israelis kamen zwecks Shopping in
die Westbank. Wer sich an diese Zeit erinnern kann, weiß, daß Israelis und
Palästinenser miteinander leben konnten. Natürlich nicht ohne Konflikte, aber
sie standen immerhin miteinander in Kontakt. Viele Kinder in Nablus rufen nun
jedem, der fremd aussieht, das Wort „Schalom“ zu. Wer anders ist – ist Israeli,
ist ein Soldat. Eine Generation wächst heran, welche die Israelis
ausschließlich als Besatzer kennt, die ihnen ein normales Leben unmöglich
machen.
Nablus, eine der schönsten Städte des Nahen
Ostens, galt als wirtschaftliches Zentrum der Westbank. Das ehemalige
Handelszentrum ist durch die Okkupation an einem totalen Tiefpunkt angelangt,
dementsprechend gereizt, zermürbt, gequält wirken einige Gesichter. Nach 20 Uhr
ist, abgesehen von den Schüssen, kein Laut mehr zu hören. Für Außenstehende ist
es schwer nachvollziehbar, wie das Leben hier funktioniert.
„Die Frauen verkaufen ihren Schmuck. Die
Leute nehmen Kredite auf. Sie verkaufen ihr Land an Reiche. Einige bekommen
Hilfe von Verwandten.“, erklärt Mohammed. Er möchte raus aus der Westbank und
möglichst nie wieder zurückkehren, denn er will nicht zu jenen Akademikern
gehören, die ihr Geld mit Taxifahren verdienen.
Mohammed ist einer von derzeit 13.000 StudentInnen an der
palästinensischen Universität Al Najah. Die Universität ist Palästina im
Kleinformat. Zum neuen Semester, das Ende August beginnt, haben 9.000 der
Studenten ein Darlehen für ihre Studiengebühren (umgerechnet 550 Euro pro
Semester) bei der Universität beantragt. Es sind mehr als je zuvor.
Ala, Sprecher des Public Relations Department der
Universität, erklärt die Bedeutung der Besatzung für die Menschen so: „Wir
kämpfen um das Recht auf Bildung, das uns durch die Besatzer verwehrt wird. Die
Leute haben kein Geld und können die Kosten für die Ausbildung der Kinder nicht
mehr bezahlen.“ Und er fügt hinzu: „Seit Beginn des Aufstandes sind 52 unserer
Studenten durch das israelische Militär getötet worden.“
Jede Partei hat ihre eigene Jugendorganisation oder
Vertretung an der Universität.
An den Wänden ihrer Büros hängen diverse
Märtyrerplakate. Mohammed zeigt auf eines der Bilder, das drei junge Männer
zeigt, die Mitglieder der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas), waren.
„Die Israelis haben ihn und die zwei anderen aufgespürt und das Haus, in dem
sie sich befanden, zerstört, als die drei noch im Gebäude waren. Sie sind die
besten.“ Mohammed ist gegen militante Aktionen: „In der ersten Intifada haben
sie mit Worten und Steinen viel mehr erreicht.“ , sagt er, „… am Ende
entstand die Autonomiebehörde, aber in dieser Intifada haben wir nichts
gewonnen, sondern nur verloren.“
Die kleinen Büros der Jugendorganisationen
und Vertretungen der PFLP, der DFLP (Demokratische Front zur Befreiung
Palästinas), der Fatah, des Islamischen Jihads und der PPP (Palestinian
People’s Party) sind alle in einem Flur untergebracht. Die Hamas hat einen
separaten, größeren Raum. Sie alle verbinde der Kampf gegen die Besatzer, wird
uns von ihnen immer wieder erklärt.
Nach dem Wahlsieg der Hamas bei den letzten
Parlamentswahlen fehlen die Hilfszahlungen der Europäischen Union. Die
Palästinensische Autonomiebehörde hat seit mehr als sechs Monaten keine
Gehälter mehr gezahlt. Davon betroffen sind neben den Politikern und
Verwaltungsbeamten auch Angestellte von Schulen und Krankenhäusern. „Die
Europäer und Amerikaner haben uns zu dieser Wahl gedrängt – nun paßt ihnen das
Ergebnis nicht. Aber die Wahl war fair und demokratisch. Von den Europäern
haben wir nicht gedacht, daß sie uns fallen lassen.“, sagt ein weiterer
Student.
In der Zeit vom 19. bis 22. Juli 2006 hat
die israelische Armee die Mukata, das Hauptquartier der Palästinensischen
Autonomiebehörde in Nablus, mit Bulldozern und Bomben zerstört. Drei
Palästinenser wurden getötet und 23 weitere verhaftet. Zerstört wurden eine
Ausbildungsstätte der palästinensischen Polizei und ein Teil der
Zivilverwaltung, die u.a. Pässe ausstellt. Zahllose Dokumente und Akten wurden
vernichtet. Der Besitz von Dokumenten, in denen Geburts- und Wohnort vermerkt
sind, ist die erste Bedingung, um Nablus überhaupt verlassen zu können. Für die
Beantragung neuer Dokumente oder die Registrierung eines Neugeborenen müssen
die Menschen nun nach Ramallah. Die meisten von ihnen benötigen jedoch einen
Genehmigung, um Nablus verlassen zu können. Ohne Zivilverwaltung gibt es aber
keine Reisedokumente! Für Männer im Alter von 16 – 35 Jahren, die ihren
Wohnsitz in Nablus haben, ist es nahezu unmöglich, eine Ausreisegenehmigung zu
erhalten. Gegen sie besteht seitens der Israelis ein Generalverdacht. Nablus
inklusive der drei Flüchtlingslager gilt als Hochburg des Widerstands. Im
israelischen Jargon wohnen hier also ausschließlich Terroristen. Die 130.000
Insassen dieses Freiluftgefängnisses sprechen am Ende des sechsten Jahres der
Intifada von Armut und Arbeitslosigkeit. Nebenbei bereitet man sich auf etwas
vor, das als allgegenwärtige Bedrohung in der Stadt zu spüren ist: „Wir
erwarten jeden Tag, eine größere Invasion, für den Fall, daß sich die Lage im
Libanon normalisiert. Sie werden sicherlich versuchen, die Altstadt zu besetzen
und Ausgangssperren verhängen. Damit muß man eben rechnen.“
Evamaria
Haupt, Nablus
Evamaria Haupt ist Studentin aus Deutschland und hat im August 2006 das Westjordanland bereist.