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Der irakische Widerstand vor den Trümmern von 1300 Jahren sunnitischer Herrschaft

22. Oktober 2006

Überlegungen zur
Lösung des schiitisch-sunnitischen Konflikt

Artikel erscheint in Bruchlinien – Zeitschrift für eine neue revolutionäre Orientierung

Der Irak ist kein
„normales“ arabisches Land. Damit soll nicht auf die Schiiten oder Kurden
angespielt werden, denn religiöse oder nationale Minderheiten gibt es in fast
jedem arabischen Land. Vielmehr ist es die Nachbarschaft zum Iran, der nicht
nur eine starke Regionalmacht darstellt, sondern eine eigene Jahrtausende alte
Zivilisation repräsentiert, die unzweifelhaft in Konkurrenz zum Arabertum und
dem von ihm hervorgebrachten sunnitischen Islam steht.

Historische
Bruchlinien

Einst selbst das
glänzende Zentrum des Islam und als solches Synthese der arabischen und
persischen Kultur, sank das Zweistromland im letzten Jahrtausend zu einem
ständig umkämpften Grenzgebiet zwischen Arabien und Persien herab. Die
Herrschaft verblieb zwar immer in der Hand der sunnitischen Eliten – eine
Formel, die auch der britische Kolonialismus nach einem am Schiitenaufstand
gescheiterten Versuch der „direct rule“ zu übernehmen sich gezwungen sah. Doch der
starke schiitische Bevölkerungsanteil wurde immer als Störfaktor begriffen, denn
deren politische Loyalität gehörte vor allem dem lokal ansässigen persischen
Klerus. Selbst die sich zum Schiitismus bekennende persische Monarchie hatte
von Anfang an ihre liebe Not mit dem schiitischen Klerus, der mehr als die
katholische Kirche ein eigenes politisches Machtzentrum darstellt. So kann man
sich erst die Schwierigkeiten der sunnitischen Macht in Bagdad vorstellen.

Nicht umsonst
gewannen Kassem und die irakische KP, die 1958 gemeinsam das koloniale Regime
stürzten, die breite Unterstützung der schiitischen Armut, weil sie sich dem damals
im rasanten Aufstieg befindlichen arabischen Nationalismus widersetzten. Ihre
Formel war im Gegensatz dazu ein explizit irakischer Nationalismus, der eine
äquidistante Haltung sowohl gegenüber dem arabisch-sunnitischen als auch dem
persisch-schiitischen Machtzentrum erlaubte. Zwar war die KP absolut antikonfessionalistisch,
dennoch kann es nicht als Zufall bezeichnet werden, dass sie ihre Massenbasis
unter den Schiiten der subalternen Klassen fand.

Auch Baath war
zweifelsohne eine antikonfessionalistische Partei. Ihre Ursprünge in Syrien
zeigen, dass gerade unter Christen und Alawiten stark war. Doch ihre dezidiert
panarabische Ausrichtung brachte ihr vor allem unter den irakischen Sunniten
eine breite Anhängerschaft.


Den imperialistischen
Tiger für seine Zwecke reiten

Gegen die
Kassem-KP-Koalition kooperierte die Baath-Partei mit den USA. Doch daraus kann
keineswegs abgeleitet werden, dass es sich bei ihr um eine Marionette Washingtons
handelte, andernfalls bliebe die weitere Historie unerklärlich. Auch die
oftmals versuchte Erklärung mittels des vermeintlich bürgerlichen
Klassencharakters der Baath scheint eher eine Vergewaltigung durch starre
Kategorien, die im Widerspruch zu den der radikalen Verstaatlichung des Erdöls
steht. Tatsächlich versuchte Baath die USA als Mittel gegen einen als noch
gefährlicher erscheinenden Feind, nämlich die pro-iranische Kräfte, zu
instrumentalisieren. Dies sollte nicht der einzige ähnlich geartete Versuch
bleiben. Aber auch die schiitische Gegenseite glaubt die USA für ihre Causa vor
den Karren spannen zu können.

Die 70er Jahre
waren in jeder Hinsicht das goldene Jahrzehnt des modernen Irak. Die
Verstaatlichung der Erdölressourcen führte zu einer Verteilung des bisher
unbekannten Reichtums unter allen Schichten, auch den ärmsten. Diese Maßnahme stärke die Unterstützung für
Baath auch unter den Schiiten massiv, nicht nur das Bündnis zwischen Baath und
der KP. Das ging so weit, dass Baath der KP nicht mehr zu bedürfen glaubte, sie
in die Wüste schickte und mit dem Erzfeind Iran ein Abkommen schloss, hinter
dem Washington steckte. Über die gemeinsame Ablehnung des kurdischen
Selbstbestimmungsrechts erzielte man Mitte der 70er Jahre den Ausgleich. Für
Saddam waren damit der Druck seitens der USA gedämpft und der Schah
neutralisiert, denn politische Anziehungskraft unter den irakischen Schiiten
hatte so gut wie keine.

Mit der
islamischen Revolution im Iran ging der historische Konflikt in eine neue
Runde. Zwar war der Irak eindeutig der Aggressor, der einerseits sich die
momentane Schwäche Teherans zu nutze machen und andererseits präventiv gegen
den befürchteten Einfluss des schiitischen politischen Islam vorgehen wollte.
Der weitere Kriegsverlauf zeigte indes, dass auch der Iran nicht vor
expansionistischen Motiven gefeit war. Beide Seiten hielten sich für besonders
schlau sich von den USA unterstützen zu lassen, der Irak über den Golf und der
Iran über Israel. Der lachende Dritte waren die USA selbst, die auf den
historischen Gegensatz die geniale Doktrin des „dual containment“, der
doppelten Eindämmung bauten. Ihre Hauptfeinde in der Region bluteten sich
gegenseitig aus. Doch im Gegensatz zu den jeweiligen Beschuldigungen war keine
der beiden Seiten eine Marionette der USA. Allein, die Gegnerschaft zum
regionalen Feind war größer als jene zum Imperialismus, der dies für seine globalen
Ziele geschickt zu nutzen wusste.

Zwar konnte sich
Baath im Irak letztlich halten und auch die arabischen Schiiten gegen einen
anfangs propagandistisch heraufbeschworenen später aber durchaus realen
persischen Expansionismus bei der Stange halten, doch der zu zahlende
politische Preis war hoch, nämlich der vollkommene Hegemonieverlust und der Aufstieg
des politischen Islam zur dominanten politischen Kraft unter den irakischen
Schiiten. Der Hass, der bis heute Baath entgegenschlägt, auch als wesentliche
Komponente des Widerstands gegen die auch von den Schiiten nicht erwünschte
US-Besatzung, liegt in dieser Vorgeschichte verschlossen.

Nun seinerseits
beim Tigerritt an der Reihe: der schiitische politische Islam

Als die USA die
Baath-Regierung 2003 stürzten, setzten sie auf ein für den Irak als auch für
ihre Außenpolitik revolutionäres Konzept, nämlich eine Herrschaft gestützt auf
den schiitischen politischen Islam. Sie selbst hatten sich davor lange Zeit
gescheut und ihre traditionelle Doktrin hatte die Baath-Herrschaft immer als
das kleinere Übel gegenüber den proiranischen Kräften angesehen. Daher ließen
sie Saddam 1991 bei der Niederschlagung des Schiitenaufstandes gewähren. Doch
die Neocons erklärten den Sturz des Baath-Regimes zum Startschuss ihrer
Amerikanischen Reiches. In ihrer Hybris schlugen sie nicht nur die Erwägungen
ihrer Vorgänger in Washington, sondern auch die Kolonialerfahrungen der Briten
in den Wind.

Ergebnis ist
genau das von Bush senior & Co Befürchtete, nämlich die Ausdehnung der
Macht Teherans über weite Teile des Iraks. Die Tatsache, dass die Vertreter des
schiitischen politischen Islam mit den Bajonetten der Besatzung an die Macht
gelangten, darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie keineswegs
Marionetten der USA sind. Jene direkten Handlanger wie Chalabi und Allawi
konnten in der Bevölkerung einfach nicht Fuß fassen.

Auch wenn der
Widerstand den heute herrschenden Block als Kollaborateure bezeichnet – und
damit sogar Recht hat – werden sie von der schiitischen Bevölkerung nicht als
solche empfunden. Denn weder die breiten schiitischen Massen noch ihre Parteien
sind für die Besatzung, die nur als vorübergehendes Mittel zum Zweck, nämlich
die sunnitische Baath-Herrschaft loszuwerden, verstanden werden. Die Loyalität
des neuen Regimes gilt in unterschiedlichem Ausmaß und über verschiedene
Vermittlungen dem Iran bzw. dem schiitischen Klerus. Die Badr-Milizen und der
„Hohe Rat der Islamischen Revolution“ (SCIRI) sind direkt dem iranischen Staat
und Militär verpflichtet. Den anderen Pol stellt die Bewegung von Muqtada
as-Sadr, der die Besatzung verbal angreift, den arabischen Charakter des Irak
und seine Einheit betont und mehr auf die radikalen Tendenzen des schiitischen
politischen Islam setzt. Doch über den Klerus – oder Teile von diesem – ist
auch er mit tausend Fäden an den Iran gebunden.

Mit den USA gegen
den Iran?

In ihrem
Siegestaumel proklamierten die Neocons die De-Baathisierung des Irak. Der
gesamte Staatsapparat wurde zerschlagen und seine Vertreter en masse in den
Untergrund getrieben. Die Assoziation mit der Entnazifizierung war gewollt, ist
jedoch mehr als irreführend. In Deutschland waren nur die Spitzen ausgetauscht
worden, der Rumpf des Nazi-Staates sollte in der Folge erfolgreich den
deutschen Kapitalismus im Sinne der neuen proamerikanischen Eliten verwalten.
Die amerikanische Hetzjagd gegen Baath passte dem Iran sowie dem irakischen
schiitischen politischen Islam ausgezeichnet ins Konzept. Überdies zerstörte
sich Washington so eine mögliche Alternative oder zumindest ein Gegengewicht zu
den proiranischen Kräften.

Ein Aspekt, der
das aus heutiger Sicht schwer verständliche Verhalten der USA erklärt, ist,
dass damals noch der als Reformer geltende Khatami sich in Teheran an der
Spitze befand. Bis zum Wahlsieg Ahmadinedschads hatte man in Washington auf
einen Umbruch im Iran nach osteuropäischem Vorbild, also mittels einer
Palastrevolte durch die proimperialistischen kapitalistischen Kräfte des
Regimes selbst, gehofft. Nachdem dieser Weg nun versperrt scheint, fährt Washington
eine aggressivere Linie, die jedoch die bisherige Politik im Irak, die auf die
schiitischen Kräfte setzte, auch retrospektiv desavouiert.

Aus dieser
Perspektive werden die Avancen, die die USA nun schon seit geraumer Zeit dem
Baath-Milieu machen, lesbar. Natürlich geht es dabei auch darum, dem nach wie
vor kräftigen militärischen Widerstand die Spitze abzubrechen und die
Legitimationsbasis zu entziehen. Der Wunsch nach Verhandlungen seitens der
Besatzer kann legitimer Weise als Erfolg des Widerstands gewertet werden. Doch
enthält er zweifelsohne auch ein anderes Element, das an der historischen
antiiranischen Haltung der sunnitischen Eliten genauso wie jener ihrer Basis
anknüpft. Was haben die USA anzubieten? Eine substanzielle Beteiligung an dem
heutigen Regime in Bagdad unter Fortdauer der amerikanischen Militärpräsenz erscheint
nicht nur nicht als attraktiv, sondern sie ist schlicht unmöglich, denn sie
wird vom schiitischen Machtblock abgelehnt – darauf selbst Washington keinen
Einfluss hat. So mag in den Hinterköpfen sowohl der USA als auch von Baath eine
Neuauflage der Kooperation datierend vom Iran-Irak-Krieg Gestalt annehmen. Denn
genauso wie der politische Islam es nicht scheute mit den Bajonetten der USA in
Bagdad an die Macht zu gelangen, so sagt die geschichtliche Realität, dass die
sunnitischen Eliten, um ihren historischen Machtanspruch auf Bagdad wieder zu
erlangen, nicht davor zurückschrecken werden sich mit den USA gegen den Iran zu
verbünden. Es wäre jedenfalls der einfachste Weg wieder das Ruder in der Hand zu
bekommen. Gewiss, die Eliten sind nicht kongruent mit dem Widerstand, der seine
Wurzeln in den Volksmassen hat. Doch die Tatsache, dass den Eliten bisher
nichts anderes blieb als den Widerstand zu unterstützen, trug erheblich zu
dessen Schlagkraft bei. Um die USA wirklich loszuwerden und nicht nur den
Erzfeind zurückzudrängen, bleibt dem Widerstand kein anderer Weg als den
Gegensatz zu den schiitischen Massen abzubauen. Vereint wären sunnitische und schiitische
Volksmassen allemal in der Lage die USA zu schlagen, genauso wie ein
arabisch-persischen Bündnis im globalen Maßstab das Ende der amerikanischen
Kontrolle über den Mittleren Osten bedeuten würde.

Tendenz zum
Bürgerkrieg

Im Irak kann eine
Tendenz zum Bürgerkrieg nicht abgestritten werden, so sehr der Widerstand es
versucht und sich dabei selbst täuscht. Die historischen Konflikte, die im
wesentlichen politischer und nicht direkt religiöser Natur sind, nutzend, versuchten
die USA ein System von Teile-und-Herrsche zu etablieren. Dazu wurde wie anderswo ein sogenannter ethnischer
Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten konstruiert, der die jeweilige
Gruppenidentität mehr präge als die gemeinsame Zugehörigkeit zum arabischen
Irak. Anfänglich mussten den USA entsprechende sunnitisch-schiitische
Auseinandersetzungen in den Kram passen, um den Gegensatz zu zementieren. So
deutet vieles darauf hin, dass der Anschlag auf die schiitische Moschee von
Samarra aus der amerikanisch-israelischen Giftküche stammt. Denn wenn es
sunnitische Kräfte hätten gewesen sein sollen, warum wurde der Dom dann nicht
in der Zeit gesprengt als die Stadt sich völlig in der Hand des Widerstands
befand? Tatsächlich fand die Provokation später statt, als sie unter der
Kontrolle von schiitischen Milizen stand. Dass es letztere selber gewesen sein
könnten, wie viele Sympathisanten des Widerstands behaupten, kann zwar nicht
ausgeschlossen werden, mutet aber eingedenk der Tatsache, dass es sich um eines
der höchsten schiitischen Heiligtümer überhaupt handelte, doch etwas zu zynisch
an.

Doch heute ist
den USA die Kontrolle über den Konflikt eindeutig aus der Hand geglitten. Sie
kann auch am Ausmaß der Massaker kein Interesse, denn sie zerrütten das von der
Besatzung etablierte System. Der Aspekt des Teilens läuft zunehmend dem Aspekt
des Herrschens zuwider. Statt der versprochenen Stabilität befindet sich das
Land mehr denn je im Chaos und außer Kontrolle der USA. Sicher kein
überzeugendes Argument für die Herolde des Amerikanischen Reiches.

Der Konflikt hat
eine Eigendynamik gewonnen, der sich selbst jene nicht ganz entziehen können,
die die nationale Einheit beschwören. Auf der einen Seite drehen die
Todesschwadronen der proiranischen Kräfte, die das Innenministerium
kontrollieren, die Spirale. Denn ihre Jagd auf Baath färbt sich immer mehr
antisunnitisch. Auf der anderen Seite tragen die Salafiten das ihre dazu bei.
Sie behaupten zwar gegen die Handlanger der Besatzung vorzugehen, doch das sind
alles Schiiten, die den Salafiten ja generell als Apostaten gelten. Es ist kein
Zufall, dass die Salafiten heute gerade im Irak den größten Zulauf bekommen,
obwohl diese Tendenz dort über keine Tradition verfügt. Sie entspringt dem
Wunsch auf Vergeltung, nicht nur gegen die USA, sondern auch gegen die
Schiiten. Aus einem politischen Gegensatz wird zunehmend ein religiöser, der
das Potential hat auf beiden Seiten die Massen zu erfassen, selbst wenn sie
sich zu Organisationen bekennen, die für die nationale Einheit stehen. So
nehmen die amerikanischen Ethnien, die zuvor nicht existieren, langsam Gestalt
an.

Exkurs:
Fallstricke des kulturalistischen Antiimperialismus

Hier sei auch an
den internationalen Kontext des Kriegs der Kulturen verwiesen, dessen
Auswirkungen gerade auf den Irak erheblich ist. Die USA führen ihren Krieg zur
Errichtung ihres Reiches bekanntlich als Kreuzzug gegen den Islam. Europa fühlt
sich zwar mit seinem Säkularismus nicht nur dem Islam, sondern auch der
christlichen USA überlegen, was indes seiner Rolle als Juniorpartner der USA im
Krieg gegen den Islam keinen Abbruch tut. Die Reaktion auf der anderen Seite
ist spiegelbildlich. Der Islam spielt als Identität des antiimperialistischen
Widerstands eine immer größere Rolle. Doch welcher Islam? Abgesehen davon, dass
es viele mögliche Interpretationen gibt, spielt das große Schisma zwischen
Schia und Sunna bis heute eine entscheidende Rolle, auch weil sich dahinter die
alte Konkurrenz der persischen bzw. arabischen Kultur verbirgt. Wenn Kultur –
und Religion zählt zur Kultur – statt der säkularistischen Nation des
Panarabismus zum zentralen Identitätsstifter wird, dann erhalten die
Konfessionsdifferenzen plötzlich einen viel höheren Stellenwert. Trotz der
gemeinsamen Feindschaft zum Imperialismus gibt es zwischen Schia und Sunna
einen Konflikt um Hegemonie, der gerade im Grenzbereich der Einflusszonen
explosiv wird.

Das Programm für
eine Front des Widerstands

Das heißt aber
keinesfalls, dass im Irak der Zug zum Bürgerkrieg schon abgefahren wäre. Trotz
der nun nachgezeichneten komplizierten Konfliktlage
bleibt im Irak zumindest unter den Arabern die Idee der nationalen Einheit
stark. Nicht nur der Widerstand und fast alle sunnitischen Kräfte bekennen sich
dazu, sondern auch die die schiitischen Unterklassen repräsentierende Bewegung,
jene Muqtadas, tritt immer wieder dafür ein. Die von den USA oktroyierte
Verfassung mit der Dreiteilung des Landes wird auch von letzterer entschieden
abgelehnt. Das ist nicht wenig und bringt sie in Gegensatz zu ihren proiranischen
Verbündeten.

Doch die
Beschwörung der nationalen Einheit allein, oder noch schlimmer, die Leugnung
des historischen Problems, wie es im Baath-Milieu üblich ist, kann die
gegenläufige Tendenz nicht stoppen. So kann man da folgende Aussagen hören:
„Eine politische Front des Widerstands existiert bereits unter der Führung der
Baath-Partei“ oder sogar „eine politische Front brauchen wir nicht, denn der
Widerstand hat sowieso die Mehrheit des Volkes hinter sich“. Das ist hohler
Nationalismus und billiger Triumphalismus, der früher oder später zum
Zusammenbruch verurteilt ist oder gar der offenen Kollaboration mit den USA
gegen den Iran den Weg ebnet.

Andererseits ist
die Empörung beim Widerstand über die vielfach dokumentierte Beteiligung von
Muqtadas Mehdi-Armee an der Jagd auf Baathisten nicht nur verständlich, sondern
auch legitim. Muqtadas schwankende Haltung, die den Druck verschiedener
Interessen reflektiert, ist bekannt. Man muss jene seiner Handlungen, die
objektiv der Besatzung dienen, wie beispielsweise auch die Beteiligung an der
Regierung, verurteilen, ohne die Versuche, seine Bewegung näher an den
Widerstand zu ziehen und schließlich in eine politische Front einzubeziehen,
aufzugeben. Ultimatistische Haltungen, wie sie im Bereich des Widerstands und
auch unter einigen seiner Unterstützer im Westen verbreitet sind, die Muqtada
direkt der Front der Besatzer zurechnen, sind da kontraproduktiv. So wenig
Versöhnung mit der Besatzung angebracht ist, so unumgänglich erscheint die nationale
Versöhnung über die Zerwürfnisse der Vergangenheit, die auch die Sühne für die
Diktatur der Baath-Partei einschließen muss.

Will man die
Gegensätze überbrücken und wirklich die nationale Einheit herstellen – und das
ist nur über eine breite politische Front möglich -, so muss eine echte Lösung
für den historischen Konflikt gefunden werden. Der Irak kann nur als arabisches
Land zur Einheit finden (abgesehen einmal von den Kurden, denen das
Selbstbestimmungsrecht gewährt werden muss), die Präsenz der iranischen Kräfte,
vom sunnitischen Milieu sogar als iranische Besatzung bezeichnet, muss beendet
werden. Andererseits muss das Schiitentum und der darin enthaltene persische
Einfluss als Teil der irakischen Kultur anerkannt werden. Vielleicht kann eine
modernisierte Version der abbasidischen Formel entwickelt werden, die die
islamische Zivilisation zu seiner höchsten Blüte in der Synthese von Arabien
und Persien brachte.

Entscheidend ist
also die Machtbeteiligung beider Seiten. Sowohl die Jahrhunderte von der Macht
ausgeschlossenen Schiiten als auch die Sunniten müssen an der Macht beteiligt
werden, ansonsten werden scharfe Konflikte nicht ausbleiben. Über die Eliten
ist das nicht möglich, denn diese sind immer mehr konfessionalistisch
organisiert. Es bedarf der Beteiligung der Volksmassen an der Macht, der
Demokratie des Volkes durch Organe der Partizipation verbunden mit dem Programm
der sozialen Gerechtigkeit, die als einzige eine wechselseitige Garantie gegen
den Ausschluss geben können. Deren Embryo kann nur die Front des Widerstands
sein.

Willi Langthaler

Wien, 15.
September 2006

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