Site-Logo
Site Navigation

Die Melodie des Panzers

30. Oktober 2006

von Werner Pirker

Zwiespältiges Gedenken in Ungarn

Ein Sowjetpanzer auf den Straßen von Budapest am 23. Oktober. 50 Jahre
nach dem Beginn des ungarischen Aufstandes, der von sowjetischen
Truppen niedergeschlagen wurde, hatten ihn Demonstranten aus einer
Ausstellungshalle geholt und Revolutionsszenen von 1956 nachgestellt:
das aufständische Volk von Budapest, das der Macht der Panzer
widerstand. In der Regie der Feierlichkeiten war das nicht vorgesehen.
Denn der Panzerklau war keineswegs als Huldigung der nach dem Ende des
Sozialismus 1989 entstandenen politischen Verhältnisse gedacht, sondern
als Demonstration gegen die gegenwärtige Staatsmacht. Ihr sollte die
moralische Legitimation, das Erbe der Aufständischen zu reklamieren,
abgesprochen werden.

Im
Kampf um das Oktober-Vermächtnis ging die Staatsmacht mit Knüppeln und
Tränengas vor, was Dutzende Verletzte forderte. Sie konnte sich dabei
des Beifalls der „freien Welt“ des Westens sicher sein, deren
hochrangige Vertreter – darunter zahlreiche Angehörige des europäischen
Hochadels – nach Budapest gekommen waren, um abgeschirmt vom gemeinen
Volk den „Sieg der Demokratie“ über den „kommunistischen
Totalitarismus“ zu feiern.

Das gemeine Volk ist der Belastungen,
die ihm zugemutet werden, überdrüssig geworden. Die Rede des
Premierministers, der bekannte, daß seine Sozialistische Partei die
Wahlen nur gewinnen konnte, weil sie die Wählermassen über ihre wahren
Absichten getäuscht hatte, war nur noch der Tropfen, der das Faß zum
Überlaufen brachte. Eine Regierung, die ihre parlamentarische Mehrheit
mit falschen Aussagen erschwindelte, zum Rücktritt zwingen zu wollen,
stellt keine Mißachtung der demokratischen Institutionen dar, sondern
ist ein Ausdruck demokratischer Bestrebungen, wie sie in etablierten
Demokratien schon längst verdrängt worden sind. Das betrogene Volk
weiß, daß sich die Befehlszentrale des ihm auferlegten drastischen
„Sparkurses“ in Brüssel befindet. Und Brüssel weiß, welche Partei in
Ungarn die wenigsten Hemmungen hat, gegen die nationalen und damit
gegen die sozialen Interessen der Mehrheit zu regieren. Deshalb hat
sich die EU auch bedingungslos hinter das Regierungslager um den
Lügenpremier Gyurcsany gestellt und diesem die Verwaltung des
„demokratischen Erbes“ von 1956 aufgetragen. Da kümmert es die
EU-Granden dann auch wenig, daß die Dramaturgie der Feierlichkeiten zum
Gedenken an eine Erhebung, die in der westlichen Welt als
„antikommunistisches Märtyrertum“ gewürdigt wurde, von Absolventen der
kommunistischen Kaderschmiede geschrieben wird.

Es sind nicht
bloß die tradierten antikommunistischen Reflexe, die sich gegen diesen
ironischen Schwenk der Geschichte wehren. Der Grund für die Unruhe in
der ungarischen Gesellschaft liegt in den unerfüllt gebliebenen
Verheißungen des „demokratischen Systemwechsels“, im sozialen Abstieg
breiter Bevölkerungsschichten. Der Umsturz von oben, der 1989 erfolgte,
ist das Erbe, das die Postkommunisten tatsächlich auf ihre Fahnen
schreiben können. Es richtet sich ebenso gegen die „revolutionären
Erwartungen“ von 1956 wie gegen die Politik des sozialen Arrangements
mit den Massen, wie sie die sozialistische Staatsmacht unter Janos
Kadar betrieben hatte.

aus: junge Welt, 25. 10.2006

Thema
Archiv