Site-Logo
Site Navigation

Der letzte Tropfen im Becher der Lügen

2. November 2006

Die Geschehnisse in Ungarn
können dem westlichen Antiglobalisten Hoffnung und Beispiel geben

von Pà©ter Techet
(Jurastudent, Budapest)

In Ungarn gärt’s.
Nicht seit Tagen oder Wochen, sondern seit dem (Schein-) Systemwechsel von
1989, das die ungarische Gesellschaft –
nach der kommunistischen Diktatur – in
die unsichtbare, aber immer spürbarere Bevormundung der globalen Kapitalisten
geführt hat. Im neuen System – wie im alten – kann es aber immer wieder
vorkommen, dass Demonstranten von den brutal agierenden Polizisten verprügelt
werden. (Die Bilder der blutenden Demonstranten gehören fast schon zum
Alltagsleben der heutigen ungarischen „Demokratie“, die zu feiern, die
europäischen Premiers, andere prominenten Politiker und der Hochadel nach
Budapest gepilgert haben.)

Der Widerstand, der
von dem einen Tag auf den anderen wächst, wurde nicht bloß dadurch ausgelöst,
dass es bekannt wurde, dass der Multimillionäre Premier, Ferenc Gyurcsány vor
seinen Parteifreunden zugegeben hat, das Volk belogen zu haben, um
wiedergewählt zu werden. (Und nicht zuletzt um das Land den neoliberalen
Diktaten von Brüssel und Washington auszusetzen.) Nein, die eigentlichen Gründe
führen uns weit in die Vergangenheit…

Gyurcsány hat alles
versprochen bei den letzten Wahlen, hat sich so benommen, als wäre er die
einzige denkbare Alternative gegenüber dem „bösen“ Viktor Orbán, dem manchmal
Rechtsextremismus und Antisemitismus, manchmal Linksextremismus und
Antiglobalismus vorgeworfen wird.

Aber die wirklichen
Ursachen der jetzigen revolutionartigen Szenen sind nicht in der Empörung über
das Bekenntnis von Gyurcsány zu suchen, sondern in viel tieferen und früheren
Gründen: in dem vermasselten Systemwechsel von 1989. Dies war nämlich keine
volksnahe Revolution, sondern nur ein Herrschaftswechsel, wie der
antiglobalistische Ökonom, Professor Lászlà³ Bogár es festzustellen pflegt.

1989 war nur ein
Theater, wo die heimlichen Kompromisse, die zwischen dem neuen Kolonisator und
den immer dienstbereiten, ehemaligen kommunistischen Eliten Osteuropas
abgeschlossen werden sollten, nach einem anderswo und von anderen geschriebenen
Plan abgespielt wurden.

Das Volk, das sich
damals tatsächlich politischen Veränderungen wünschte, wurde zum einfachen
Statisten degradiert – in seinem eigenen Land, in seinen eigenen
Schicksalsfragen.

17 Jahre lange dauert,
bis diesem Volk – dem angeblich feurigen Magyaren – der Kragen platzte. Sehr
treffend hat Werner Pirker in seinem hervorragendem Artikel (Die Melodie des
Panzers, jW, 25. 10. 2006) festgestellt, dass „die Rede des Premierministers,
der bekannte, dass seine Sozialistische Partei (die nur im Namen sozialistisch
ist – Anm. von mir) die Wahlen nur gewinnen konnte, weil sie die Wählermassen
über ihre wahren Absichten getäuscht hatte, nur noch der Tropfen war, der das
Fass zum Überlaufen brachte.“

Ja, das Bekenntnis war
– sogar in seiner ungehobelten Form – nicht der einzige Grund zum Widertand,
sondern der letzte Tropfen. Die Ungarn sind – im Gegensatz zu ihrem Ruf –
geduldige Menschen, aber es gibt und gab Momente in unserer Geschichte, wo die
Faselei, die Unterdrückung, die Ungerechtigkeit nicht mehr zu ertragen ist und
war. Und da erheben sich die Ungarn: 1848 gegen die Habsburgs, 1956 gegen die
Kommunisten, 2006 gegen die Neoliberalen. Obschon in der ungarischen und
europäischen Öffentlichkeit geweigert ist, die jetzigen Geschehnisse in Ungarn
als Revolution zu bezeichnen, sind sie es trotzdem. Eine Revolution gegen die
Postkommunisten, die sich zu proamerikanischen, roten Kapitalisten umgewandelt
haben. Eine Revolution gegen das ganze scheindemokratische System, das von
volksfernen Vereinbarungen hervorgegangen ist. Eine Revolution gegen die
neoliberale Politik der Regierung.

Und dies kann als ein
Zeichen bewertet werden: die Massen auf den Strassen von Budapest beweisen,
dass es dennoch gelingen kann (da es gelingen soll), die neoliberale Politik
unter Druck zu setzen. Ob sie auch so bekämpft werden kann und wird, weiß ich
nicht.

Aber die
demonstrierenden Jungen, Studenten, Arbeitnehmer, Intellektuellen,
Antikommunisten, Antiglobalisten, Nationalisten und Trotzkisten zeigen die
Kraft des Volkes und können dem Westen Beispiel und Hoffnung geben.

Vielleicht ist’s Ihnen
aufgefallen, dass ich – unter anderem – auch die Antikommunisten erwähnt habe.
Ja, aber der Begriff vom Antikommunismus bedeutet bei uns nicht dasselbe, wie
im Westen, wo das Wort „Antikommunismus“ zu einem neoliberalen Kampfbegriff
instrumentalisiert wurde. In Ungarn ist unter Antikommunismus eher
Antipostkommunismus zu verstehen – also ein Gefühl, das sich gegen die ganze
Situation Ungarns, gegen diesen Sumpf richtet. Eine moralische Haltung, also.

Aber dass die Ziele
des (bei uns) so genannten Bürgerlichen mit denen der prinzipientreuen
Kommunisten übereinstimmen kann, zeigt, dass sich der Vorsitzende der
antiliberalen Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei, Gyula Thürmer gerade
in einem in der einzigen oppositionellen Tageszeitung, der „Magyar Nemzet“
erschienenen Artikel auf die Seite des
populären Vorsitzenden der größten Oppositionspartei, der Fidesz, Viktor Orbán
gestellt hat, indem Gyula Thürmer die Initiative Orbáns, das Volk über die
neoliberalen Reformen (sprich: Ausbeutungspolitik) abstimmen zu lassen, klar
unterstützt.

Das ehemalige Schema
Links-Rechts hat seinen Sinn also verloren –
falls es einen überhaupt hatte. Jetzt befinden sich Trotzkisten,
Marxisten, Antiglobalisten, sozial gesinnten Katholiken, Etnopluralisten und
Nationalisten im gleichen Lager: im Lager des Kommenden. Und hoffentlich, im Lager
des Siegenden.

„Die Gerechtigkeit zu
vollziehen ist etwas anderes, als in Erwartung dieses Vollzugs leben zu
müssen.“ (Friedrich Dürrenmatt: Justiz)

Und zum Schluss: Nochmals herzlichen Dank für
Werner Pirker, der einzig die wirklichen Gründe des ung. Aufstandes dargestellt
hat. Die oben erwähnte Tageszeitung „Magyar Nemzet“ hat – nachdem ich sie auf
diesen Artikel aufmerksam machte – den
von Pirker gefassten Artikel schon zitiert.

Die Melodie des Panzers

Zwischen Arbeiteraufstand und Konterrevolution: Die Ereignisse in Ungarn vom Oktober 1956

Thema
Archiv