Vom Beginn der Massenerhebung zu ihrer Niederschlagung
von Werner Pirker
Fünfzig Jahre nach den ungarischen Oktoberereignissen ist deren
Wesensinhalt nach wie vor umstritten. Außer Frage stehen sollte
freilich, daß es sich um einen Volksaufstand gehandelt hat. Denn es
waren die breiten Volksmassen, die sich mit äußerster Entschlossenheit
gegen die herrschenden Verhältnisse erhoben haben. Die Situation im
ungarischen Oktober 1956 trug alle Merkmale einer revolutionären Krise
in sich. Die Staatsmacht konnte nicht mehr so agieren, und das Volk
wollte nicht mehr so leben wie bisher. Doch war diese Erhebung gegen
eine Macht gerichtet, die für sich in Anspruch nehmen konnte, die
Herrschaft der Kapitalisten und Großgrundbesitzer gebrochen zu haben.
Das wirft die Frage auf: Hatte diese Massenbewegung die
Wiederherstellung des kapitalistischen Systems zum Ziel oder wollten
die Aufständischen einen authentischen, von bürokratischer Willkür
befreiten Sozialismus erkämpfen?
Aus
bürgerlicher Sicht hat es sich im wesentlichen um einen Aufstand gegen
die „kommunistische Tyrannei“ gehandelt. Teile der Linken wollen, wie
die Trotzkisten, im ungarischen Oktober eine „politische Revolution“
gesehen haben, die sich nicht gegen die sozialistischen
Produktionsverhältnisse, sondern gegen die herrschende Bürokratie
richtete oder, wie die „Rätekommunisten“, eine proletarische Revolution
gegen eine bolschewistische Diktatur – mit dem Ziel, die Staatsmacht
den Arbeiterräten zu übertragen. Orthodoxe Apologeten des gescheiterten
Sozialismus sind sich darin einig, daß die Manifestationen des
Volkszornes zwar ihre Berechtigung gehabt hätten, von
konterrevolutionären Kräften aber manipuliert und in eine Bewegung
gegen den Sozialismus gewendet worden seien.
Signal aus Moskau
Zum Zeitpunkt des Aufstandes befand sich Ungarns überzentralisierte,
dem sowjetischen Modell blind nacheifernde Planwirtschaft in einer
tiefen strukturellen Krise. Der Geburtsfehler des Sozialismus in Ungarn
lag darin, daß er aus keiner revolutionären Massenbewegung
hervorgegangen war, sondern im Ergebnis der in Jalta beschlossenen
Aufteilung Europas in Einflußsphären auf sowjetischen Bajonetten ins
Land gebracht wurde. Das fremdbestimmte Parteiregime fand nie wirklich
Zugang zur gesellschaftlichen Basis, was die Überrepräsentanz der
ungarischen Staatssicherheitsorgane (AVH) zur Folge hatte. So lösten
drei miteinander in Zusammenhang stehende Momente jene Volkswut aus,
die das Regime aus eigener Kraft nicht mehr zu bändigen vermochte: Die
äußerst unbefriedigende soziale Lage der werktätigen Bevölkerung, die
politische Unterdrückung und die demütigende Abhängigkeit des Landes
von der Sowjetunion.
Es war das Jahr, in dem der XX. Parteitag der KPdSU stattgefunden
hatte. Jener Parteitag, auf dem Nikita Chruschtschow mit dem
Stalin-Regime abgerechnet hatte. Das löste überall in Osteuropa
Hoffnungen auf eine Entstalinisierung, das heißt Demokratisierung des
Systems aus. Der Erste Sekretär der KPdSU hatte Stalins
Willkürherrschaft an den Pranger gestellt, ohne deren strukturelle
Voraussetzungen ernsthaft in Frage zu stellen. Damit versetzte er die
Führungen in den verbündeten Staaten in eine ernste Legitimationskrise.
Einen Ausweg aus der Krise des bürokratischen Sozialismusprojektes aber
konnte er nicht weisen.
Während die Sowjetbürger Chruschtschows Enthüllungen zwar
irritiert, aber ohne größeren Wirbel hinnahmen, reagierten die Bürger
in Polen und Ungarn mit einer Entstalinisierung von unten, die sich in
vehementen Forderungen nach politischen und personellen Veränderungen
äußerte. In Polen bewirkten Massenproteste die Ablösung des Parteichefs
Edward Ochab durch den „Nationalkommunisten“ Wladyslaw Gomulka. In
Ungarn fiel die „Wahl des Volkes“ auf Imre Nagy, der 1953 als
Regierungschef ein auf die Entwicklung eines ungarnspezifischen
Sozialismus gerichtetes Programm vorgestellt hatte – mit der Folge, daß
er die Regierungsbank mit der Gefängnispritsche tauschen mußte.
Dabei war es keineswegs so, daß das Signal aus Moskau in Budapest
überhört worden wäre. Im Juni 1956 wurde der in der Bevölkerung
verhaßte Parteichef Mátyás Rákosi durch Ernö Gerö, der sich von seinem
Vorgänger freilich nicht wesentlich unterschied, ersetzt. János Kádár,
der 1951 aus den Höhen der Macht ins Gefängnis geworfen, 1954 aber
rehabilitiert wurde, stieg zum zweiten Mann in der Partei auf. Die
wichtigste schon vor der Oktobererhebung erfolgte Veränderung der
herrschenden Gepflogenheiten bestand darin, daß die regierende Partei
der ungarischen Werktätigen (MDP) mit den aus der Illegalität
getretenen Sozialdemokraten und der Partei der kleinen Landwirte
Verhandlungen aufnahm.
Im Land, vor allem in der Hauptstadt, entfaltete sich eine
breite und offene gesellschaftliche Debatte, wie sie in der liberalen,
offenen, pluralistischen usw. Gesellschaft des Westens kaum denkbar
ist. Ihr Zentrum war der Petöfi-Klub, der im März von der Parteijugend
DISZ ins Leben gerufen wurde und anfangs vor allem den Marxisten unter
der künstlerischen und wissenschaftlichen Intelligenz ein Forum bot.
Kein Saal war groß genug, um die Zuhörermassen fassen zu können,
weshalb die Diskussionen über Lautsprecher nach außen übertragen
wurden, wo oft Tausende Zuhörer versammelt waren. Zu den aktiven
Parteimitgliedern gesellten sich nach und nach auch Angehörige der 1948
verstoßenen alten Elite. Dominant blieb aber die innermarxistische
Debatte. Es wurden Forderungen nach einer Revision des
Fünfjahresplanes, nach einer transparenten Preispolitik, nach einer
Veröffentlichung der Wirtschaftsdaten gestellt. Es erhoben sich aber
auch Stimmen, die die Planwirtschaft generell ablehnten und eine
Rückkehr zur „klassischen Ökonomie“ forderten.
Den größten Hörerzuspruch fand der marxistische Philosoph György
(Georg) Lukács, der stets betonte, daß allen Fehlern, die gemacht
worden seien, zum Trotz dem Sozialismus die Zukunft gehöre.
So war die ungarische Gesellschaft schon vor dem versuchten
Umsturz im Oktober eine andere geworden. Zu vieles war in Fluß geraten,
als daß die Systemeliten die Verhältnisse noch unter Kontrolle hätten
bringen können. Von Fraktionskämpfen zerrissen, lavierte die
Parteiführung zwischen Repression und Laissez-faire und versäumte so
die Gelegenheit, die Richtung des Veränderungsprozesses zu bestimmen.
Als die Machtfrage in ihrer ganzen Schärfe gestellt wurde, war sie als
handelnde Kraft nicht mehr vorhanden.
Das 14-Punkte-Programm
Am 22. Oktober verabschiedeten Studenten auf einer universitären
Veranstaltung ein 14-Punkte-Programm. Darin forderten sie unter anderem
die Ernennung von Imre Nagy, der in der öffentlichen Wahrnehmung für
einen demokratischen, den nationalen Bedingungen angepaßten Sozialismus
stand, zum Ministerpräsidenten, die Einführung eines
Mehrparteiensystems, freie Wahlen sowie den Abzug der sowjetischen
Truppen aus Ungarn. Das war ein nach dem damals vorherrschenden
Sozialismusverständnis konterrevolutionäres Programm.
Weil der Rundfunk der Forderung der Studenten nach einer
Verlautbarung ihres Programms nicht nachkam, riefen sie zu einer
Kundgebung auf. Am 23. Oktober versammelten sich vor dem Parlament an
die 200000 Menschen. „Nagy in die Regierung, Rákosi in die Donau“,
wurde skandiert. Gegen eine am Abend vor dem Rundfunkgebäude
versammelte Menschenmenge gingen die Sicherheitsorgane mit Waffengewalt
vor. Die ungarische Tragödie nahm ihren Lauf.
In einer an diesem Tag verabschiedeten Erklärung des
ungarischen Schriftstellerverbandes wurden Forderungen erhoben, die
vielleicht die Grundlage für eine sozialistische Erneuerung hätte
bilden können. Gleich in Punkt eins wird die Grundfrage, die
sowjetische Vorherrschaft, angesprochen und die Herstellung
gleichberechtigter Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern
gefordert. Verlangt wurde ferner eine offene Darlegung der
wirtschaftlichen Situation sowie die Teilnahme von Arbeitern, Bauern
und Intellektuellen an ökonomischen Entscheidungsprozessen. Die
Fabriken müßten von den Arbeitern und Technikern geleitet werden, den
Bauern müßte die Entscheidung über die Ausübung ihrer Eigentumsrechte –
ob in individueller oder kollektiver Form- selbst überlassen werden.
Damit wurde das Grundproblem der Krise der gesellschaftlichen
Beziehungen, die Entfremdung der Werktätigen von Macht und Eigentum,
thematisiert.
Das ZK der MDP bezeichnete in der Nacht zum 24. Oktober die
Demonstrationen als das „Werk konterrevolutionärer und faschistischer
Kräfte“. Parteichef Gerö charakterisierte sie als „chauvinistisch und
antisemitisch“. In dieser Nacht wurde aber auch die Ernennung des
Lieblings der Massen, Imre Nagy, zum Ministerpräsidenten
bekanntgegeben. In Ungarn stationierte sowjetische Panzereinheiten
setzten sich in der Hauptstadt fest. Sie stießen auf heftigen
Widerstand der Bevölkerung. Revolutions- und Arbeiterräte entstanden.
Einheiten der ungarischen Armee schlugen sich auf die Seite der
Aufständischen. Die Partei verschwand in der Versenkung. Die
Staatsmacht war paralysiert.
Der Sündenfall
Nur Imre Nagy fand noch Gehör. Er verkündete am 25. Oktober ein
Programm zur „Reform des Sozialismus“ und stellte den Rückzug der
sowjetischen Truppen in Aussicht. Nagy war in diesen Tagen ein Wanderer
zwischen den Welten. Er versuchte, der sowjetischen Führung
größtmögliche Zugeständnisse in Richtung eines eigenständigen Modells
abzuringen und gleichzeitig die Militanz der Volksbewegung zu zügeln.
In einem Aufruf zur Einstellung der Kämpfe erklärte er: „Ungarn,
Genossen: Die Regierung hat alle Möglichkeiten, mein politisches
Programm zu verwirklichen, indem sie sich auf das ungarische Volk unter
Führung der Kommunisten stützt. Dieses Programm beinhaltet eine
weitgehende Demokratisierung des ungarischen öffentlichen Lebens, die
Herstellung eines ungarischen Weges zum Sozialismus in Übereinstimmung
mit unseren nationalen Besonderheiten und die Verwirklichung unseres
erhabenen nationalen Ziels: die Verbesserung des Lebensstandards von
Grund auf.“
Am 29. Oktober zogen sich die Sowjettruppen aus Budapest
zurück. Doch auch das trug nicht zur Beruhigung der Lage bei. Im
Gegenteil: Am 30. Oktober stürmte der Mob die Zentrale der ungarischen
Staatssicherheit. AVH-Mitarbeiter wurden auf bestialische Weise
gelyncht. Die konterrevolutionäre Kehrseite der Massenerhebung war
erstmals in voller Deutlichkeit sichtbar geworden.
Am Tag der langen Messer wurden Vertreter bürgerlicher Parteien
in die Regierung aufgenommen. Nagy sprach sich in seiner
Regierungserklärung für einen neudefinierten Sozialismus auf der
Grundlage eines Mehrparteiensystems und freier Wahlen aus. Nach der
Selbstauflösung der MDP wurde die Ungarische Sozialistische
Arbeiterpartei (MSZMP) gegründet, die einen sozialistischen Ausweg aus
der Krise zu weisen versprach. Doch die Realität hatte sich den
Parteibeschlüssen längst entzogen. Die Aufstandskräfte wollten sich mit
dem – auch in seinem Inneren – erschütterten System nicht mehr
arrangieren und drängten auf dessen Sturz.
Die Politik Imre Nagys folgte nur noch der Logik der
Ereignisse. In seiner Ansprache an das ungarische Volk vom 31. Oktober
verzichtete er bereits auf jegliche sozialistische Rhetorik. „Diese
ruhmreichen Tage“, sagte er, „haben unsere nationale Regierung
hervorgebracht, die für die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Landes
kämpfen wird“. Seine Anrede lautete nicht mehr „Genossen“, sondern
„liebe Freunde“. An die Adresse Moskaus gerichtet, hieß es: „Wir werden
keine fremde Einmischung in ungarische Angelegenheiten dulden.“ In
einem am gleichen Tag gegebenen Interview für RIAS Berlin und den
österreichischen Rundfunk wußte Nagy keine klare Antwort auf die Frage,
ob die neue ungarische Regierung die DDR weiter anerkennen werde.
Am 1. November erklärte die Nagy-Regierung den Austritt aus dem
Warschauer Pakt und die Neutralität des Landes. Am 3. November bildete
der Premierminister noch einmal die Regierung um, der jetzt alle
Koalitionsparteien aus dem Jahr 1945 angehörten.
Die sowjetische Führung war offenkundig nicht bereit, den
Austritt der Ungarischen Volksrepublik aus dem sozialistischen
Staatensystem sowie die Einführung eines bürgerlichen
Mehrparteiensystems auf ungarischem Boden hinzunehmen. Truppen der
Sowjetarmee besetzten erneut Budapest und begannen am 4. November mit
der Niederschlagung des Aufstandes. Diesmal kannten sie keine Gnade
mehr.
János Kádár, der mit Nagy wegen dessen gegen die sozialistische
Staatsräson gerichteten Alleingängen gebrochen hatte, gab in einer
Rundfunkansprache am 4. November die Bildung einer Ungarischen
Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung unter seiner Führung
bekannt. Er gestand die schweren Verfehlungen des früheren Regimes ein
und anerkannte die Berechtigung des Jugend- und Arbeiterprotestes. Doch
hätten „die Reaktionäre ihre eigenen selbstsüchtigen Zwecke“ verfolgt.
„Sie haben die Hand gegen unser volksdemokratisches Regime erhoben. Das
bedeutet, daß sie die Fabriken und Konzerne den Kapitalisten und den
Boden den Großgrundbesitzern zurückgeben wollen.“ Kadar hatte noch am
1. November in einem Interview den Aufstand positiv als Revolution
gewürdigt, aus der ein „ungarischer Nationalkommunismus“ hervorgehen
werde. Nun war er zur Niederwerfung der Konterrevolution angetreten.
Als Bannerträger der konterrevolutionären Kräfte wurde Kardinal Jà³zsef
Mindzenty ausgemacht. Er hatte sich am 3. November in einer
Rundfunkansprache für „ein durch soziale Interessen richtig und gerecht
beschränktes Privateigentum“ ausgesprochen. Kádárs
postkommunistisch-neoliberale Erben würden das heute als Ausdruck
naiver Sozialromantik belächeln.
Die Arbeiterräte
Das linke Antlitz des Massenaufstandes bildeten die Arbeiterräte. Doch
ob diese ihre Aufgabe vor allem darin gesehen haben, das sozialistische
Eigentum vor dem Zugriff der Konterrevolution zu schützen und es
darüber hinaus aus seiner bürokratischen Verfügungsgewalt zu befreien,
ist aus heutiger Sicht – nirgendwo in Osteuropa, nicht einmal in
Rußland hat die Arbeiterklasse in den Umbruchsjahren 1989-91 dem
kapitalistischen Eigentumsumsturz ernsthaften Widerstand
entgegengesetzt – stark zu bezweifeln. Auch in Ungarn 1956 gab es keine
autonome Arbeiterbewegung. Das Arbeiterelement bildete zwar die
kämpferische Vorhut der Volkserhebung. Doch es fand keinen
eigenständigen politischen Platz, weil es in einer Situation der
nationalen Euphorie keine bewußte Klassenposition bezog. Die
Arbeiterräte verstanden sich als militanter Ausdruck betrieblicher
Interessensvertretung, aber aus ihrem ökomischen Kampf erwuchsen keine
politischen Forderungen, die über die Herstellung einer
parlamentarischen Demokratie hinausgegangen wären. Die Mehrheit der
ungarischen Arbeiter war, wie György Lukács damals in einem Gespräch
mit einem polnischen Journalisten wohl richtig vermutete,
sozialdemokratisch eingestellt, das heißt von der Idee einer
sozialpartnerschaftlich organisierten bürgerlichen Ordnung beherrscht.
Unter der Führung von Sándor Rácz wurde am 14. November 1956 der
„Zentrale Arbeiterrat von Groß-Budapest“ gebildet. Damit erwies sich
der Arbeiterwiderstand als der überlebensfähigste Teil der allgemeinen
Erhebung. Das Kádár-Regime bot dem Arbeiterrat an, drei seiner
Mitglieder in die Regierung aufzunehmen. Rácz lehnte ab und forderte
den Abzug der sowjetischen Truppen, die Rückkehr Nagys an die
Regierungsspitze und die gesetzliche Verankerung der Arbeiterräte. Nach
einem Generalstreik aus Protest gegen die blutige Auflösung einer
Demonstration in Salgà³tarján wurden der zentrale Arbeiterrat und seine
regionalen Gliederungen am 9. Dezember verboten. Darin lag die
wirkliche Tragödie der Ereignisse von 1956. Eine sich sozialistisch
definierende Staatsmacht und eine authentische, wenn auch in
bürgerlichen Vorstellungen befangene Arbeiterbewegung fanden zu keiner
gesellschaftlichen Vereinbarung. Dabei hatte doch gerade die Tatsache,
daß der Budapester Arbeiterrat Elemente einer Gegenmacht
hervorzubringen vermochte, gezeigt, daß er mehr hätte sein können als
ein Anhängsel des bürgerlichen Liberalismus.
Abgesang
Die Frage bleibt, was geschehen wäre, hätte die UdSSR nicht
interveniert und den ungarischen Sozialismus seinem Schicksal
überlassen. In welche Richtung hätte sich ein neutrales Ungarn unter
Bedingungen des Mehrparteiensystems und freier Wahlen entwickelt? Die
bürgerliche Restauration wäre wahrscheinlich nicht zu vermeiden
gewesen. Zwar hatte sich auch Jugoslawien dem sowjetischen Diktat
entzogen, doch blieb dort das Einparteiensystem, wenn auch ergänzt
durch die Institutionen der regionalen und Arbeiterselbstverwaltung, im
wesentlichen intakt.
Die wichtigste Lehre aus dem ungarischen Oktober 1956 wird erst heute,
in einer Zeit, in der die nationale Selbstbestimmung von der
imperialistischen Oligarchie zunehmend in Frage gestellt wird, klar
erkennbar. Der Aufstand der Ungarn war in erster Linie eine Bewegung
der nationalen Emanzipation von einem fremdherrschaftlich bestimmten
System. Es waren vor allem die werktätigen Massen, die das ausländische
Diktat und die damit verbundenen Deformationen beim Aufbau des
Sozialismus am stärksten zu spüren bekamen.
Das Wesen der Tragödie läßt sich am besten von seinem Ende her
erklären. Jugoslawien, das sich der sowjetischen Vorherrschaft entzogen
und ein bodenständiges Sozialismusmodell hervorgebracht hatte, hat nach
dem Ende des Kalten Krieges in seinem serbisch-montenegrinischen
Restbestand dem Globalisierungsterror fast zehn Jahre lang
widerstanden. Ungarn war hingegen das erste Land, das mit fliegenden
Fahnen in den Geltungsbereich der westlichen „Freiheit“ wechselte.
Daraus ergibt sich die zweite Lehre: Es war nicht die offene
Konterrevolution, die dem Sozialismus in Ungarn ein Ende bereitete. Es
war die Elite des staatssozialistischen Systems. Die Partei, die 1956
die „westlich inspirierte Konterrevolution“ mit sowjetischer Hilfe
niederschlug, öffnete 1989 im Geiste Imre Nagys die Grenzen zum Westen.
[Junge Welt, 23.10.2006]