Zwischen Arbeiteraufstand und Konterrevolution: Die Ereignisse in Ungarn vom Oktober 1956.
Der Kampf um das gesellschaftliche Eigentum
Von Werner Pirker
Der Sieg der ungarischen Volkserhebung von 1956 besiegelte ihre
Niederlage. Die aufständischen Massen waren bis zum Ende, dem Sturz des
auf einer Minderheitenherrschaft beruhenden (vorgeblich)
kommunistischen Einparteienregimes gegangen. Einen solch
durchschlagenden Erfolg konnte oder wollte die sowjetische Führung
nicht zulassen und damit zur Nachahmung weiterempfehlen.
Die
Vorherrschaft der UdSSR über die sozialistischen Staaten in Osteuropa
beruhte auf der Vorherrschaft kommunistischer Parteien, das heißt auf
Machtinstitutionen sowjetischen Typs. Auf dem Höhepunkt der
revolutionären Krise in Ungarn wäre das eine
ohne das andere vielleicht zu haben gewesen: die nationale
Unabhängigkeit ohne Mehrparteiensystem oder ein Mehrparteiensystem ohne
nationale Unabhängigkeit. Das eine gab es in Jugoslawien, das andere
gab es noch nicht. In einem auf Parteienpluralismus beruhenden System
hätten sich aller Wahrscheinlichkeit nach die in Opposition zum
Einparteienregime erwachsenen Kräfte und mit ihnen die bürgerliche
gegen die sozialistische Option durchgesetzt. Die Logik einer solchen
Entwicklung hätte dann wohl auch zwangsläufig über die Grenze zwischen
den Systemen hinausgetrieben.
Der ungarische Aufstand war in
seiner Symbolik und ideologischen Verlaufsform stark antikommunistisch
geprägt. Er war keine klassische Revolution, die auf die Herstellung
einer sozial höher entwickelten Gesellschaftsform als die bisherige
zielte. Er richtete sich gegen die diktatorische Machtausübung einer
Partei, die für sich in Anspruch nahm, die Eigentumsverhältnisse
zugunsten der unterprivilegierten Klassen umgestürzt zu haben. Die
Unterprivilegierten waren aber trotz der Abschaffung von
Klassenprivilegien in ihrer Mehrheit unterprivilegiert geblieben und
machten ihre sozialen, demokratischen und auch nationalen Ansprüche
geltend. Doch sie folgten keinem sozialistischen Programm - welche
Partei hätte ihnen ein solches auch vorgeben können? Jedenfalls nicht
die Partei, gegen die sie sich erhoben. Und noch weniger die Parteien,
die die revolutionären Energien der Massen für einen bürgerlichen
Umsturz zu nutzen versuchten.
Die Geschichte hat bisher kein
Beispiel für eine auf die erste folgende zweite sozialistische
Revolution geliefert, die das Begonnene, die revolutionäre Aufhebung
der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, zur
Aufhebung der bürokratischen Verfügungsgewalt über Produktion und
Eigentum weitergetrieben hätte. Dafür fehlte das revolutionäre Subjekt.
Die im bürokratischen Sozialismusmodell angelegten Widersprüche, die in
ihrer Verlaufsform antagonistischen Charakter angenommen hatten,
wirkten gegen eine sozialistischen Zielvorstellungen folgende
Selbstemanzipation der Massen. Das antagonistische Subjekt, das sich
gegenüber der Parteidiktatur in der Tat herausgebildet hatte, war nicht
zur Umwälzung aller auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden
Verhältnisse angetreten, sondern zur Neukonstituierung einer
"brüderlichen Nation", die den kapitalistischen Klassenantagonismus
reproduziert hätte.
Der Aufstand hatte in Imre Nagy eine
Galionsfigur, aber keinen Führer gefunden. Er verkörperte in der
Anfangsphase die Hoffnungen auf einen Umsturz von oben. Als aber die
Macht unter dem Druck von unten zerfiel, geriet Nagy in die Rolle eines
Getriebenen. Für Reformen aus dem System heraus war es zu spät. Das in
Rage geratene Volk stellte die Machtfrage. Es hatte aus sich heraus
bereits Elemente einer Gegenmacht - Revolutions- und Arbeiterräte -
hervorgebracht. Doch hätte das Volk die eroberte Macht kaum zu
behaupten gewußt. Der plebejische Stoßtrupp des ungarischen Aufstandes
hatte kein eigenes politisches Programm. Er kämpfte todesmutig für ein
bürgerlich-parlamentarisches System, in dem für Arbeiterräte wohl kein
Platz mehr gewesen wäre. Aus ihnen wären im günstigsten Fall
klassenkämpferische, im bürgerlichen Normalfall aber eher
sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaften hervorgegangen.
Das Nagy-Phänomen
Nagy vertrat jenen Teil der Partei- und
Staatsnomenklatura, der für eine "liberalere" und stärker auf die
Bedürfnisse der gesellschaftlichen Basis eingehende Variante der
Machtausübung eintrat. Denn der "Sozialismus aus Stahl und Eisen", wie
ihn der despotische Parteichef Mátyás Rákosi, der sich als "Stalins
bester Schüler" wähnte, unter dem Eindruck sowjetischer
Industrialisierungs-Großtaten verhieß, war nicht unbedingt das
Gesellschaftsmodell, für das sich das magyarische Herz erwärmte. 1953
zum Ministerpräsidenten bestellt, verkündete Nagy ein
Wirtschaftsprogramm, das der Philosophie bisheriger, auf den Vorrang
der Schwerindustrie beruhender und an den Massenbedürfnissen
kaltschnäuzig vorbeizielender Fünfjahrespläne direkt entgegengesetzt
war, indem es das Hauptaugenmerk auf die Leicht- und
Konsumgüterindustrie lenkte. Zudem sollte die Zwangsverpflichtung der
Bauern zur Mitarbeit in Kollektivwirtschaften aufgehoben und durch das
Prinzip der Freiwilligkeit ersetzt werden. Die Garde aus Stahl und
Eisen erzwang Nagys Rücktritt und seinen Ausschluß aus der Partei.
Seine
Verstoßung aus dem Machtkreis machte Imre Nagy zum Volkshelden, der die
unterschiedlichsten Erwartungen auf sich zog. Erwartungen, die sich auf
einen besseren Sozialismus bezogen und Erwartungen, die auf einen
Abbruch des sozialistischen Experiments gerichtet waren. Auf ihm ruhten
aber auch die Hoffnungen der Elite, die Machtkrise einigermaßen
unbeschadet zu überstehen. Moskau, das lange zwischen Tolerieren und
Eingreifen schwankte, neigte zeitweise ebenfalls dazu, in Nagy den Mann
zu sehen, der einen friedlichen Ausweg aus der entstandenen Situation
weisen könnte. Zu schlechter Letzt hätte Nagy auch noch den Erwartungen
der USA gerecht werden sollen, deren Nationaler Sicherheitsrat in
seinem Beschluß vom 18. Juli 1956 die Weisung ausgab, angesichts der
gegenwärtig stark eingeschränkten Möglichkeiten, die Loslösung der
osteuropäischen Staaten aus dem sowjetischen Block direkt zu betreiben,
als ersten Schritt zur völligen Unabhängigkeit die Machtübernahme
nationalkommunistischer Kräfte in diesen Ländern zu befördern.
Das hinderte das CIA-gesponserte "Radio Free Europe" freilich nicht daran, in den Tagen des Ungarn-Aufstandes
den Nationalkommunisten Imre Nagy als "Moskau-Quisling" zu denunzieren
und Kardinal Jà³zsef Mindszenty die Führung des Nationalaufstandes
anzutragen. Die Maßlosigkeit der CIA-Propaganda, die völlig an der
ungarischen Realität vorbeizielte, hatte aus westlicher
"Freiheitsperspektive" fast schon defätistischen Charakter. Als hätte
man das Scheitern des Aufstandes bereits als "beschlossene Sache"
betrachtet und die große Abrechnung mit dem "kommunistischen
Totalitarismus" auf später verschoben, wie es dann auch tatsächlich
geschah. Vielleicht waren es aber auch der plebejische Charakter der
ungarischen Erhebung und die dabei spürbar gewordene Elementarkraft
entschlossener Menschenmassen, die es Washing…ton ratsam erscheinen
ließen, die "ungarische Freiheitsfackel" nicht allzu hoch lodern zu
lassen.
Wider die "rote Bourgeoisie"
Imre Nagy war kein
Revolutionsführer, sondern ein auf die Schultern der Aufständischen
gehobener Systemreformer. Er war kein Radikaler, sondern ein von den
Verhältnissen Radikalisierter. Er gab nicht die Losungen aus, er folgte
den Losungen der Straße. Er war ein Nationalkommunist, der die
kommunistische der nationalen Sache unterordnete. Nagy vertrat die
Meinung, daß die Prinzipien der nationalen Souveränität, der
Gleichberechtigung und der Nichteinmischung auch in den Beziehungen
zwischen den sozialistischen Ländern uneingeschränkt zu gelten hätten.
Die Ereignisse trieben ihn über diese Position hinaus. Seine Regierung,
die der Mehrparteienkoalition aus dem Jahr 1945 entsprach, erklärte am
1. November 1956 den Austritt Ungarns
aus dem Warschauer Vertrag. Dieser Beschluß wurde durch die sowjetische
Militärintervention außer Kraft gesetzt. Das bedeutete für Imre Nagy
das Todesurteil. Er wurde am 16. Juni 1958 hingerichtet. Im
Gerichtsprozeß gab er seiner Gewißheit Ausdruck, daß ihn "die
internationale Arbeiterbewegung und das ungarische Volk" rehabilitieren
würden.
Das Streben nach nationaler Unabhängigkeit bildete das
einigende Band der am Aufstand beteiligten Kräfte. Innerhalb dieser
machten sich zwei Grundtendenzen bemerkbar: Eine
sozialistisch-plebejische und eine bürgerlich-restaurative.
Gleichzeitig trafen sich Versuche zur Selbstreform des Systems mit
radikalen Bestrebungen von unten. Teile des Partei- und Staatsapparates
wechselten die Seite. Es bleibt aber ungeklärt, welche Klassenposition
die systeminterne Opposition bei einem Regimewechsel eingenommen hätte.
An der Seite derer, die auf die Abschaffung von Privilegien drängten
oder an jener Seite, die bürokratische Vorrechte in Klassenprivilegien
zu transformieren gedachte? Im Lichte späterer Erfahrungen betrachtet,
läßt sich eher vermuten, daß die staatssozialistische Elite den
schnellstmöglichen Anschluß an das Lager der bürgerlichen Restauration
gesucht hätte. Doch sie hätte damals nicht die gleichen Bedingungen wie
1989 vorgefunden. Das Volk drängte auf die Entmachtung jener Schicht,
die es als die "rote Bourgeoisie" wahrgenommen hatte.
Gulaschkommunismus