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Der doppelte Verrat

6. November 2006

Zwischen Arbeiteraufstand und Konterrevolution: Die Ereignisse in Ungarn vom Oktober 1956.
Der Kampf um das gesellschaftliche Eigentum

Von Werner Pirker

Der Sieg der ungarischen Volkserhebung von 1956 besiegelte ihre Niederlage. Die aufständischen Massen waren bis zum Ende, dem Sturz des auf einer Minderheitenherrschaft beruhenden (vorgeblich) kommunistischen Einparteienregimes gegangen. Einen solch durchschlagenden Erfolg konnte oder wollte die sowjetische Führung nicht zulassen und damit zur Nachahmung weiterempfehlen. Die Vorherrschaft der UdSSR über die sozialistischen Staaten in Osteuropa beruhte auf der Vorherrschaft kommunistischer Parteien, das heißt auf Machtinstitutionen sowjetischen Typs. Auf dem Höhepunkt der revolutionären Krise in Ungarn wäre das eine ohne das andere vielleicht zu haben gewesen: die nationale Unabhängigkeit ohne Mehrparteiensystem oder ein Mehrparteiensystem ohne nationale Unabhängigkeit. Das eine gab es in Jugoslawien, das andere gab es noch nicht. In einem auf Parteienpluralismus beruhenden System hätten sich aller Wahrscheinlichkeit nach die in Opposition zum Einparteienregime erwachsenen Kräfte und mit ihnen die bürgerliche gegen die sozialistische Option durchgesetzt. Die Logik einer solchen Entwicklung hätte dann wohl auch zwangsläufig über die Grenze zwischen den Systemen hinausgetrieben. Der ungarische Aufstand war in seiner Symbolik und ideologischen Verlaufsform stark antikommunistisch geprägt. Er war keine klassische Revolution, die auf die Herstellung einer sozial höher entwickelten Gesellschaftsform als die bisherige zielte. Er richtete sich gegen die diktatorische Machtausübung einer Partei, die für sich in Anspruch nahm, die Eigentumsverhältnisse zugunsten der unterprivilegierten Klassen umgestürzt zu haben. Die Unterprivilegierten waren aber trotz der Abschaffung von Klassenprivilegien in ihrer Mehrheit unterprivilegiert geblieben und machten ihre sozialen, demokratischen und auch nationalen Ansprüche geltend. Doch sie folgten keinem sozialistischen Programm - welche Partei hätte ihnen ein solches auch vorgeben können? Jedenfalls nicht die Partei, gegen die sie sich erhoben. Und noch weniger die Parteien, die die revolutionären Energien der Massen für einen bürgerlichen Umsturz zu nutzen versuchten. Die Geschichte hat bisher kein Beispiel für eine auf die erste folgende zweite sozialistische Revolution geliefert, die das Begonnene, die revolutionäre Aufhebung der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, zur Aufhebung der bürokratischen Verfügungsgewalt über Produktion und Eigentum weitergetrieben hätte. Dafür fehlte das revolutionäre Subjekt. Die im bürokratischen Sozialismusmodell angelegten Widersprüche, die in ihrer Verlaufsform antagonistischen Charakter angenommen hatten, wirkten gegen eine sozialistischen Zielvorstellungen folgende Selbstemanzipation der Massen. Das antagonistische Subjekt, das sich gegenüber der Parteidiktatur in der Tat herausgebildet hatte, war nicht zur Umwälzung aller auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden Verhältnisse angetreten, sondern zur Neukonstituierung einer "brüderlichen Nation", die den kapitalistischen Klassenantagonismus reproduziert hätte. Der Aufstand hatte in Imre Nagy eine Galionsfigur, aber keinen Führer gefunden. Er verkörperte in der Anfangsphase die Hoffnungen auf einen Umsturz von oben. Als aber die Macht unter dem Druck von unten zerfiel, geriet Nagy in die Rolle eines Getriebenen. Für Reformen aus dem System heraus war es zu spät. Das in Rage geratene Volk stellte die Machtfrage. Es hatte aus sich heraus bereits Elemente einer Gegenmacht - Revolutions- und Arbeiterräte - hervorgebracht. Doch hätte das Volk die eroberte Macht kaum zu behaupten gewußt. Der plebejische Stoßtrupp des ungarischen Aufstandes hatte kein eigenes politisches Programm. Er kämpfte todesmutig für ein bürgerlich-parlamentarisches System, in dem für Arbeiterräte wohl kein Platz mehr gewesen wäre. Aus ihnen wären im günstigsten Fall klassenkämpferische, im bürgerlichen Normalfall aber eher sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaften hervorgegangen.

Das Nagy-Phänomen

Nagy vertrat jenen Teil der Partei- und Staatsnomenklatura, der für eine "liberalere" und stärker auf die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Basis eingehende Variante der Machtausübung eintrat. Denn der "Sozialismus aus Stahl und Eisen", wie ihn der despotische Parteichef Mátyás Rákosi, der sich als "Stalins bester Schüler" wähnte, unter dem Eindruck sowjetischer Industrialisierungs-Großtaten verhieß, war nicht unbedingt das Gesellschaftsmodell, für das sich das magyarische Herz erwärmte. 1953 zum Ministerpräsidenten bestellt, verkündete Nagy ein Wirtschaftsprogramm, das der Philosophie bisheriger, auf den Vorrang der Schwerindustrie beruhender und an den Massenbedürfnissen kaltschnäuzig vorbeizielender Fünfjahrespläne direkt entgegengesetzt war, indem es das Hauptaugenmerk auf die Leicht- und Konsumgüterindustrie lenkte. Zudem sollte die Zwangsverpflichtung der Bauern zur Mitarbeit in Kollektivwirtschaften aufgehoben und durch das Prinzip der Freiwilligkeit ersetzt werden. Die Garde aus Stahl und Eisen erzwang Nagys Rücktritt und seinen Ausschluß aus der Partei. Seine Verstoßung aus dem Machtkreis machte Imre Nagy zum Volkshelden, der die unterschiedlichsten Erwartungen auf sich zog. Erwartungen, die sich auf einen besseren Sozialismus bezogen und Erwartungen, die auf einen Abbruch des sozialistischen Experiments gerichtet waren. Auf ihm ruhten aber auch die Hoffnungen der Elite, die Machtkrise einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Moskau, das lange zwischen Tolerieren und Eingreifen schwankte, neigte zeitweise ebenfalls dazu, in Nagy den Mann zu sehen, der einen friedlichen Ausweg aus der entstandenen Situation weisen könnte. Zu schlechter Letzt hätte Nagy auch noch den Erwartungen der USA gerecht werden sollen, deren Nationaler Sicherheitsrat in seinem Beschluß vom 18. Juli 1956 die Weisung ausgab, angesichts der gegenwärtig stark eingeschränkten Möglichkeiten, die Loslösung der osteuropäischen Staaten aus dem sowjetischen Block direkt zu betreiben, als ersten Schritt zur völligen Unabhängigkeit die Machtübernahme nationalkommunistischer Kräfte in diesen Ländern zu befördern. Das hinderte das CIA-gesponserte "Radio Free Europe" freilich nicht daran, in den Tagen des Ungarn-Aufstandes den Nationalkommunisten Imre Nagy als "Moskau-Quisling" zu denunzieren und Kardinal Jà³zsef Mindszenty die Führung des Nationalaufstandes anzutragen. Die Maßlosigkeit der CIA-Propaganda, die völlig an der ungarischen Realität vorbeizielte, hatte aus westlicher "Freiheitsperspektive" fast schon defätistischen Charakter. Als hätte man das Scheitern des Aufstandes bereits als "beschlossene Sache" betrachtet und die große Abrechnung mit dem "kommunistischen Totalitarismus" auf später verschoben, wie es dann auch tatsächlich geschah. Vielleicht waren es aber auch der plebejische Charakter der ungarischen Erhebung und die dabei spürbar gewordene Elementarkraft entschlossener Menschenmassen, die es Washing…­ton ratsam erscheinen ließen, die "ungarische Freiheitsfackel" nicht allzu hoch lodern zu lassen.

Wider die "rote Bourgeoisie"

Imre Nagy war kein Revolutionsführer, sondern ein auf die Schultern der Aufständischen gehobener Systemreformer. Er war kein Radikaler, sondern ein von den Verhältnissen Radikalisierter. Er gab nicht die Losungen aus, er folgte den Losungen der Straße. Er war ein Nationalkommunist, der die kommunistische der nationalen Sache unterordnete. Nagy vertrat die Meinung, daß die Prinzipien der nationalen Souveränität, der Gleichberechtigung und der Nichteinmischung auch in den Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern uneingeschränkt zu gelten hätten. Die Ereignisse trieben ihn über diese Position hinaus. Seine Regierung, die der Mehrparteienkoalition aus dem Jahr 1945 entsprach, erklärte am 1. November 1956 den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Vertrag. Dieser Beschluß wurde durch die sowjetische Militärintervention außer Kraft gesetzt. Das bedeutete für Imre Nagy das Todesurteil. Er wurde am 16. Juni 1958 hingerichtet. Im Gerichtsprozeß gab er seiner Gewißheit Ausdruck, daß ihn "die internationale Arbeiterbewegung und das ungarische Volk" rehabilitieren würden. Das Streben nach nationaler Unabhängigkeit bildete das einigende Band der am Aufstand beteiligten Kräfte. Innerhalb dieser machten sich zwei Grundtendenzen bemerkbar: Eine sozialistisch-plebejische und eine bürgerlich-restaurative. Gleichzeitig trafen sich Versuche zur Selbstreform des Systems mit radikalen Bestrebungen von unten. Teile des Partei- und Staatsapparates wechselten die Seite. Es bleibt aber ungeklärt, welche Klassenposition die systeminterne Opposition bei einem Regimewechsel eingenommen hätte. An der Seite derer, die auf die Abschaffung von Privilegien drängten oder an jener Seite, die bürokratische Vorrechte in Klassenprivilegien zu transformieren gedachte? Im Lichte späterer Erfahrungen betrachtet, läßt sich eher vermuten, daß die staatssozialistische Elite den schnellstmöglichen Anschluß an das Lager der bürgerlichen Restauration gesucht hätte. Doch sie hätte damals nicht die gleichen Bedingungen wie 1989 vorgefunden. Das Volk drängte auf die Entmachtung jener Schicht, die es als die "rote Bourgeoisie" wahrgenommen hatte.

Gulaschkommunismus

 

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