Interview mit Dr. Ibrahim Hamami, palästinensischer Arzt und Intellektueller
Dieser Artikel erscheint in der Intifada, Nr. 23, die in Kürze erscheint.
Interview mit Dr. Ibrahim Hamami, einem palästinensischen
Arzt und Intellektuellen, der im Londoner Exil lebt und sowohl im linken als
auch im islamischen Bereich hohe Anerkennung genießt. Auf Einladung der
Antiimperialistischen Koordination (AIK) und des Arabischen Palästinaclub (APC)
sprach er im auf einer Veranstaltung in Wien mit William Izarra, einem engen
Weggefährten des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez. Das Interview führte Willi
Langthaler
F: Wer trägt die Schuld am vorläufigen Scheitern einer
palästinensischen Einheitsregierung?
I.H.: Bei uns gibt es zwei Strömungen. Da ist die eine
Seite, die um jeden Preis an Verhandlungen teilnehmen will. Sie wollen, dass
wir die Besatzung und alle bisherigen Abkommen anerkennen und sind dabei bereit
den berechtigten Widerstand des palästinensischen Volkes gegen die Besatzung
als Terror zu verurteilen.
Die andere Seite sagt, dass sie die Besatzung nicht
anerkennen und den Widerstand nicht aufgeben wird. Selbst der Artikel 51 der
UN-Charta garantiert das Recht besetzter Völker mit allen Mitteln Widerstand zu
leisten. Alle bisherigen Abkommen müssen geprüft werden. Was in unserem
Interesse ist, werden wir akzeptieren, was nicht, ablehnen.
Es wird also sehr schwierig eine gemeinsame Regierung zu
bilden, angesichts der diametral entgegengesetzten Sichtweisen. Trotz mehr als
zehn Jahre Korruption und gescheiterter Verhandlungen nehmen diese Leute noch
immer in Anspruch das palästinensische Volk zu führen. Ich übertreibe nicht,
wenn ich sage, dass sie sich gegen die Entscheidung des Volkes verschworen
haben, um an die Macht zurückzukehren – um jeden Preis.
F: Was kann die Hamas-Regierung gegen das Embargo tun?
I.H.:Die gegenwärtige Regierung ist aus transparenten
demokratischen Wahlen hervorgegangen. Das entspricht auch der Auffassung von
rund 2000 internationalen Wahlbeobachtern. Die Entscheidung des
palästinensischen Volkes ist zu akzeptieren, egal, ob sie uns passt oder nicht.
Aber vom ersten Tag an, oder sogar noch davor, hatte der
Westen das Gegenteil beschlossen. Demokratie, die nicht die von ihnen
gewünschten Ergebnisse bringt, ist nicht willkommen. Und so verordneten sie
Maßnahmen zur kollektiven Bestrafung der Palästinenser. Sie sagten: „Entweder
ihr stürzt die Regierung oder ihr werdet nicht essen.“ Dabei darf nicht
vergessen werden, dass die Palästinenser unter Besatzung leben und auf die
Hilfe von außen angewiesen sind. Es widerspricht jedwedem Rechtsgedanken,
jedweder Humanität, die Grundversorgung mit Lebensmitteln an Bedingungen wie
das Akzeptieren ungerechter Verträge oder die Anerkennung Israels zu knüpfen.
Die Regierung versuchte Kompromisse anzubieten, wie
Verhandlungen über einen langfristigen Waffenstillstand. Aber selbst das wurde
zurückgewiesen. Wir müssen buchstäblich alles aufgeben bevor wir zu reden
anfangen können. Aber welchen Sinn hätten dann noch Verhandlungen?
F: Wie kann eine Lösung gefunden werden?
I.H.: Das Volk hat die Regierung auf der Basis eines
gewissen Programms gewählt. Sie darf das Volk nun nicht im Stich lassen. Es ist
das Volk, das der Regierung und der parlamentarischen Mehrheit Stärke verleiht.
Sie muss ihre Versprechen halten und das Volk befähigen, die Besatzung und die
Sanktionen zurückzuweisen.
Außerdem müssen unsere arabischen Nachbarn ihre Pflicht
erfüllen, die palästinensische Wahl akzeptieren und die palästinensische Sache
unterstützen. Menschenrechtsorganisationen in der ganzen Welt müssen
aussprechen, dass das Vorgehen des Westens gegen Gesetz, Religion und
Menschlichkeit verstößt.
F: Der Westen hoffte, dass Hamas sich anpassen würde.
Einige in der palästinensischen Bewegung fürchten genau diese Anpassung…
I.H.: In der Vergangenheit hatten wir eine herrschende
Partei, die für nichts, alles aufzugeben bereit war – natürlich abgesehen von
ihren Privatinteressen. Auf der anderen Seite stand die Opposition, die den
Widerstand gegen die Besatzung fortsetzte und sich gegen diese Versuche des
Verrats zur Wehr setzte. Jetzt ist es umgekehrt. Wenn Hamas aufgibt, dann gibt
es niemanden mehr der unsere Rechte verteidigt, Nein zur Besatzung zu sagen.
Das wäre ein richtiger Albtraum.
F: Besteht eine reale Gefahr,
dass es so weit kommt?
I.H.: Nehmen wir
einmal an, es käme so weit. Dann würde die alte korrupte Clique zu existieren
aufhören. Der Westen würde einfach sagen: „Gut, wir haben einen neuen Partner
und wir brauchen die Wahlverlierer nicht mehr“.
Aber ich glaube nicht, dass
dies wirklich passieren wird, denn es ist fest in der Ideologie der Hamas
verankert, die Besatzung nicht hinzunehmen. Dabei geht es nicht nur um
Religion, sondern ist genauso ein nationales und moralisches Anliegen. Und wenn
es passiert wäre, so in den ersten paar Monaten, wo der Druck am größten war.
Der Wille des Volkes wird obsiegen. Die internationale Gemeinschaft hat schon
zur Kenntnis genommen, dass sie unsere Solidarität nicht brechen kann. Die
Sanktionen bröckeln. Und selbst die Versuche zur Bildung einer
Einheitsregierung sind ein Zeichen, dass der Westen sich im Klaren darüber ist,
dass sie die Regierung nicht loswerden können.
Mahmoud Abbas, der Präsident
der Palästinensischen Behörde, dachte, er könne die gewählte Regierung mittels
Neuwahlen oder Referendum loswerden. Tatsächlich gibt ihm die Verfassung aber
keineswegs das Recht dazu, denn Volksabstimmungen sind darin nicht vorgesehen.
Zur Auflösung der Regierung und zur Ausschreibung von Wahlen braucht er die
Zustimmung des Legislativrats, in dem die Hamas über eine Mehrheit verfügt. Er
kann den Ausnahmezustand ausrufen, doch die zu bildende Notstandsregierung
müsste laut Verfassung wiederum von Hamas geleitet werden. Es gibt also keinen
legalen Weg, die Entscheidung des palästinensischen Volkes zu umgehen.
Darum glaube ich nicht, dass
Abbas die Regierung vernichten wird können. Sie ist in der stärkeren Position
sowohl hinsichtlich der Verfassung als auch hinsichtlich der Unterstützung aus
dem Volk. Ihre Ideologie und ihre Ideen entfalten mehr Anziehungskraft. Sie
sagt schlicht: „Wir werden unsere Rechte nicht aufgeben, sondern sie mit allen
Mitteln verteidigen, ob politisch, sozial, militärisch oder mittels der
Bildung“.
F: Sind Sie für die Ein- oder
die Zwei-Staatenlösung?
I.H.: Der erste
Schritt muss es sein, den Palästinensern ihre Rechte im Westjordanland und im
Gazastreifen zu sichern. Das gebietet schon die humanitäre Notlage. Da werden
alle Strömungen der Solidaritätsbewegung zustimmen. Dem palästinensischen Volk
muss geholfen werden. Gemeinsam können wir dafür kämpfen, dass die Rechte der
Palästinenser respektiert werden.
Betreffend eine langfristige
Lösung meine ich, dass die Region keine zwei Staaten verträgt. Die Vermischung
ist zu groß. Es befinden sich eine Unmenge von Siedlern in Cisjordanien und es
gibt rund 1,3 Millionen Palästinenser innerhalb der Grenzen von 1967, was heute
Israel genannt wird. Bei dieser starken Integration sind zwei Staaten nicht
lebensfähig, umso mehr als das Westjordanland in 68 isolierte Kantone zerteilt
wurde. Die Lösung bleibt also ein einziger gemeinsamer Staat.
F: Die alte palästinensische
Nationalcharta sprach sich nicht nur für einen gemeinsamen Staat aus, sondern
spezifizierte diesen als demokratischen und säkularen. Heute sieht es so aus,
als tendierten jene, die die Einstaatenlösung verteidigen, zu einem islamischen
Staat.
I.H.: Die
palästinensische Charta enthält 33 Artikel. Mit Oslo wurden 12 davon gestrichen
und 16 geändert. Also 28 von 33 sind nicht mehr so, wie sie einmal waren. Das
heißt, die Charta existiert nicht mehr. Wir brauchen eine neue Charta, der alle
Palästinenser zustimmen können. Diese kann nicht von einer Partei aufgezwungen
werden, sondern es bedarf eines demokratischen Prozesses mittels Referenden,
Wahlen und ähnlichem. Wenn wir an die Demokratie glauben, dann müssen wir dem
Volk das Recht geben, seine Meinung zu äußern, egal ob das Resultat säkular,
islamisch, nicht islamisch oder atheistisch ist.
F: Was halten Sie von Staaten,
die auf religiöser Grundlagen geschaffen werden?
I.H.: Die zwei
Staaten, die im 20. Jahrhundert auf religiöser Grundlage gegründet wurden,
stellen bis heute die heißesten Konfliktpunkte dar – Pakistan und Israel. Mit
großen Bevölkerungsverschiebungen werden künstliche Grenzen geschaffen. Als man
Pakistan gründete, wurden Millionen Menschen umgesiedelt und sehr viele getötet.
Bis heute werden die Migranten aus dem heutigen Indien in Pakistan anders
behandelt und nicht umsonst bilden sie ihre eigenen Parteien. Staatsbildungen
religiös zu begründen, ohne eine rechtfertigende geographischen Grundlage zu
haben, schafft nur Langzeitprobleme.
Dasselbe gilt für Israel, das
auf seinen jüdischen Charakter besteht, obwohl in ihm 1,3 Millionen Araber –
Muslime und Christen – leben. Es gibt eine Studie die sagt, dass im Jahr 2025
die Zahl der Araber innerhalb Israels jene der Israelis übersteigen wird. Die
jüdische Identität kann also nur mit der ethnischen Säuberung der
Ursprungsbevölkerung oder durch massive Einwanderung aufrecht erhalten werden.
Das heißt, einen Staat auf religiöser Basis zu gründen, noch dazu wenn die
behaupteten Grundlagen falsch sind, schafft Probleme und löst sie nicht.
F: Was halten Sie von Hugo
Chavez‘ Vorschlag einer antiimperialistischen Front, die verschiedenartige
Bewegungen enthalten würde, beispielsweise islamische und linke?
I.H.: Es ist nur
natürlich, dass Völker, wenn sie von fremden Mächten unterdrückt werden,
zusammenrücken. Venezuela schlägt eine Einheitsfront gegen fremde Einmischung,
kulturelle Fremdbestimmung und Demokratieexport vor. In Lateinamerika stehen
die sich nach links bewegenden Länder zusammen um Nein zu all dem zu sagen.
Ähnliches geschieht in anderen Teilen der Welt. Die fremden Mächte angeführt
von den USA, versuchen ihre Herrschaft über die Welt indes weiter auszubauen.
Die antiimperialistische und antiamerikanische Stimmung kann nur zunehmen. Doch
die Machthaber im Westen verstehen die Kulturen und Ideologien der
verschiedenen Regionen nicht. Es gibt nicht das eine demokratische Mustermodell
nach amerikanischem oder britischem Vorbild, das überall unabhängig von den
lokalen Bedingungen passen würde. Jeder Teil der Welt soll ihm Rahmen von
allgemein anerkannten Prinzipien sein eigenes System definieren, dass seinen
Ansprüchen genügt.
F: Selbst innerhalb der
islamischen Widerstandsbewegungen gibt es unversöhnliche Positionen. Wie können
diese Konflikte gelöst werden?
I.H.: Es gibt
hier eine Analogie mit der Demokratie. Es gibt kein allgemein gültiges Modell,
das überall passen würde. Die Unterschiede bestehen auch wegen der
unterschiedlichen Kulturen und Bedingungen in den einzelnen Ländern. Aber wir
müssen diese Differenzen bei Seite schieben, gemeinsame Ziele entwickeln, die
uns zu vereinigen vermögen wie der Kampf gegen Besatzung, Fremdbestimmung,
Ungerechtigkeit oder den Raub unserer Ressourcen. Aber ganz werden wir die
Unterschiede nicht beseitigen können, denn die liegen in der menschlichen
Natur.
F: Zum Beispiel Jugoslawien:
Wie hätten beide Seiten, die muslimische und die serbische, den Bruderkrieg
verhindern und die gemeinsamen Interessen gegen die westliche Intervention in den
Vordergrund stellen können?
I.H.: Die
Nationalitäten lebten in Harmonie, integriert. Es gab viele gemischte Familien.
Und bis zum Ausbrechen des Konflikts waren die Bosnier Muslime nur dem Namen
nach. Sie befleißigten sich eines westlichen Lebensstils und kümmerten sich um
keinerlei religiöse Pflichten. Trotzdem gelang es den nationalen und religiösen
Bewegungen sie gegeneinander zu stellen und das Land zu spalten. Anfangs, als
noch kein Blut geflossen war, hätte man den Konflikt noch lösen können.
Die äußeren Mächte hätten
damals intervenieren können, um den Gang der Dinge aufzuhalten. Aber sie
schauten dem Sterben nur zu. Als sie dann schließlich eingriffen, taten sie es,
um sagen zu können: „Wir helfen den Muslimen, damit ihr uns nicht immer der Feindseligkeit
bezichtigen könnt.“ Immer wenn die palästinensische Frage angesprochen wird
oder wir die antimuslimische Aggression des Westens anklagen, kommt der Verweis
auf die Hilfe, die man den Moslems Jugoslawiens angedeihen habe lassen. Ich
glaube, sie machten das auch, um einen Vorwand zum Eingreifen zu haben.
Letztendlich haben beide
Seiten verloren und leiden bis heute unter den Konsequenzen. Sie sind noch
immer gespalten, ihre Probleme bleiben ungelöst und es scheint als könnte der
Konflikt jederzeit wieder ausbrechen. Nachdem aber die Hauptspieler des
Konflikts nicht mehr da sind, halte ich es für alle Parteien möglich, sich an
einen Tisch zu setzen und zu einer Einigung zu kommen.
F: Glauben Sie, dass Islam und
Sozialismus kompatibel sind?
I.H.: Es gibt im
Islam die Geschichte über einen Weggefährten des Propheten. Er hieß Abu Thar
Al-Ghafari. Einige meiner Studienkollegen meinten, dass er der erste islamische
Kommunist gewesen sei. Jedenfalls war der erste, der ein Sozialsystem
einführte, mit Arbeitslosenunterstützung und Alterspension, der zweite
Nachfolger des Propheten, Omar Ibn-Al-Khattab. Ja, wir können zusammenleben
aber man darf dabei nicht vergessen, dass der Islam nicht nur eine Religion
ist, die vorschreibt wie zu beten und Gott zu ehren ist, sondern sie regelt das
gesamte Alltagsleben wie Heirat und Scheidung und Haushalt.
Wien, 3. November 2006