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Analyse aus Beirut zur aktuellen Situation des Libanon

20. Dezember 2006

von Wa’ad El-Khatib, Libanon, 16. Dezember 2006

Der Menschenstrom, der Beirut am vorigen Sonntag, den 10. Dezember, überflutet hatte, hinterließ deutliche Merkmale in der libanesischen Politik und Gesellschaft. Dieser Menschenstrom drückte die Wahrheit über die politische Balance im Libanon aus, jene Balance, die lange vertuscht wurde. Die Regierung und ihre Medien mussten diese Balance immer vertuschen, um ihrer angeblichen Regierungsmehrheit eine Legitimität zu verschaffen, unter der Deckung der USA, Europa und den arabischen Staaten ihre Herrschaft über die libanesische Politik zu festigen, und schließlich endgültig den Libanon in den US-amerikanischen Einflusssphären zu verschieben.
Nur in diesem Sinne können die Bewegungen der libanesischen Opposition und die Folgen dieser Bewegungen verstanden werden. Diese können nicht auf die Forderung der Opposition nach dem Drittelanteil an der Regierung reduziert werden. Vielmehr hängen sie darüber hinaus mit der regionalen und internationalen politischen Realität zusammen, und mit den dort vorhandenen Widersprüchen und Konflikten. Nur dies kann die Unterstützung der USA, sowie auch der einflussreichen arabischen Regime wie Ägypten und Saudi Arabien, aber auch Israels an die illegitime Siniora-Regierung erklären.
Daher kann zweifelsfrei gesagt werden, dass die jetzige komplexe Situation im Libanon eine logische Kontinuität des heurigen Juli-Krieges ist, aber mit anderen Mitteln.

Wenn während des Juli-Kriegs Israel die Hauptpartei war, dann ist diese jetzt die libanesische Regierung. Ein Rollentausch, denn wenn der Krieg zwar von Israel geführt und von der Regierung begrüßt und unterstützt wurde, dann führen heute die Regierungskräfte diesen weiter, mit israelischer Begrüßung und westlicher Unterstützung.

Auf dieser Basis kann man nun auf die Kräftebalancen der jetzigen Konfrontation und die erwarteten Kompromisse bzw. Szenarien eingehen:

Das pro-Regierungs-Lager besteht aus dem antisyrischen 14. März – Block, dessen Kern die Mustaqbal- (Zukunft) Strömung ist. Die Mustaqbal basiert auf den sunnitischen Sphären, und erhält ihre Kräfte aus dem sunnitischen Polit-Kapital und den konfessionellen Zugehörigkeiten, welche selbst ein Produkt der historischen Konflikte zwischen regierenden moslemischen Eliten und den anderen moslemischen Oppositionskräften sind, und den theologischen Differenzen zwischen den zwei Richtungen, welche einen politischen und sozialen Ausdruck erhielten. Dazu kommen regionalen Faktoren: der Krieg im Irak und die zweideutigen Haltungen der irakischen Schiiten riefen eine emotionale Reaktion in den sunnitischen Gemeinden hervor, die den Schiiten die Verantwortung für den Fall der irakischen Regierung und der amerikanischen Besatzung zuschieben.

Die beiden moslemischen Gemeinden erhielten zwar nominal gleichverteilte Macht im post-kolonialen konfessionellen System, jedoch konnte das politische Sunnitentum gemeinsam mit dem politischen Christentum die wirtschaftliche und politische Hegemonie erlangen, während die schiitischen Gebiete immer von Armut und Marginalisierung gekennzeichnet waren. Dies erklärt die große schiitische Präsenz in den linken und panarabistischen Oppositionsparteien. Die iranische Revolution im Jahr 1979 gab dem libanesischen politischen Schiitentum den Start und führte zur Bildung der Amal-Bewegung und später von Hisbollah, die die Mehrheit der Schiiten anziehen konnten.
Das Kristallisieren des politischen Schiitentums trug zur Zunahme der Beteiligung der libanesischen Schiiten am politischen Leben des Landes bei, was sich auch im Taif-Abkommen zur Beendigung des Bürgerkrieges und zur Machtteilung unter den Konfessionen verstärkt ausdrückte. Die zunehmende Rolle der Schiiten drückte sich auch im Widerstand im Süden gegen die israelische Besatzung aus. Da spielten die Schiiten die Hauptrolle und waren die Hauptträger der Widerstandsbewegung, dies sowohl wegen der Demographie des mehrheitlich schiitischen Südens, als auch durch die politische Allianz mit Syrien.

Hingegen schrumpfte die Rolle des politischen Sunnitentums in sich zusammen, weil dieses immer mit dem offiziellen arabischen Regime zusammenhing. So sammelten sich die Mehrheit der Sunniten um den Nasserismus, und später den palästinensischen Widerstand, verband sich aber auch teilweise mit dem saudi-arabischen Wahabitismus. Diese Abhängigkeit des politischen Sunnitentums mit dem offiziellen arabischen Regime führte zu seiner Schwächung als Folge des Zusammenbrechens des zweiten.

In dieser Phase der Schwäche und des politischen Verfalls, und in der neuen politischen Landkarte der Neunziger, stellte der Aufstieg von Rafiq Hariri, basierend auf dem politischen Kapital, einen Balanceakt für die Sunniten dar. Dies ermöglichte es Hariri, die Hegemonie im sunnitischen Lager zu erlagen und alle anderen politischen und religiösen Figuren zu eliminieren bzw. zu marginalisieren. Hariri war nicht nur ein sehr tüchtiger Geschäftsmann, sondern auch Träger eines Projektes, in dem sich der Libanon an der internationalen Lage einer monopolaren Weltordnung, dem Zeitalter der Amerikanisierung und des „New Middle East orientiert.

Daher hat der Mord an Hariri für die sunnitische Gemeinde einen Angriff auf ihre Rolle und Existenz bedeutet, was die damalige Massenunterstützung an die Hariri-Erben erklärt. Der zunehmende Einfluss des Irak-Krieges und des dort stattfinden Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten, die iranisch-saudiarabische Konkurrenz und die daraus resultierenden sunnitisch-schiitischen Gegenmobilisierungen, führten zu einer Neupositionierung der libanesischen Sunniten in dem anti-syrischen und anti-iranischen Lager, was lokal eine Konfrontation mit dem politischen Schiitentum und daher dem Widerstandslager, nach dem Prinzip von „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ bedeutete.
Diese Situation war aber keine statische und schon gar nicht absolute Positionierung. Der Juli-Krieg änderte wieder die Gleichung: die zweideutigen, teilweise der zionistischen Aggression begrüßenden Haltungen des Hariri-Lagers entwickelten sich später zu einer Angst vor einem Sieg des Widerstands. Nach dem Krieg arbeiteten sie daran, den Sieg des Widerstands zu entleeren und ihn in eine politische Niederlage umzuwandeln. Dieser Angriff auf den Widerstand und seine Errungenschaften führte zu einem allmählichen Neuorientierungsprozess unter den Sunniten, auf der Basis der patriotischen Geschichte der Sunniten und der Feindschaft zum US-Imperialismus.
Der Hariri-Lager machte weitere politische Fehler: in seiner Panik bedrohte es nach dem Prinzip „wer nicht mir uns ist, ist gegen uns“ jene sunnitischen Führungen, die mit seiner Politik nicht einverstanden und gegen eine Konfessionalisierung des politischen Konfliktes waren. Es hat sich herausgestellt, dass eine konfessionelle Mobilisierung nicht mehr so effektiv ist, nachdem klar wurde, dass die „Anderen“ nicht nur Schiiten sind, sondern Libanesen aller Konfessionen.
Hier kommt auch die Rolle des Patriarchen Sfeir und seine zweideutige Haltung hinzu. Er ist für eine nationale Einheitsregierung, aber gegen Straßenproteste. Er ist auch gegen den Präsidenten Emil Lahoud und fordert seinen Rücktritt, ist aber auch dagegen, ihn durch Massenproteste zu stürzen. Obwohl die Mehrheit der libanesischen Christen die Strömung von Aoun und Fringeyyeh unterstützen und an den Bewegungen der Opposition teilnehmen, lehnt er eine positive Wendung zur Opposition ab. Seine Passivität wird als Unterstützung der Regierung und der 14. März -Kräfte verstanden.
Der hoffnungslose Versuch der illegitimen Regierung, bei den Massenmobilisierungen den Anschluss nicht zu verlieren sowie alle ihre schüchternen Mobilisierungen in einigen Regionen, deuten nur auf ihre politische Pleite. Die leere Drohung mit der „Gegenstraße“ wurde sogar von der Opposition begrüßt, denn gerade dies würde die Schwäche der Regierung beweisen, und die Oberhand der Opposition unter den Volksmassen beweisen.

Worauf verlassen sich also die Pro-Regierungs-Kräfte? Eine wichtige Frage, die ihre Antwort immer noch sucht, besonders nachdem alle Bemühungen, den Spalt zu überbrücken, gerade von diesen Kräften vernichtet werden.
Es ist offensichtlich, dass die Hauptquelle, die den Regierungskräften den Mut und die Zuversichtlichkeit bei ihrer sturen Haltung gibt, die unbegrenzte amerikanische und französische Unterstützung zur Siniora-Regierung ist. Diese Unterstützung einer illegitimen Regierung macht jedes Gerede dieser Staaten über Demokratie zunichte, besonders nachdem die Beteiligung an den Kundgebungen am vorigen Sonntag, den 10. Dezember den Charakter einer Volksabstimmung annahm.
Hierzu müssen die externen Einflüsse in Betracht gezogen werden, im Hinblick auf der einerseits uneingeschränkten westlichen Unterstützung für diese Regierung, und andererseits die syrisch-iranische Allianz, aber auch die aktuelle Situation im Irak und in Palästina.
Die Optionen der Regierungskräfte sind limitiert: Zum Beispiel hat der historische Alliierte Syriens, Walid Jumblat, das Lager komplett gewechselt, und mit allen Kräften die andere Seite unterstützt. Er plädiert heute für die Neugestaltung Libanons im Sinne der jetzigen Kräftebalancen in der Welt des Antiterrorkrieges. Er setzte auf die Unterstützung der westlichen Staaten und die Krise des syrischen Regimes, sowie auch auf den Krieg vom Juli. Diese Option hindert die Regierungskräfte daran, Kompromissbereitschaft vor den Bewegungen der Opposition und die von ihr organisierten Volksmobilisierungen zu zeigen, denn dies würde alle Regierungskräfte in eine noch kompliziertere Situation bringen.

In der libanesischen politischen Tradition, werden solche politische Krisen durch Kompromisse gelöst. Diese Kompromisse sind jedoch nie durch die Bemühungen interner Kräfte erreicht worden, sondern durch ausländische Interventionen zustande gekommen.
Offensichtlich ist heute die internationale Situation nicht reif, um zu einem Kompromiss zu verhelfen. Auf der internationalen Ebene sind die USA primär mit dem Irak beschäftigt, während ihre Interessen im Libanon verdächtigerweise zweitrangig wurden. Anscheinend versuchen die USA die Lösung dieser Krise zu verschieben, nachdem es sich zeigte, dass die Widerstandskräfte trotz dem Krieg vom Juli noch intakt sind, während die 14. März-Kräfte ihre Unfähigkeit bewiesen, die ihnen zugeordnete Rolle zu erfüllen. Die USA warten auf günstigere Bedingungen, um die Widerstandskräfte zu isolieren und zu beenden. Stehen wir also vor einem Chaos a la Libanese?

Auf der regionalen Ebene sind die einflussreichen Länder in ihrer Bewegung limitiert, besonders durch die Verschlechterung der syrisch-saudischen Beziehungen nach dem Anschlag auf Hariri. Der Erfolg jeder regionalen Vermittlung hängt von der Verbesserung dieser Beziehungen ab. Es wird von schüchternen Versuchen in diesem Sinne geredet, die hinter den Kulissen stattfinden, jedoch bleibt jede Vermittlung auf einen US-amerikanischen Segen angewiesen, und die USA haben bisher keine positiven Signale gesendet.

Der Erfolg von jeder Vermittlung bzw. Kompromiss ist nur bewerkstelligt, wenn die Opposition das Drittel in der Regierung erhält. Diese Forderung der Opposition ist besonders dringlich, nachdem es der Opposition und den Widerstandskräften ersichtlich wurde, dass diese Regierung eine Agenda in Libanon hat, die teilweise mit den Interessen der 14. März-Kräften zusammenhängt, jedoch teilweise auch von den Interessen der Schutzmächte (USA und Frankreich) determiniert ist. Die Handlungen der Regierung während des Juli-Krieges, und während des folgenden Wiederaufbaus, deuten auf die Inhalte dieser Agenda.

Wenn auch die Form der Forderungen der Opposition eine Drittelbeteiligung an der Regierung ist, geht es im Inhalt um die folgenden Punkten:

…· Den Sieg des Widerstands zu festigen, durch die Bewahrung der Unabhängigkeit und der arabischen Identität des Libanons, und eine souveräne Regierung zu schaffen, welche die amerikanische Vormundschaft abschüttelt.
…· Eine christliche Beteiligung an der Macht zu schaffen nach den Ergebnissen der letzten Parlamentswahlen: die heute von der Regierung ausgeschlossene Aoun-Strömung erhielt damals fast 80% der christlichen Stimmen.

Obwohl heute intensiv über das internationale Gericht zum Mord an Hariri geredet wird, ist dieser Prozess eigentlich von allen Kräften im Libanon akzeptiert worden. Streitpunkt ist jedoch die Natur und die Kompetenzen dieses Gerichts. Die Hariri-Strömung sehen in diesem Gericht ein Mittel, um die Täter zu finden und die Drahtzieher zu bestrafen, während Jumblat und die anderen 14. März-Kräfte das Gericht als ein Mittel sehen, ihre Existenz zu sichern, die ihrer Meinung nach nur durch den Sturz des syrischen Regimes möglich ist. Die Opposition sieht hingegen in diesem Gericht eine Parallele zu dem Waffeninspektionskomitee im Irak, das als eine Brücke dazu diente, der Invasion des Iraks Legitimität zu verschaffen. Daher fordert die Opposition, die Details dieses internationalen Gerichts zu klären, bevor es akzeptiert wird.

Was die aktuelle politische Lage betrifft, so bleibt die Konfrontation im Moment auf dem selben Niveau wie in den letzten Monaten. Die TV-Stationen der beiden Lager führen gegenseitige Kampagnen mit den Maximen der jeweiligen Seite. Die sudanesischen Initiative (der Sudan hat im Moment die Präsidentschaft der arabischen Liga inne hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Optimismus über einen möglichen positiven Ausgang auf der Basis eines Kompromisses ist jedoch plötzlich verschwunden, nachdem die Regierungskräfte keine positiven Zeichen von sich gaben, was auf eine Intervention des US-Botschafters hindeutet.
Interessant ist hier auch die Anschuldigung Sinioras an den Parlamentschef Nabih Berri (Opposition), das Parlament weigere sich, seine Verantwortung zu übernehmen. Dies deutet auf die Absichten des 14. März-Lagers, die Antwort auf die Vorschläge des sudanesischen Delegierten auf eine für die Regierung günstigere Zeit zu verschieben, da im Moment die Opposition einen Punkte-Vorsprung hat.
Der Rückkehr von Amru Mousa, dem Generalsekretär der arabischen Liga in den Libanon nach seinem Besuch in den USA deutet auf zwei Möglichkeiten hin: Entweder erhielt er ein amerikanisches und saudisches grünes Licht für eine Lösung, oder ist es nur ein Manöver, um Zeit zu gewinnen.
Weit vom Medienkrieg zwischen beiden Lagern, der nicht immer den reellen Stand der Verhandlungen weitergibt, ist es auf nationaler Ebene verlangt, einen Kompromiss zu erreichen, der alle Seiten zufrieden stellt. Gescheht das nicht, so wird jeder der beiden Seiten gezwungen, die Konfrontation zu ihrer Gunsten zu entscheiden, was die Tür für unvorhersehbare Möglichkeiten öffnet.

Die letzten Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Libanesen (73%) eine nationale Einheitsregierung verlangen. Ein großer Anteil erwartet einen Ausbruch von Gewalttaten. Diese Befürchtung wird durch die bisher vereinzelten Ereignisse verstärkt, besonders wenn heute auch von einer Bewaffnung innerhalb der 14. März-Kräfte (die Mustaqbal-Strömung, Jumblats „Sozialistische fortschrittliche Partei“ und Jaejaes „Libanese Forces“) gesprochen wird. Eine weitere „sunnitische“ Militärgruppe im Aufbau ist der Versuch von Ahmad Khatib, der ehemalige Führer der “ Arabischen Armee Libanons“ der moslemische Spaltung der Armee während des Bürgerkriegs, die ehemaligen Elemente wieder in die „Bewegung Arabischer Libanon“ zu rekrutieren. Dies geschieht mit der Finanzierung von Hariris Mustaqbal-Strömung.
Im selben Kontext können die jüngsten Aussagen des sunnitischen Mufti Qabbani betrachtet werden. Obwohl er nach seinem Treffen mit dem ehemaligen Premierminister Karami die Krise als eine politische und keine konfessionelle Krise bezeichnete, hat der Mufti eine wichtige Rolle in der anti-schiitischen Mobilisierung der Sunniten zugunsten Hariris. Er betrachtete anfangs die neuen Ereignisse als eine Bedrohung der Stellung der Sunniten im Libanon. Kann seine neue Bezeichnung der Krise als eine Änderung in seiner persönlichen Position verstanden werden? Oder waren diese ein Produkt von plötzlichen Verschiebungen der Lager? Kommt weißer Rauch aus dem Kamin des Muftis?

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