Kurz vor Weihnachten ist dem ÖGB der Verkauf der BAWAG geglückt. Die Optik – Verkauf an einen amerikanischen Finanzinvestor – war nicht sehr günstig, dennoch muss der Gewerkschaftsführung ein Stein vom Herzen gefallen sein. Die katastrophalen Finanzspekulationen haben dem ÖGB die BAWAG gekostet, aber der Konkurs wurde abgewendet und auch die Staatshaftung muss wohl nicht mehr in Anspruch genommen werden. Dennoch: der Imageschaden ist beträchtlich, die offizielle Führung der Arbeiterbewegung war offensichtlich in wilde Spekulationsgeschäfte verwickelt und genießt obendrein gewaltige Privilegien, die durch den BAWAG-Skandal in die Öffentlichkeit gezerrt wurden. Heute ist „Verzetnitsch“ nicht ohne „Penthouse“ zu denken.
Lange Krise
Der BAWAG-Skandal ist allerdings weder der Anfang noch das Ende der Schwierigkeiten der Gewerkschaft. Seit Jahren fällt die Mitgliedschaft – was unter anderem finanzielle Schwierigkeiten bedeutet – und die institutionelle Verankerung des ÖGB ist nicht mehr jene, die sie einmal war. Früher wurde der Milchpreis von einer paritätischen Kommission festgelegt und jedes Gesetz zur Begutachtung vorgelegt. Die „Sozialpartner“ waren integraler Bestandteil der Staatsmaschinerie und auch der Gesetzgebung. Heute dürfen Gesetze immer noch begutachtet werden – nur interessiert sich kaum jemand dafür, was ÖGB und Arbeiterkammer dazu sagen. Seit Jahren kann man sich fragen: Droht dem ÖGB das Schicksal der Gewerkschaften der anglosächsischen Staaten, wird er praktisch zerschlagen und gesellschaftlich völlig marginalisiert?
Die britische Gewerkschaftsbewegung wurde Anfang der 80er Jahre von der Regierung Thatcher in den großen Bergarbeiterstreik gezwungen und nach heroischem Kampf vernichtend geschlagen. Mehr als ein Jahr Widerstand wurden von der Regierung teilweise ausgesessen, teilweise mit Polizeigewalt unterdrückt, danach schließlich der Arbeitsmarkt „liberalisiert“ – Neusprech für geringeren Kündigungsschutz, sinkende Reallöhne und eine verstärkte Lohndifferenzierung. Parallel dazu wurde der staatliche Einfluss in der Wirtschaft insgesamt zurückgefahren, staatliche Regulierung aufgegeben, die große Staatsindustrie verkauft oder zugesperrt. Der europäische Neoliberalismus war geboren. Auch ohne die direkte politische nach britischem Vordbild durchgeführte Attacke findet sich die österreichische Gewerkschaftsbewegung in der Krise: Internationalisierung und Technologisierung bilden die Zwingen des Schraubstocks durch den der gewerkschaftliche Spielraum immer weiter eingeengt wird. Die Internationalisierung beginnt Anfang der 80er Jahre und gewinnt in den 90er Jahren durch Ostöffnung und Europäischen Binnenmarkt gewaltig an Fahrt. Hauptsächlich werden arbeitsintensive Produktionen in Billiglohnländer verlagert, aber auch Fertigung mittlerer Technologie lässt sich in Osteuropa (und schon bald wohl auch in China) betreiben. Aber schon für die alten EU-Länder gilt: je größer der Markt, je heterogener Sozialgesetzgebung, Steuersystem und Traditionen der Lohnfindung, um so leichter lassen sich Standorte gegeneinander ausspielen. Die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht nimmt im selben Ausmaß ab, wie die Belegschaften durch Auslagerungen erpressbarer werden. Neben der Internationalisierung spielt aber auch die Veränderung der Arbeitswelt durch neue Technologien und Automatisierung eine wesentliche Rolle, weil in Lohnniveau und Interessen weitgehend homogene Belegschaften zunehmend zersetzt werden und schneller wechselnde Konsummuster kleinere Serien und flexiblere Arbeitsverhältnisse erzwingen. Die Gewerkschaft zieht sich dabei auf die Kernbelegschaften und den relativ geschützten öffentlichen Bereich zurück, jene Teile der Arbeitswelt in denen die Verhältnisse der 70er Jahre noch am ehesten zu finden sind. Sie scheint einfach nicht dazu in der Lage zu sein die neuen Formen der Prekarisierung, der Scheinselbstständigkeit und der Neuen Armut aufzugreifen.
Die Krise der Gewerkschaft ist offensichtlich, wird ja auch von der ÖGB-Führung festgestellt. Nicht um sonst gibt es Mitgliederbefragungen und das Bekenntnis zur Erneuerung – Ergebnis ist nach einigen Monaten der Reformdebatte allerdings keines absehbar. Das hat strukturelle Gründe, denn tatsächlich befindet sich die Gewerkschaft nicht in einem Todeskampf der nur mit radikalen Maßnahmen überwunden werden könnte. Im Gegensatz zu vielen Kommentatoren der Linken sind wir der Überzeugung, dass dem ÖGB ein britisch-amerikanisches Schicksal erspart bleiben wird.
Unverzichtbarer Bestandteil des österreichischen Kapitalismus
Heute könnte niemand ernsthaft bezweifeln, dass der österreichischen Regierung und Industriellenvereinigung grundsätzlich unmöglich wäre, was die englische Regierung in den 80er Jahren getan hat. Mehr noch: der ÖGB hat wohl kaum ein Zehntel der Kampfbereitschaft der britischen Bergarbeiter. Tatsächlich gab es ja auch einige Stimmen, die genau dieses Vorgehen von der soeben abgewählten schwarz-blauen Regierung erwartet hatten, sei es affirmativ von wirtschaftsliberaler Seite, oder auf der Linken, um die große Gefahr des Bürgerblocks zu beschwören. Nach 20 Jahren Neoliberalismus, dem Ende von Schwarz-Blau und in der sicheren Überzeugung dass ein Kanzler Gusenbauer keine totale Konfrontation mit dem ÖGB führen wird, kann man eines sagen: Der ÖGB hat nicht mehr die Rolle der Nachkriegszeit, aber ebenso wenig droht ihm ein britisches Schicksal. Die Gefahr für die Gewerkschaftsbewegung droht nicht von der Seite der totalen Konfrontation, sondern im Gegenteil, aus der fortgesetzten Integration. Der ÖGB wird im Augenblick redimensioniert, verkleinert, oder wie man heute sagt „strukturangepasst“. Aber der österreichische Kapitalismus wird an der Sozialpartnerschaft festhalten, nur gilt sie in Zukunft nicht mehr für alle, sondern nur mehr für einen relativ bevorteilten Kern.
Nach 25 Jahren wirtschaftsliberaler Offensive und tiefem gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Strukturwandel wird es an der Zeit festzustellen, dass Kontinentaleuropa weder Großbritannien, noch die USA ist. Natürlich: Viele Teile der wirtschaftlichen Systeme wurden homogenisiert oder internationalisiert, vor allem die Kapitalmärkte und die damit zusammenhängende Unternehmensfinanzierung, ebenso wie das heute praktisch einheitliche Freihandelsregime. Das bedeutet aber nicht, dass für die Sozialpartnerschaft kein Platz mehr ist, tatsächlich ist kein großer Bruch des Korporatismus, der institutionalisierten Zusammenarbeit zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaft zu bemerken. Kontinentaleuropa scheint hier vom anglosächsischen Weg des Kapitalismus weiterhin abzuweichen.
Gerade die relativ zentralisierte Form der Lohnverhandlung bringt den Unternehmen zahlreiche Vorteile, weil es ohne große Mühe gelingt von der Gewerkschaftsführung „Verantwortung“ für Volkswirtschaft und Standort zu verlangen. Heute ist der ÖGB in das makroökonomische Standortmanagement voll eingebunden, und übt „Zurückhaltung“, um die internationale Konkurrenzfähigkeit Österreichs nicht zu gefährden. Auch aus Unternehmersicht ist es zu bezweifeln, dass ein völlig freier Arbeitsmarkt niedrigere Löhne bedeuten würde – das Niedriglohnsegment wird über die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse ohnehin gewerkschaftlich de facto nicht mehr betreut, und für den Rest des Arbeitsmarktes würde das Ende der Kollektivverträge wohl größere Lohndifferenzierung bedeuten – deswegen aber nicht unbedingt geringere Gesamtkosten. Der Erhalt der Gewerkschaft macht für die Unternehmen außerdem die Lohnverhandlung berechenbarer und ist ein nicht unwesentliches Führungs- und Kontrollinstrument, um Neuerungen, technologischen und organisatorischen Wandel, konfliktfreier durchzusetzen. Solange es aber für den ÖGB einen Platz im österreichischen Kapitalismus gibt, solange wird er aber auch überleben. Nicht weil er für seine Mitglieder höhere Löhne herausschlägt, sondern weil ihm die Einbindung den Erhalt klientelistischer Netzwerke erlaubt. Es ist an der Zeit der Wahrheit ins Auge zu sehen: nicht die Bereitschaft zum Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse hält heute den ÖGB zusammen, sondern die Aussicht auf Posten. Aus diesem Grund wird die ÖGB Krise auch vorübergehen, ohne dass es zum Tod der Gewerkschaft oder zu gewaltigen Änderungen kommt. Die Führungsschicht ist mit dem status quo tatsächlich nicht unzufrieden, für größere Reformen fehlt Notwendigkeit und Radikalismus. Falls es nicht zu massiven politischen Erschütterungen kommt, wird sich die Gewerkschaft in die „Sozialpartnerschaft neu“ ebenso einfügen wie in die alte. Allerdings: die neue form des Korporatismus ist eben beschränkt, und wird einen Anspruch auf allgemeine Vertretung nicht mehr aufrechterhalten können. Und auch für die noch gewerkschaftlich vertretenen Teile Verändert sich die Rolle der Gewerkschaft, vom Verhandlungspartner der Unternehmer im Rahmen eines nationalstaatlich organisierten Interessensausgleich zum Vermittler sozialer Restrukturierung im Rahmen der internationalen Konkurrenz. Heißt im Klartext (unter anderem): Fortgesetzter Lohnverzicht. Auf dieser Grundlage ist die Legitimität der Gewerkschaftsführung und ihrer Privilegien einem stetigen Erosionsprozess unterworfen sein. Daraus können durchaus auch Alternativen und das Bedürfnis nach echter Veränderung hin zu einer kämpferischen Bewegung entstehen. Es ist aber auszuschließen, dass so etwas die Gewerkschaft als ganzes erfassen kann und benötigt obendrein gewaltigen Druck von außen.
Alternative: Politisierung
Die Alternative zum verlässlichen Gestalter des österreichischen Kapitalismus kann aber keine „Rückkehr“ zu alten kämpferischen Traditionen sein. Erstens sind diese in Österreich nicht existent. Der ÖGB der 70er Jahre war in anderer Form in den Staatsapparat integriert, aber sicher nicht kämpferischer. Auf der anderen Seite sind der traditionellen Gewerkschaftspolitik heute tatsächlich Grenzen gesetzt: Globalisierung, Deindustrialisierung und der Zerfall homogener Belegschaften würden auch der kämpferischsten Gewerkschaft Probleme bereiten. Der Weg aus dieser Sackgasse funktioniert nur über die Politisierung, nur so ist eine Verallgemeinerung der Interessen und die Integration prekarisierter Schichten noch zu erreichen. Das gilt aus revolutionärer Perspektive, denn kein betrieblicher Kampf ist heute noch in der Lage grundsätzliche Alternativen aufzuzeigen. Das gilt aber auch aus kämpferisch-reformistischer Perspektive: Forderungen wie jene nach gesetzlichem Mindestlohn sind heute nur mehr politisch, nicht mehr gewerkschaftlich zu erreichen. Auch zur Kontrolle der Globalisierung müsste man das Freihandelsregime wenigstens in Teilbereichen aufbrechen. Im Prinzip wäre letzteres die Perspektive der westdeutschen WASG des Oskar Lafontaine. Voraussetzung für eine solche Entwicklung wäre allerdings nicht nur das Bekenntnis zur Politik, sondern vor allem der Bruch mit der SPÖ. Ohne den Bruch mit der SPÖ bedeutet Gewerkschaftspolitik zwangsläufig die Teilnahme am neoliberalen Standortmanagement.
Nur wie soll eine solche Politisierung erreicht werden? Viele der Perspektiven der gewerkschaftlichen und außergewerkschaftlichen radikalen Linken erscheinen problematisch. Das gilt für die Forderung nach dem „kämpferischen ÖGB“, die Forderung nach „Demokratie“, sowie nach „Unabhängigkeit von der SPÖ“. Natürlich wäre ein kämpferischer, demokratischer und unabhängiger ÖGB wünschenswert, die Forderung danach kann dazu dienen zukünftig notwendige Gewerkschaftspolitik zu umreißen. Allerdings muss man sich über eines im klaren sein: wenn der ÖGB im politischen System Österreichs weiterhin seinen festen Platz zugeordnet bekommt, dann gibt es keine Totalreform, keine Möglichkeit die Gewerkschaftsspitze als ganzes zu verdrängen oder zum Kurswechsel zu zwingen. Die politisierte und potentiell revolutionäre Gewerkschaft benötigt einen Bruch des ÖGB, denn der ÖGB als ganzes wird zu solch einer Transformation niemals in der Lage sein. Allerdings wäre ein Aufruf zur Spaltung des ÖGB angesichts der Kräfteverhältnisse heute völlig vermessen und sinnlos, ebenso wie der einfache Austritt aus der Gewerkschaft. Realistisch kann es nur eine Perspektive für die Erneuerung der Gewerkschaftspolitik geben: die selbstständige Organisierung. Diese mag innerhalb des ÖGB geschehen, in vielen prekarisierten Bereichen, in denen die Gewerkschaft heute kaum noch eine Rolle spielt genauso außerhalb. Vor allem aber muss man um politische, nicht rein gewerkschaftliche, Achsen organisieren. Dem Neoliberalismus muss in erster Linie eine politische Alternative gegenübergestellt werden.