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Schlächter oder Märtyrer?

26. Januar 2007

Zu Saddam Husseins Tod als Antwort an unsere Kritiker, Intifada Nr. 23

Die Hinrichtung Saddam Husseins gab Anlass zu einer in der europäischen antiimperialistischen Linken geführten Debatte über die Person Husseins und die politische Bedeutung seines Todes. Wir veröffentlichen im Folgenden einen Kommentar dazu.

In der Gesellschaft wie in der Politik gibt es kein Schwarz-Weiß-Schema, insbesondere nach dem Zusammenbruch der historischen Mission des Proletariats als globale politische Alternative zum Kapitalismus. Vielmehr gibt es viele handelnde Subjekte, die in einem komplizierten Geflecht von Interessen sich verbinden oder mit einander zusammenstoßen. Aufgabe der revolutionären Antiimperialisten, die global gesehen eines dieser Subjekte sind, ist es, diese Interessen möglichst gegen das imperialistische Zentrum zu bündeln und die Konflikte untereinander zu dämpfen oder gar zu lösen.

Dass die klaren Linien des proletarischen Klassenkonfliktes abhanden gekommen sind, heißt jedoch keineswegs, dass man in Konflikten nicht mehr Seite beziehen kann und darf. Vielmehr geht es um die Einordnung der Konflikte, um die Analyse ihres Charakters, der involvierten Kräfte und ihrer möglichen Entwicklungsrichtungen.

Die Hinrichtung Saddam Husseins war so ein Fall, in dem Antiimperialisten klar Stellung beziehen müssen. Die relevante Fragestellung, unter der dieses Ereignis zu beurteilen ist, ist eine globale und sie kommt beispielsweise im Kommuniquà© des venezolanischen Außenministeriums klar heraus: Die Hinrichtung Saddam Husseins ist eine Demütigung aller unterdrückten Völker der Welt, insbesondere der arabischen, und sie ist ein Angriff auf das Völkerrecht und auf das Prinzip der nationalen Souveränität. Sie ist ein Baustein im globalen US-amerikanischen Terrorkrieg. Daran ändert die Tatsache, dass auch Saddam Hussein in seinem politischen Leben grobe Verbrechen begangen hat, nichts. Um vieles schwerer wiegen hingegen in diesem Zusammenhang die Verbrechen der USA und ihrer Schergen.

Doch analysieren wir die Ereignisse im Detail. Das Spektakel wurde von den Machthabern in Washington medienwirksam auf der Weltbühne inszeniert. Dabei ging es darum, einen Staatsmann zu demütigen, Rache zu nehmen, dafür, dass er es gewagt hatte, Widerstand gegen das Diktat der Weltenlenker zu leisten. Es genügte nicht, einen Schurkenstaat zu zerschlagen, sein höchster Repräsentant musste physisch ausgelöscht werden. Zwar werden seine Verbrechen am irakischen Volk zur Legitimation dieses Fememords gerne in Anspruch genommen, doch trifft das weder den Kern, noch erinnert man sich all zu gerne daran, denn man war ja schließlich beteiligt.

Mit bürgerlich-demokratischer Rechtsprechung und einem ebensolchen Strafvollzug hatte der Prozess und die Hinrichtung nichts zu tun, so sehr die USA sich auch brüsten, Freiheit und Demokratie importiert zu haben. Vielmehr ähnelte das Schauspiel der amerikanischen Lynchjustiz oder der mittelalterlichen europäischen Inquisition. Es handelt sich um klassische Siegerjustiz, wo der Gegner als Exempel für die noch vorhandenen Kräfte des Feindes vernichtet werden soll, zum Zweck der Abschreckung und Demoralisierung. Es ist das Rechtsverständnis der protestantischen Fundamentalisten und der Neocons. Die Rechte des Angeklagten sind nur insofern interessant, als sie für den Medienkonsum der liberalen Mittelschichten vorgegaukelt werden müssen.

Die USA zeigen bezüglich dieser Hexenverbrennung scheinheilig auf die vermeintliche irakische Unabhängigkeit und weisen jede Verantwortung von sich. Doch das ist mehr als unglaubwürdig. Sicher, die Einzelheiten der Hinrichtung wurden von ihren irakischen Verbündeten entschieden. So hatte einer der treuesten US-Verbündeten in der Region, Ägyptens Autokrat Hosni Mubarak, die USA gewarnt, die Exekution nicht am Tag des sunnitischen Opferfestes durchzuführen. Man verlieh ihr damit zusätzlich noch eine schiitisch-konfessionalistischen Konnotation. Scheinbar wollten al Mailiki und seine Henker auf diese Provokation nicht verzichten, die nicht im Interesse der USA ist. Doch sie waren es, die Saddam in ihrer Gewalt hatten und sie übergaben ihn erst, als sie seiner Exekution sicher waren. Sogar die westliche Medienmaschine berichtete, dass es Bush höchstpersönlich war, der angesichts der Proteste seine Zustimmung dafür gab, dass der Leichnam an seinem Heimatort bestattet werden konnte.

Oft werden uns die Verbrechen Saddams entgegengehalten. Das ist besonders irritierend, denn es waren die Antiimperialisten, die diese Verbrechen aufs Tapet gebracht und darauf hinwiesen, als dies niemand hören wollte. Diese fanden großteils in der Zeit des Iran-Irak-Krieges oder bereits 1975 statt, als Saddam über das Abkommen mit dem Schah von Persien mit den USA Frieden geschlossen hatte. Der Handschlag mit einem gewissen Mr. Donald Rumsfeld datiert vom Höhepunkt des Krieges gegen den Iran, in dem die USA über verschiedene Marionetten je nach Kriegsglück und Frontverlauf abwechselnd beide Seiten unterstützten, um potentielle Gegner sich gegenseitig abschlachten zu lassen. Die westdeutsche Waffenindustrie verdiente sich an den Giftgaslieferungen sowie am Technologietransfer goldene Nasen.

Saddams größtes politisches Verbrechen war dieser Krieg gegen den Iran und der wurde vom Westen explizit unterstützt.

Zu Recht wird ihm die Unterdrückung der Kurden angelastet. Aber auch hier muss man sich den Kontext vergegenwärtigen. Von allen Ländern, in denen authochton Kurden leben, gestand ihnen der Irak die bei weitem größten Minderheitenrechte zu. Deren Einschränkung war im Wesentlichen ein Gegenstand des Abkommens mit dem Iran 1975, das von den USA unterstützt wurde. Ihren Höhepunkt fand die Unterdrückung im Krieg gegen den Iran, in dem es im Rahmen der Anfal-Kampagne zu den bekannten Giftgasangriffen kam, die wiederum die Duldung des Westens genossen.

Zu keinem Zeitpunkt erreichte Saddam das Maß an Menschenverachtung und Willen zum Völkermord, wie es beim strammen NATO-Regime in Ankara bis heute vorliegt. Dem türkischen Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden sind mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer gefallen, mehrere Millionen wurden vertrieben (der Begriff der „ethischen Säuberung“ wird bekanntlich nur dann angewendet, wenn sie gegen die Interessen des Westens verstoßen). Dass die Türkei über eine Generalabsolution verfügt und sich demokratisch nennen darf, zeigt die Verlogenheit der westlichen Propaganda gegen Baath und Saddam.

Doch setzen wir nun die Verbrechen Saddams – die es, wie gesagt nicht gilt, zu schmälern – im irakischen Kontext in Vergleich zu den US-amerikanischen. Das mit Abstand schlimmste und größte Verbrechen, das jemals im Irak begangen wurde, ist das von den USA betriebene UNO-Embargo, das nach Angaben dieser Organisation selbst etwa zwei Millionen Opfer mit sich brachte. Clintons Außenministerin, Madeleine Albright, hatte die Stirn, diesen Völkermord mit den Interessen der USA, die ja bekanntlich deckungsgleich mit jenen der Menschheit sind, zu rechtfertigen.

In einem globalen Zusammenhang, und von diesem muss bei der Beurteilung der Hinrichtung Saddam Husseins ausgegangen werden, ist das Ungleichgewicht zwischen den Verbrechen der USA und jenen Saddams himmelschreiend. Rechnet man alle imperialistischen Kriege und Interventionen der USA sowie die Verbrechen und Massaker der mit ihr verbündeten Regime zusammen, dann sind die USA mit Abstand der größte Völkermörder der Geschichte. Saddam Hussein ist im Vergleich geradezu lächerlich. Die Anmaßung von Seiten der USA, über Saddam zu richten, ihn als Völkermörder zu bezeichnen und ihn umzubringen (von einer rechtlich „korrekten“ Hinrichtung kann keine Rede sein), kann von den Völkern der Welt, insbesondere von den arabischen und islamischen, daher nicht anders aufgefasst werden, denn als Schlag ins Gesicht und als tiefste Demütigung. Auf wessen Seite hier Antiimperialisten zu stehen haben, ist außer Zweifel: auf der Seite der Gedemütigten.

Noch größere Verbrechen machen kleinere nicht ungeschehen, wenden unsere Kritiker ein. Sie haben damit Recht, doch schießen sie dennoch am Ziel vorbei.

Leben und Tod

Was die mittelalterlichen Hexenprozesse anbelangt, so wird sicher jeder spontan für die Opfer der Heiligen Inquisition Partei ergreifen und auf die Nichtigkeit der Anklage verweisen. Genau das tun wir angesichts der modernen Hexenprozesse, die exakt die gleiche Funktion haben, nämlich das bestehende politische Regime, heute auf Weltebene, zu sichern. Das galt für den Prozess gegen Slobodan Milosevic in Den Haag genauso wie für das Tribunal gegen Saddam Hussein in Bagdad.

Saddam stand am Pranger, weil er sich dem „regime change“ der Neuen Weltordnung widersetzte. Nachdem die USA den Irak besetzt hatten, wurden Teile der alten Staatspartei zum integralen Bestandteil des Widerstands gegen die Invasoren. Saddam kapitulierte nicht, so wie viele andere Mitglieder der Baath-Partei. Er gab den Folterern und Gehirnwäschern Washingtons keinen Millimeter nach. Während des Prozesses verteidigte er sich politisch und hörte nicht auf dem Widerstand seine Unterstützung auszudrücken. Seine Standhaftigkeit hat dem Widerstand sicher geholfen.

Doch den größten Augenblick seines Lebens hatte Saddam im Angesicht des Todes. Standhaft und fest verhinderte er, dass ihm die Henker die Kapuze überzogen. Er wollte aufrecht dem Tod ins Auge sehen. Allen Demütigungen und Beschimpfungen der Schergen des Pro-US-Regimes zum Trotz, hielt er am Kampf gegen die USA und Persien bis zum letzten Augenblick fest, für die er Zeit seines Lebens stand. (So wenig wir den historischen Kampf gegen den Iran unterstützen und im Gegenteil für die Versöhnung zwischen Arabern und Persern eintreten, so sehr ist der heutige Widerstand gegen das doppelte Marionettenregime von Gnaden Washingtons und Teherans legitim.) Er starb mit dem islamischen Glaubensbekenntnis auf den Lippen: „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohamed ist sein Prophet.“ Unter den Bedingungen des amerikanischen Kreuzzuges gegen den Islam kommt das einem Bekenntnis zum Widerstand gleich.

Sie töteten einen Menschen, doch sein Widerstand schuf ein Symbol, das zum Beispiel für Millionen von Unterdrückten geworden ist. Aus den vermeintlichen Siegern wurden, zumindest was diese Inszenierung betrifft, Verlierer.

Saddam als Märtyrer zu bezeichnen gilt als politisch unkorrekt. Doch es handelt sich hierbei lediglich um eine Feststellung. Selbst die imperiale Medienmaschine musste einräumen, dass Saddam für einen großen Teil der arabischen Welt mit seiner führenden Konfession, dem sunnitischen Islam, zu einem Märtyrer des Widerstands geworden war. Er erhielt diesen Status nicht wegen seiner Verbrechen gegen das irakische Volk, sondern wegen seines unbeugsamen Widerstands gegen den Imperialismus. Selbst jene in der arabischen Welt, die Zeit seines Lebens seine Feinde waren, mussten dies anerkennen. Nur die wenigsten unter jenen, die ihn als Symbol des Widerstands anerkennen, werden pauschal alle seine Taten rechtfertigen. Doch im Angesicht eines viel schlimmeren Feindes rücken diese in den Hintergrund.

Doch über die reine Feststellung hinausgehend, zeigt sich, dass Saddam Hussein durch seinen Tod in den Augen vieler zum Märtyrer geworden ist und, dass diese Bedeutungsgebung den antiimperialistischen Bestrebungen der Völker der Welt nützt. Der Widerstand gegen den Imperialismus in der ganzen Welt ist höchst vielfältig und widersprüchlich. In den meisten Fällen verfolgt er kein universelles Programm der Emanzipation, sondern ist seinerseits in Konflikte verstrickt und unterdrückt andere. In manchen Fällen kann sogar von so was wie einem reaktionären Antiimperialismus gesprochen werden. Dennoch, je mehr Widerstandsherde es gibt, desto ungünstiger wird das Kräfteverhältnis für den gemeinsamen Feind, das amerikanische Imperium. Erfolge des Widerstands an einem Ort beflügeln andere, ohne notwendigerweise deren politische Ausrichtung zu teilen.

Genauso verhält es sich mit dem Symbol Saddam, das dadurch zu keinerlei Generalabsolution wird.

Den unterdrückten Massen der Dritten Welt auch außerhalb des islamischen Einflussbereiches erscheint das als selbstverständlich. Auch am 11. September 2001 ordneten sie die Polarität von Gut und Böse genau umgekehrt wie die westliche öffentliche Meinung zu. Das bedeutete in keiner Weise, dass sie alle zu radikalen Islamisten geworden wären, noch deren Methoden teilen würden. Doch wer schuld an ihrem Elend ist, von wem sie unterdrückt werden und gegen wen sie folglich in erster Linie kämpfen müssen, das wissen sie immer. Entsprechend prägen sie auch Bedeutungen und Symbole.

Saddams Nachlass

Am 26. Dezember 2006 verfasste Saddam einen letzten Brief, den man als sein Testament, als seinen letzten Aufruf an das irakische Volk verstehen kann. Darin findet sich nicht nur der obligate Aufruf zur nationalen Einheit, sondern auch überraschend zur Versöhnung und Vergebung, nicht nur mit dem inneren, sondern auch mit dem äußeren Feind. Es wird zur Differenzierung aufgerufen und gewarnt, nicht alle über einen Kamm zu scheren:

„Ich rufe Euch, Brüder und Schwestern, meine Kinder und Kinder des Irak. Ich rufe Euch, Kampfgenossen, ich rufe Euch dazu auf, Völker anderer Länder, die uns angegriffen haben, nicht zu hassen. Ihr sollt unterscheiden zwischen den Entscheidungsträgern und dem Volk. Hasst die Taten allein. Selbst jene, deren Taten bekämpft werden müssen – hasst sie nicht als Menschen. Auch die Übeltäter, hasst sie nicht, sondern einzig die Übeltat selbst und bekämpft das Böse, wie es es verdient hat. Wer immer sich zum Besseren verändert und gute Taten innerhalb oder außerhalb des Irak vollbringt, lasst ihm gegenüber Nachsicht walten und beschreibt eine neue Seite, denn Gott vergibt und liebt jene, die Bereitschaft zur Vergebung zeigen. […] Ihr sollt wissen, Brüder, dass es unter den Aggressoren Menschen gibt, die Euren Kampf gegen den Eindringling unterstützen und einige zeigten sich bereit, politische Gefangene wie Saddam Hussein juristisch zu verteidigen. Andere brachten die Skandale der Invasoren an die Öffentlichkeit und verurteilten sie.“ (2)

Zweifellos wird es den Opfern von Saddam Regimes schwer fallen, diese Worte ernst zu nehmen. Sie einmal auszusprechen ist nicht genug, wenn auch ein Anfang. Es liegt am Widerstand, an jenen, für die Saddam zum Beispiel der Standfestigkeit wurde, sie zu beherzigen, sie anzuwenden und sie in eine politisch-militärische Strategie zu gießen, um einerseits die politische Kluft mit den irakisch-arabischen Schiiten zu überwinden und andererseits den historischen Konflikt mit dem Iran zu lösen. Aber die Hand auszustrecken ist nicht genug, sie muss auch angenommen werden.

Hat 1980 eindeutig Saddams Irak den Krieg vom Zaun gebrochen und trägt die Hauptschuld, so ist es heute zweifellos der Iran, der die Besatzung unterstützt und damit auch die politische Verantwortung trägt.

Der Widerstand tut recht daran, darauf hinzuweisen, dass der Iran die amerikanische Besatzung stützt, dass es die proiranischen Kräfte sind, die mit ihren Todesschwadronen und ihrem Terror gegen den Widerstand und seine Unterstützerbasis den konfessionellen Bürgerkrieg entzündeten und weiter befeuern. Er ist nicht nur politischer, sondern auch legitimer militärischer Feind. Den Feind besiegen zu wollen, heißt aber auch einen politischen Vorschlag an all jene Iraker zu richten, die heute dem schiitischen politischen Islam folgen und sich damit im Schlepptau des Iran befinden: „Wir wollen das Baath-Regime nicht wiedererrichten, sondern auch die Schiiten an den der Macht beteiligen, wir wollen eine Demokratie des Volkes. Schließt euch auf dieser Basis dem Widerstand gegen die US-Besatzer an.“

Willi Langthaler
12. Jänner 2007

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