Über das „Existenzrecht“ Israels
Da inzwischen der von Israel, USA und EU lang ersehnte palästinensische Bürgerkrieg vor dem Ausbruch zu stehen scheint, empfiehlt sich eine Prüfung des Arguments Israels, der USA und EU zur Rechtfertigung der kollektiven Bestrafung der Palästinenser wegen ihrer „falschen“ Entscheidung bei den demokratischen Wahlen im Januar 2006 – Hamas‘ Weigerung, „Israel anzuerkennen“ oder „die Existenz Israels anzuerkennen“ oder „das Existenzrecht Israels anzuerkennen“.
Diese drei Formulierungen werden von Medien, Politikern und selbst Diplomaten so austauschbar verwendet, als ob sie dasselbe meinen. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die „Anerkennung Israels“ oder irgend eines anderen Staates ist ein rechtlich-diplomatischer Akt eines Staates im Bezug auf einen anderen Staat. Es ist abwegig – eigentlich unsinnig – , davon zu reden, dass eine politische Partei oder Bewegung, selbst in einem souveränen Staat, einem Staat die diplomatische Anerkennung ausspricht. Von der „Anerkennung Israels “ durch Hamas zu reden, ist einfach schludrig, Verwirrung stiftend – eine betrügerische Kurzformel für die eigentlich beabsichtigte Forderung.
Die „Anerkennung der Existenz Israels“ ist kein logischer Unsinn und beinhaltet auf den ersten Blick eine anscheinend relativ unkomplizierte Anerkennung einer Tatsache des täglichen Lebens wie der Tod und die Steuern. Doch bei dieser Formulierung ergeben sich ernste praktische Probleme. Welches Israel, in welchen Grenzen ist gemeint? Die 55 % des historischen Palästina die für einen jüdischen Staat 1947 von der UN-Generalversammlung empfohlen wurden? Die 78 % des historischen Palästina, die 1948 von Israel besetzt wurden und nun von den meisten als „Israel“ oder „das eigentliche Israel“ angesehen werden? Oder die 100 % des historischen Palästina, die von Israel seit 1967 besetzt werden und auf Landkarten in israelischen Schulbüchern als „Israel“ erscheinen? Israel hat noch nie seine eigenen Grenzen definiert, weil es damit notwendigerweise seine Handlungsfreiheit einschränken würde. Wenn allerdings nur dies verlangt wäre, könnte Hamas immerhin die Tatsache des alltäglichen Lebens anerkennen, dass heute ein Staat Israel innerhalb bestimmter Grenzen existiert.
Doch die „Anerkennung des Existenzrechts Israels“, die eigentlich gemeinte Forderung, gehört in eine gänzlich andere Kategorie. Diese Formulierung handelt nicht von diplomatischen Formalitäten oder der schlichten Akzeptanz einer gegenwärtig gegebenen Wirklichkeit. Verlangt ist ein moralisches Werturteil.
Zwischen der „Anerkennung der Existenz Israels“ und der „Anerkennung des Existenzrechts Israels“ besteht ein gewaltiger Unterschied. Aus palästinensischer Sicht ist der Unterschied etwa so, wie wenn von einem Juden die Anerkennung des Holocaust als historisches Geschehen verlangt würde oder aber die Anerkennung, dass es „richtig“ war, dass der Holocaust geschehen ist, d.h. dass der Holocaust (oder im Falle der Palästinenser die Nakba) moralisch gerechtfertigt war.
Zu verlangen, dass die Palästinenser das „Existenzrecht Israels“ anerkennen, heißt zu verlangen, dass ein Volk, das seit fast sechzig Jahren und heute immer noch als Untermenschen behandelt wird, öffentlich sein Untermensch-Sein verkündet und damit – zumindest indirekt – einräumt, dass man verdient, was einem angetan wurde und immer noch angetan wird. Nicht einmal die US-Regierungen des 19. Jahrhunderts verlangten von den überlebenden Eingeborenen Amerikas eine öffentliche Erklärung über die „Richtigkeit“ ihrer ethnischen Vertreibung durch die Bleichgesichter als Vorbedingung für Gespräche, welche Reservate denn für sie bereitgestellt werden sollten – wie gegenwärtig unter den Bedingungen einer Wirtschaftsblockade und drohender Hungersnot, bis die Palästinenser den letzten Rest an Selbstachtung aufgeben und in diesem Punkt einlenken.
Manche glauben, Yasser Arafat habe in diesem Punkt nachgegeben als Preis für seine Fahrkarte zurück aus der Wildnis der Dämonisierung und um in den Genuss des Rechts zukommen, Vorschriften der Amerikaner von ihnen selbst in Empfang nehmen zu dürfen. Tatsächlich hat er in seiner berühmten Stockholmer Erklärung 1988 „Israels Recht in Frieden und Sicherheit zu existieren“ akzeptiert. Diese Formulierung handelt bezeichnenderweise von den Bedingungen der Existenz eines Staates, der als eine Realität existiert. Er handelt nicht von der existenziellen Frage der „Richtigkeit“ der Enteignung und Vertreibung des palästinensischen Volkes aus seiner Heimat, um für ein anderes aus dem Ausland kommendes Volk Platz zu machen.
Das ursprüngliche Konzept der Formulierung „Existenzrecht Israels“ und der Nützlichkeit ihrer Verwendung als Ausflucht, um mit keiner palästinensischen Führung zu reden, die in irgend einer Weise am fundamentalen Recht des palästinensischen Volkes festhält, wird Henry Kissinger, dem Großmeister des diplomatischen Zynismus, zugeschrieben. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass jene Staaten, die diese Formulierung immer noch verwenden, dies in dem vollen Bewusstsein tun, was sie an moralischen und psychologischen Konsequenzen für das palästinensische Volk nach sich zieht, und sie tun dies zu demselben zynischen Zweck – um jeglichem Fortschritt zu Frieden und Gerechtigkeit in Israel/Palästina Hindernisse in den Weg zu legen und auf diese Weise, Israel weiterhin Zeit zu verschaffen, noch mehr „Tatsachen vor Ort“ zu schaffen und gleichzeitig den Palästinenser die Schuld für ihr eigenes Leiden zu geben.
Doch viele private Bürger guten Willens mit festen Wertvorstellungen lassen sich möglicherweise durch die äußerliche Simplizität der Worte „Existenzrecht Israels“ (und mehr noch der beiden anderen Kurzformeln) täuschen und glauben, dass es sich dabei um eine selbstverständliche, vernünftige Forderung handelt, und dass die Zurückweisung einer solchen vernünftigen Forderung eher ein Zeichen von Perversität (oder „terroristischer Ideologie“) sein muss als Ausdruck der Notwendigkeit des Festhaltens an Selbstachtung und Würde vollwertiger Menschen, einer Haltung, die bei einem seit langem misshandelten Volkes, dem sonst fast alles genommen wurde, was das Leben lebenswert macht, in Gefühlen und Gedanken tief verankert und völlig verständlich ist. Dass dem so ist, beweisen Meinungsumfragen, wonach der Anteil der palästinensischen Bevölkerung, der die Standfestigkeit von Hamas in der Ablehnung dieser erniedrigenden Forderung ihrer Feinde befürwortet – trotz Verschärfung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Leiden infolge der israelischen und westlichen Belagerung – wesentlich größer ist als der Anteil der Bevölkerung, der im Januar 2006 Hamas gewählt hat.
Es sollte nicht zu spät sein für die Einsicht aufrichtiger Menschen weltweit in die Unvernunft – ja, die Verwerflichkeit – dieser Forderung wie auch jener Formulierungen, in denen sie zum Ausdruck kommt und deren Gebrauch und Missbrauch schon so viel Elend verursacht hat und weiter zu verursachen droht.
John V. Whitbeck
Übersetzung aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff
Quelle: Counterpunch, 21. Dez. 06
John V. Whitbeck ist Völkerrechtler, langjähriger Berater palästinensischer Verhandlungsdelegationen und Autor von „The World According to Whitbeck“, einer Sammlung von Artikeln aus den Jahren 1988 bis 2004. Er ist zu erreichen unter: jvwhitbeck@awalnet.net.sa