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Wir ALLE wollen leben!

30. Januar 2007

Ein Kommentar von Samah Idriss zur Situation im Libanon

„Nächsten Sommer wird es Krieg geben. Nur der Ort wurde noch nicht ausgewählt. Im vergangenen Monat [November] war die Atmosphäre in den israelischen Streitkräften sehr pessimistisch. Die letzten Waffengänge an beiden Fronten, dem Libanon und dem Gazastreifen, haben zu viele Fragen offen gelassen, zu viele Zünder gelegt, die zu neuen Explosionen führen können. Die Schlussfolgerung der Armee daraus ist, dass ein Krieg in naher Zukunft eine realistische Möglichkeit ist. Wie Amir Oren vor einigen Wochen in Haaretz berichtete, gehen die IDF davon aus, dass im Sommer kommenden Jahres ein Krieg gegen die Hizbullah und vielleicht auch gegen Syrien ausbrechen wird.“

Das schreiben zwei Journalisten in der israelischen Zeitung Haaretz am 4.12.2006. (1) Aber hier, im Herzen von Beirut, erscheint die Atmosphäre ziemlich anders. Die Opposition füllt die Straßen, sie hält Protestkundgebungen für die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit oder für den Sturz des Kabinetts Fuad Siniora ab. Die Agitation zwischen Sunniten und Schiiten hat einen neuen Höhepunkt erreicht, trotz der Versicherung, dass der Libanon nicht „irakisiert“ werden könne (früher hörten wir Versicherungen, dass der Irak nicht „libanonisiert“ werden könne). Ein Aktivist der Opposition wurde zum Märtyrer (der von Regierungsunterstützern schlicht als „getötet“ hingestellt wird). Bis jetzt gibt es Dutzende Verletzte. Eine westliche Zeitung spricht davon, dass für die Sicherheitskräfte aus den Vereinigten Arabischen Emiraten Waffenlieferungen eingetroffen seien, um dem Einfluss von Hizbullah und dem Iran entgegenzutreten. Bilder von Rafik Hariri werden zerrissen. Auf Bilder von Hassan Nasrallah wird geschossen. Der Studentenverantwortliche der Sozialistischen Partei Walid Dschumblats wird verprügelt.

Vom Widerstand wird angenommen, dass er die Straßen fülle. Doch es sind nicht die Straßen von Marun al-Ras, Bint Jbeil und Aita al-Sha’b [Orte im Süden, in denen die heftigsten Gefechte tobten und die israelische Armee geschlagen wurde], in denen dem israelischen Feind mit seinen Merkava-Panzern eine unvergessliche Lektion erteilt wurde. Vielmehr sind es die Straßen von Corniche al-Mazra’a, al-Berbir, Tariq al-Jadidah, Qasqas und al-Dana [Beiruter Stadtviertel]. Der Feind sei nun ein sunnitischer Libanese. Das Ziel: den islamischen Widerstand in den Straßen von Beirut zu begraben, nachdem es Frankreich und Israel nicht gelungen war, ihm mittels der UN-Resolution 1559 (2) die Waffen abzunehmen, und nachdem die USA und Israel daran scheiterten ihn durch die Juli-August-Invasion auszulöschen. Ohne sich Verschwörungstheorien zu verschreiben, fragt man sich: Könnte es sein, dass mit der Freudenbotschaft des amerikanischen Neuen Nahen Ostens der Libanonisierung des Irak die Irakisierung des Libanon und die Palästinesisierung des libanesischen islamischen Widerstands folgt?

Während die Messer gewetzt werden, mit denen der nationale Widerstand in den Straßen von Beirut und anderswo im Libanon geschlachtet werden soll, während die sunnitische Armut gegen die schiitische aufgehetzt wird, vernimmt man Signale aus dem Süden, insbesondere aus Naqura [Hauptquartier der internationalen Truppen], die eine mögliche Ausweitung der Militärmission nach Resolution 1701 anzeigen – namentlich, die Entsendung der libanesischen Armee in den Süden zu unterstützen. In Anschluss an einen Artikel in Le Monde vom 24.9.2006, in dem Operationsregeln erwähnt wurden, die (obwohl in widersprüchlicher Weise) den internationalen Truppen eine offensive Rolle zuschreiben, veröffentlichte das Kommando dieser Truppen am 10.10.2006 eine Stellungnahme, in der es sich das „Recht“ nahm, „Gewalt auch aus andere Gründen als Selbstverteidigung einzusetzen“, „vorübergehende Straßensperren“ im Süden zu errichten, nach Erhalt von „speziellen Informationen“ zu handeln, wenn sich die libanesische Armee als unfähig dazu erweist sowie „Gewalt gegen feindliche Aktivitäten“ einsetzen. Von all diesen „Rechten“ war in Resolution 1701 keine Rede gewesen. Wenn sie zur Praxis der UNIFIL werden sollten, so bedeutete das ihre Umwandlung zur Einschüchterung und Unterdrückung des Widerstands und nicht zum Schutz des Libanon. Dass spanische Truppen im November 2006 auf der Suche nach Waffen und „Terroristen“ in Häuser eindrangen, ist ein ominöses Signal, das diese Befürchtungen nur bestärken kann.

In diesem Sinne könnten die Truppen unter dem Vorwand eingesetzt werden, die Streitparteien in Beirut von einander zu trennen oder das Eindringen von „Terroristen“ über die Grenze mit Syrien zu verhindern. Kurz, der islamische und nationale Widerstand soll mittels einer Zangenbewegung eingeklemmt werden: Einerseits durch die internationalen Truppen und Israel im Süden (Hier sei bemerkt, dass, wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bestätigte, die Mission der internationalen Truppen im „Schutz Israels“ (3) bestehe und nicht des Libanons; ansonsten stünden die Truppen auf beiden Seiten der Grenze und nicht nur auf der Seite des Libanons – der es bekanntlich war, der angegriffen wurde.); andererseits durch internationale Einflussnahme auf lokale Kräfte: Wir wollen auf die intime Beziehung zwischen der US-Administration und den Führern der herrschenden Koalition verweisen […].

Ist es möglich, dass sich die Führung des Widerstands dieser Gefahren nicht bewusst ist, trotz des Weitblicks und des Fingerspitzengefühls, mit dem sie den Widerstand gegen Israel vergangenen Sommer und in den letzten Jahren managte?

Der Grund unserer Sorge sind die Reibungen, die bei den Aktionen der Opposition in den Straßen Beiruts auftraten – trotz der Tatsache, dass Hassan Nasrallah bei seiner Rede am 7.12.2006 darauf insistierte, dass Verschwörern und sektiererischen Hetzern keine Chance gegeben werden dürfe. Der Widerstand darf sich aus den inneren Angelegenheiten des Libanon nicht heraushalten, so wie er es in der Vergangenheit tat. Denn, den Widerstand (Hizbullah) abzusichern, hängt davon ab, ob es gelingt Unterstützung sowohl aus dem Volk als auch aus den Institutionen zu bekommen. Kann diese Unterstützung durch eine „Regierung der nationalen Einheit“ erreicht werden? Kann diese Unterstützung erreicht werden, wenn Fuad Siniora Regierungschef bleibt – der den Widerstand im Stich ließ, nachdem die zwei israelischen Soldaten am 12. Juli gefangen genommen wurden? Wie kann die Opposition „indifferent“ gegenüber der Rückkehr Sinioras als Kopf einer neuen Regierung sein, nachdem sie ihn der größtmöglichen Verschwörungen bezichtigt hat? Die jüngste dieser Anklagen Nasrallahs ist jene, dass Siniora der libanesischen Armee befohlen haben soll, Waffen, die für den Widerstand im Süden während des Krieges bestimmt waren, zu beschlagnahmen. Wie kann es eine nationale Einheit mit den Führern der gegenwärtigen Koalitionsregierung geben, die mit der israelischen Besatzung unter einer Decke stecken? (Nasrallah behauptete in seiner letzten Rede im Besitz von Dokumenten zu sein, die dies belegen.) Entweder ist die Forderung des Widerstands nach der nationalen Einheit mit den „Verschwörern und Verrätern“ widersprüchlich und abgründig. Oder es geht ihm um eine wirkliche Regierungsbeteiligung – doch dann wäre der Vorwurf des Verrats unbegründet und unehrlich.

In jedem Fall befindet sich die Opposition auf dem Holzweg, wenn sie glaubt, dass sie mit einer „Sperrminorität“ von einem Drittel plus einer Stimme das Land auf den rechten Weg zu bringen vermag. Was viel wichtiger als der Prozentanteil an Sitzen in der Regierung ist, ist ein umfassendes Programm radikaler Reformen: Die korrupten Politiker müssen zur Verantwortung gezogen werden, genauso wie jene, die die Schuld für die enormen Schulden des Landes tragen. (Keine Ausnahme für die Toten!) Die Universitäten des Landes müssen in Schuss gebracht werden. Es bedarf eines klaren sozioökonomischen Programms, das den Armen hilft ihre Notlage zu überwinden. Die Beziehungen des Landes mit seinen arabisch-islamischen Nachbarn müssen auf eine stabile Basis gestellt werden, doch ohne Unterordnung unter Syrien oder Saudi-Arabien. Den Palästinensern müssen bis zu ihrer Rückkehr nach Palästina die vollen politischen und Bürgerrechte eingeräumt werden. Die Diktate der Weltbank sind zurückzuweisen…

Aber, um offen zu sein, wie können wir all das von der Opposition erwarten, wenn Teile von ihr für die Korruption und Verschwendung der Vergangenheit mitverantwortlich zeichnen; die konfessionelle Teilung der libanesischen Universitäten mitbetrieben haben; die Arbeiterbewegung paralysiert haben, in dem sie Gewerkschaften mit ihrem Klientelismus verseuchten; um jeden Posten schacherten?

Die wirkliche Opposition in allen Parteien sollte in diesem besonderen Moment der Geschichte unseres Landes, in der verschiedene Sektoren unseres Volkes am Riad al-Solh und am Shohad’a [die zwei zentralen Plätze Beiruts im Regierungsviertel] vereinigt sind, ihre eigenen klaren Vorstellungen über die Zukunft artikulieren – Visionen, die nicht bei den unmittelbaren Zielen (wie die überstürzte und nicht überzeugende Forderung nach einer Regierung der nationalen Einheit) oder persönlichen Karrierewünschen halt machen. Die ehrlichen Gruppen sollten – auch in der reichen Vielfalt an Oppositionsströmungen – erhebliche Distanz zu jenen Führern der Opposition bewahren, die mitverantwortlich dafür sind, dass der Libanon in der Korruption versinkt und sich früher unter syrischer und heute unter amerikanischer Vormundschaft (1559) befindet. Weiterhin sollten die wirklichen Gegner des konfessionalistischen Proporzsystems die Slogans der „dubiosen Opposition“ nicht abnicken, die sich in nichts von jenen des 14. März-Blocks unterscheiden. So der leere Aufruf für „muslimische-christliche Einheit“ und für „sunnitische, schiitische, drusische, orthodoxe, maronitische Solidarität“ (wie einer der Sprechchöre lautet), der bei den Protestaktionen so reichlich wie überflüssig zu hören ist und sich in nichts von jenen der Demonstrationen des 14. März-Blocks unterscheiden (mit der wichtigen Differenz, dass es die rassistische Haltung gegen „die Syrer“ nicht gibt). Und was die Lieder betrifft, die von der Medienmaschine der Hizbullah verbreitet werden – die im Gegensatz zu den Liedern des Widerstands in der Vergangenheit jeglichen künstlerischen und politischen Wert vermissen lassen – erinnern sie uns an die absurden, überhasteten „vereinigenden“ Songs, die von „Future TV“ und „Radio Orient“ [Teil des Hariri-Medienimperiums] nach der Ermordung von Hariri ausgestrahlt wurden. Der Unterschied ist lediglich, dass die „neue“ Opposition heute jenes Lied von der „nationalen Einheit“ singt, das die „alte“ Opposition in der Zeit der syrischen Vormundschaft sang. Danach, als sie die Macht errangen, wandten sie sich plötzlich gegen dieselbe nationale Einheit. Nun ist scheinbar ihr einziges Lebensziel die „Wahrheit“ zu erfahren – als ob es auf dieser Welt keine andere Wahrheit gäbe, die es wert wäre erfahren zu werden, als jene, wer Rafik Hariri tötete!

Von der wirklichen Opposition (die KP, die Volksbewegung, die Plattform Nationale Einheit, …) wird erwartet, dass sie für einen säkularen Staat kämpft, dass sie die korrupten Politiker aller Seiten zur Verantwortung zieht, jede lokale und internationale Abhängigkeit zurückweist, das öffentliche Erziehungswesen verbessert, ein Wohnungsprogramm für die Armen auflegt, den Libanon zu einem einzigen Wahlkreis mit proportionalem Wahlrecht macht. Gleichzeitig muss sie für den Schutz und den weiteren Ausbau der Bewaffnung des Widerstands kämpfen, der sich auf eine neuerliche israelische Invasion vorbereitet.

„Wir wollen leben!“ sagt Premier Siniora und lässt es über die Medienmaschine millionenfach wiederholen. Es sind die gleichen Leute, die dem antisyrischen Motto „Unabhängigkeit 2005“ die reale Abhängigkeit 2006 folgen ließen und sich so selbst unglaubwürdig machten. Wir wollen natürlich alle so wie Siniora leben. Doch ein „freies und würdiges“ Leben muss allen zukommen: unseren Gefangenen in den Kerkern der Besatzungsmacht, die sich für uns opferten, unserem Volk im Süden, das tagtäglich mit israelischen Angriffen rechnen muss oder damit, von einer der 2,2 Millionen Streubomben zerrissen zu werden, die Israel in den letzten Stunden vor dem Waffenstillstand noch abwarf. Ein freies und würdiges Leben haben auch die Armen und Besitzlosen, die Billiglohnarbeiter und Opfer von Hariris „Wiederaufbau“ verdient – denn die wenigsten Menschen profitierten von der Luxusrenovierung des Zentrums durch die Hariri-Firma Solidà¨re oder vom opulenten Flughafen. „Wir wollen leben“ sagen zu Recht auch die mehr als 300.000 Palästinenser, die in ihren Elendsquartieren nur vegetieren und nicht leben. Denn heute leben nur die Banken besser als jemals zuvor!

Samah Idriss

[Dieser Artikel erschien erstmals in der Oktober-Dezember-Ausgabe von „al-Adab“*. Er wurde von „Tadamon!“, Montreal, mit Einverständnis des Autors ins Englische übertragen und aus dem Englischen für die „Intifada“ ins Deutsche übersetzt.]

(1) Amos Harel und Avi Issacharoff, „North and South“, http://www.haaretz.com/hasen/spages/794993.html.

(2) Richard Labà©vià¨re erklärt die UN-Resolution 1559 mit Frankreichs Wunsch den USA einen Gefallen zu tun, nachdem es für die Ablehnung der amerikanischen Invasion des Iraks abgestraft wurde. Er bemerkt ebenso, dass die enge geschäftliche Beziehung des ermordeten Premiers Hariri mit dem französischen Präsidenten Chirac eine Rolle bei der Annahme der Entschließung gespielt habe.

(3) Robert Fisk, „Conflict in the Middle East is Mission Implausible“, The Independent, 15. November 2006

Samah Idriss ist ein bekannter libanesischer Intellektueller und Herausgeber des angesehenen arabischen Literaturmagazins „al-Adab“ (www.adabmag.com). Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aktivist der linken antiimperialistischen Bewegung. Samah Idriss gründete einige kulturelle und politische Organisationen in Unterstützung des arabischen Befreiungskampfes. Heute beteiligt er sich an der „Kampagne des zivilen Widerstands“ (www.lebanonsolidarity.org).

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