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Zur Einstaatenlösung

Diskussionsbeitrag aus "Intifada" Nr. 23, Februar 2007


30. Januar 2007
Gunnar Bernhard

Die Frage nach dem Existenzrecht Israels als exklusiv jüdischer Staat und die damit verbundene Debatte über mögliche Lösungen des Palästina-Konflikts spalten die europäische Linke wie kaum ein anderes Thema. Obwohl es sich im Vergleich zu sonstigen Konflikten um ein kleines Gebiet handelt, stellt Palästina einen - in symbolischer Hinsicht sogar den - Scheitelpunkt der Weltpolitik schlechthin dar. Aus antiimperialistischer Sicht ist die Angelegenheit nur im Rahmen tiefgreifender weltpolitischer Umwälzungen gerecht lösbar.


Zwei Themen beherrschen in dieser Ausgabe der Intifada die Rubrik „Diskussion“: einerseits die Holocaust-Konferenz, die im Dezember 2006 im Iran stattgefunden hat, andererseits die historische Debatte um eine „Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung“ im Palästina-Konflikt, die heute häufig in den Termini der Diskussion um das „Existenzrecht Israels“ geführt wird. Schon allein diese begriffliche Verschiebung zeigt, wie irreführend, instrumentalisierend und manipulierend die historische Forderung der palästinensischen Befreiungsbewegung nach einem demokratischen Staat in Palästina heute rezipiert wird. Auch in der Frage der Holocaust-Konferenz ging vieles durch die internationalen Medien, was nicht darauf ausgerichtet war, zu einer sachlichen Debatte beizutragen. Auch diese Meinungsmanipulation ist Thema eines der Beiträge. Schließich beinhaltet die Rubrik „Diskussion“ einen Kommentar zur Debatte um die politische Bedeutung der Hinrichtung Saddam Husseins.

Wir veröffentlichen zu den angesprochenen Themen Beiträge unserer Redakteure bzw. antiimperialistischer Aktivisten, ebenso wie in anderen Medien veröffentlichte Kommentare, die unserer Ansicht wichtige Aspekte der Debatte beleuchten.

Frieden durch Gerechtigkeit: Für ein demokratisches Palästina

Die Frage nach dem Existenzrecht Israels als exklusiv jüdischer Staat und die damit verbundene Debatte über mögliche Lösungen des Palästina-Konflikts spalten die europäische Linke wie kaum ein anderes Thema. Obwohl es sich im Vergleich zu sonstigen Konflikten um ein kleines Gebiet handelt, stellt Palästina einen – in symbolischer Hinsicht sogar den – Scheitelpunkt der Weltpolitik schlechthin dar. Aus antiimperialistischer Sicht ist die Angelegenheit nur im Rahmen tiefgreifender weltpolitischer Umwälzungen gerecht lösbar. Trotzdem ist die Positionierung in dieser Frage von entscheidender Bedeutung, und zwar offensichtlich nicht nur für Antiimperialistinnen und Antiimperialisten. Besonders im deutschsprachigen Raum gilt die Anerkennung des zionistischen Staates als Eintrittskarte in die Zivilgesellschaft und die damit immer identischer werdenden Sozialforen. Aus unserer Sicht dagegen ist die unbedingte Parteinahme für den palästinensischen Widerstand unerlässlich für Menschen und Organisationen, die den Anspruch erheben, auf der Seite der Unterdrückten, also im klassischen Sinn links zu stehen.

Die Geschichte der zionistischen Landnahme in Palästina muss hier nicht noch einmal ausführlich wiederholt werden. Es sei nur kurz darauf verwiesen, dass schon bevor überhaupt entschieden war, wo der Staat Israel entstehen sollte, Theodor Herzl, der wichtigste zionistische Vordenker und Gründer der zionistischen Bewegung, ein unverbrüchliches Bündnis mit dem Imperialismus und die Vertreibung der ansässigen Bevölkerung für unerlässlich erklärt hatte. Beides wurde (und wird weiterhin) konsequent verwirklicht, auch wenn es in den letzten Jahren vor der tatsächlichen Staatsgründung mehrmals Konflikte mit der britischen Mandatarmacht gab und später überhaupt die USA als mittlerweile führender imperialistischer Staat zur neuen Schutzmacht Israels wurden.

Durch den von den kapitalistischen und imperialistischen Eliten instrumentalisierten Antisemitismus und die daraus resultierende Verfolgung, Vertreibung und den Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas in den 1930er und 1940er Jahren sind viele Juden und Jüdinnen zur Ansicht gelangt, nur in einem eigenen Staat vor Verfolgung und Vernichtung sicher zu sein. Diese befanden sich allerdings tatsächlich größtenteils in einer Situation äußerster Not, anders als viele führende Zionisten, wie der spätere israelische Staatsgründer David Ben-Gurion, die – wie auch schon Herzl Jahrzehnte zuvor – ganz offen bekannten, dass sie die antisemitischen Stimmungen und Ereignisse in Europa in erster Linie aus dem Blickwinkel beurteilten, wie sehr sie dem Zionismus dienlich waren. Die Rechnung für die europäische Judenverfolgung haben letztendlich jedenfalls nicht die Verantwortlichen bezahlt, sondern die arabische Bevölkerung in Palästina, die in all den zionistischen Überlegungen kaum mehr als eine vernachlässigbare Größe bzw. ein störendes und daher zu beseitigendes Detail dargestellt hat. Selbst dort, wo überhaupt von Rechten für die arabische Bevölkerung die Rede war, war das nicht vom Bemühen um gleichberechtigte Koexistenz mit der arabischen Bevölkerung getragen, sondern lief auf die Gewährung von Gnadenakten hinaus, deren Ausmaß und Umfang allein von zionistischer Seite bestimmt werden sollte.

Diese zutiefst rassistische und eurozentristische Sichtweise übernehmen offensichtlich – bewusst oder unbewusst – diverse selbsternannte westliche „Antifaschistinnen“ und „Antifaschisten“ und gelangen so zu der weit verbreiteten Position: „Nur durch die Existenz Israels als exklusiv jüdischer Staat ist ein neuer Holocaust zu verhindern und wer daran rüttelt, ist Antisemit(in)“ – dieses Dogma ist heutzutage auch für nicht geringe Teile der europäischen Linken (bzw. das, was sich heutzutage als „links“ bezeichnet) geradezu in Stein gemeißelt. Das bedeutet nichts anderes, als dass man in jedem Fall den israelischen Anliegen höheren Stellenwert gibt als den palästinensischen. Dabei spannt sich der Bogen von rabiatzionistischen Positionen wie bei den „Anti“deutschen, die noch jeden weiteren Landraub und jedes weitere Massaker an der palästinensischen Bevölkerung als antifaschistischen Triumph bejubeln, über Organisationen, die die israelische Politik in ihrer Beurteilung des Konfliktes einfach ausblenden, bis zu jenen, die zwar den Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten fordern, damit aber auch schon die Obergrenze dessen erreicht sehen, was die (großteils aus den 1948 besetzten Gebieten vertriebene) palästinensische Bevölkerung fordern darf. Die entscheidende Frage, nämlich die nach dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, spielt in diesen Überlegungen offenbar keinerlei Rolle. Für die radikalzionistische Fraktion existieren die Flüchtlinge ohnehin nicht (oder man zieht sich, wie z.B. das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes auf die besonders „noble“ Position zurück, das Existenzrecht Israels sei unangreifbar und darüber hinaus wolle man die Situation nicht kommentieren). Bei denen, die Kritik an Israel zumindest nicht sofort mit der Antisemitismuskeule erschlagen, wird die Frage des Rückkehrrechtes sehr häufig entweder peinlichst verschwiegen oder man gibt – verschämt aber doch – mit Phrasen wie „kaum machbar“ oder „die Länder, in denen sie jetzt leben, sollen sich um sie kümmern“ zu erkennen, dass man Israel eigentlich ganz gerne aus der Verantwortung für die Massenvertreibungen entlassen möchte und den Bodenraub als vollendete Tatsache anerkennt.

Der Grund für diese Positionen liegt auf der Hand: Ein Rückkehrrecht für die palästinensischen Vertriebenen – nicht erst die tatsächliche Rückkehr, sondern bereits die bloße Anerkennung des Rechtes darauf – würde nicht nur dem (für manche immer noch nicht ausgeträumten) Traum von Groß-Israel ein jähes und unwiderrufliches Ende setzen, sondern ebenso der Existenz Israels in seiner jetzigen Form. Auch der „linkszionistische“ Lösungsvorschlag, also zwei Staaten in den Grenzen von 1967, wäre damit nicht vereinbar. Dieses Rückkehrrecht würde in Wirklichkeit nicht weniger bedeuten als das Ende des zionistischen Staates, ebenso wie die Anerkennung dieses Rechtes gleichzeitig die Nicht-Anerkennung Israels als exklusiv jüdischer Staat bedeutet (auch wenn idealistische Träumer und verlogene Diplomaten gern so tun, als sei der Spagat zwischen palästinensischem Rückkehrrecht und Israels Weiterbestehen in seiner jetzigen Form möglich).

Aus antirassistischer und antiimperialistischer Sicht muss klar sein, dass eine Lösung der Palästina-Frage nur dann gerecht und demokratisch sein kann, wenn sie die Geschichte des Konfliktes in Rechnung stellt, die Verantwortlichen klar benennt und vor allem nicht einfach Millionen Betroffene außer Acht lässt. Daher kann es aus dieser Sicht nur eine gerechte Lösung geben: Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und deren Familien und einen demokratischen Staat in ganz Palästina (d.h. auf dem Gebiet des historischen Palästina, das das heute Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete umfasst) für alle dort lebenden Menschen.

Allgemein wird eine Zweistaatenlösung (womit meistens zwei Staaten in den Grenzen von 1967 gemeint sind) als realistischer gegenüber einer Einstaatenlösung dargestellt. Einer genaueren Betrachtung kann diese Feststellung jedoch nicht standhalten. Bei einer Zweistaatenlösung wäre das dann aus Westjordanland und Gazastreifen bestehende Palästina auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen des dazwischen liegenden Israel ausgeliefert und stünde völlig unter dessen Kontrolle. Außerden wäre die Flüchtlingsfrage ungelöst, was über kurz oder lang wieder zu Unruhen führen würde. Darüber hinaus gibt die Zweistaatenlösung auch keine Antwort auf die Frage der systematischen und strukturellen Diskrimnierung der Palästinenserinnen und Palästinenser mit israelischem Pass. Niemals könnte eine solche Lösung dauerhaft Bestand haben.

In einem gemeinsamen, demokratischen Staat in ganz Palästina würde sich zu allererst die Frage nach der bzw. den Titularnation(en) stellen. Klar ist, dass die arabische Nation, die dann die Mehrzahl der EinwohnerInnen ausmachen würde, eine Titularnation ist. Ein arabischer Staat mit vollen bürgerlichen und religiösen Rechten für die jüdische Bevölkerung wäre die Forderung, die aus antiimperialistischer Sicht dann zu stellen ist, wenn die Voraussetzungen für einen Staat mit sowohl arabischer als auch israelischer Titularnation nicht gegeben sind. Dies würde auch der nach erfolgreich geführten antikolonialen Kämpfen üblichen Vorgangsweise entsprechen, den Angehörigen der Besatzernation eben diese Rechte im Rahmen der neu entstandenen Nation anzubieten. Im Fall Palästinas liegt die Sache jedoch anders, da die Israelis wesentlich mehr sind als eine dünne Besatzer-Oberschicht.

Anders als der herkömmliche Kolonialismus hatte der Zionismus nicht das Ziel, die ansässige Bevölkerung und ihre Ressourcen auszusaugen, sondern sie zu vertreiben bzw. zu vernichten und an ihrer Stelle eine neue Nation anzusiedeln. Und dem Staat Israel ist es über die Jahrzehnte – wenn auch unter großen Mühen und Unterdrückung tiefer sozialer, kultureller und nationaler Widersprüche und Gegensätze – gelungen, tatsächlich eine israelische Nation aufzubauen und unter permanenter Beschwörung äußerer Feinde eng zusammenzuschweißen. Als äußere Feinde werden einerseits der mystifizierte weltweite Antisemitismus (der als soziales Massenphänomen in Wirklichkeit mit Ausnahme von Osteuropa kaum noch Bedeutung hat) und andererseits die Israel-Feindschaft in der arabischen Welt präsentiert. Für letztere ist Israel mit seinem innen- und außenpolitischen Verhalten jedoch selbst verantwortlich.

Dennoch ist die israelische Nation eine bestehende Tatsache, die in der Frage nach dem Gesicht eines demokratischen Staates in ganz Palästina nicht übergangen werden darf. Damit sie aber tatsächlich eine gleichberechtigte Titularnation sein kann, bedarf es einiger Voraussetzungen, von denen sie heute sehr weit entfernt ist. An erster Stelle steht hier ein Bruch signifikanter Teile der jüdischen Bevölkerung mit der zionistischen Ideologie, die nach wie vor den Anspruch auf einen exklusiv jüdischen Staat erhebt und darüber hinaus vorgibt, im Namen aller Jüdinnen und Juden zu sprechen. Diese Ansprüche müssten unwiderruflich fallen gelassen werden. In einem binationalen Palästina kann und muss es kulturelle und religiöse Autonomie geben, aber keine exklusiven territorialen Ansprüche einer Teilnation. Auch die vom Zionismus angestrebte automatische Einheit zwischen jüdischer Religion und Zugehörigkeit zur israelischen Nation müsste aufgegeben werden. Menschen arabischer Herkunft mit jüdischer Religion (und jedem anderen Menschen auch) sollte freistehen, welcher Nation sie sich zugehörig fühlen. Nur so, indem der falschen Gleichsetzung von Judentum und Zionismus die Grundlage entzogen wird, kann auch eine gleichberechtigte jüdische Existenz im arabischen Raum langfristig möglich sein.

Ferner wären in einem solchen binationalen Staat enorme materielle Leistungen (in erster Linie die Rückgabe von geraubtem Land) der israelischen an die palästinensische Seite notwendig, ansonsten würde es innerhalb kürzester Zeit zu schweren sozialen Spannungen kommen, die im Wesentlichen zwangsläufig wiederum entlang der Frontstellung Israelis gegen PalästinenserInnen verlaufen würden.

Im Moment aber ist die israelische Nation geschlossen wie selten zuvor. Das Gerede von der israelischen Friedens- und Arbeiterbewegung, deren Bruch mit dem System kurz bevorstehen und die danach zum Schulterschluss mit den palästinensischen Unterklassen übergehen würde, entspricht reinem Wunschdenken und hat in der Realität nur marginale Bezugspunkte. Daher stößt der Lösungsvorschlag „binationaler Staat“ auf palästinensischer Seite heutzutage auch häufig auf Unverständnis.

Die israelische Übermacht in diesem Konflikt ist jedoch, wie eingangs erwähnt, ohnehin nur im Rahmen entscheidender überregionaler Umwälzungen besiegbar, die nur dann zustande kommen können, wenn die Unterklassen der arabischen Länder sich tatsächlich zusammenschließen und ihre eigenen pro-imperialistischen Regime verjagen. Solang der Imperialismus nicht zumindest entscheidend geschwächt ist, wird auch der Zionismus ebenso wenig besiegt werden können. Bis die Voraussetzungen dafür gegeben sind, ist auch ein Bruch von Teilen der israelischen Gesellschaft mit dem Zionismus nicht völlig undenkbar, auch wenn das momentan nicht allzu realistisch scheint.



Gunnar Bernhard lebt in Wien und ist in der Solidaritätsbewegung mit Palästina aktiv.

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