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Interview mit Moqtada al Sadr

31. Januar 2007

aus la Repubblica, 19.1.2007Für die Einen ist er die Inkarnation „des finstersten islamischen Fundamentalismus“ und „Verfechter einer reaktionären theokratischen Diktatur“. Für die Anderen ist er „ein moderner Thomas Münzer“, ein „Anwalt der Armen“, „konsequenter Antiimperialist“ und „Sozialrevolutionär“. Die Meinungen über den jungen irakischen Schiitenführer und Prediger Moqtada al Sadr gehen weit auseinander. Fakt ist, dass er über eine starke Basis unter dem schiitischen, städtischen Subproletariat (den Marginalisierten, wie man früher mit Bezug auf Lateinamerika sagte) verfügt, unter den Schiiten der wichtigste Gegner des iran-freundlichen und mit den USA kollaborierenden, „moderaten“ und „konservativen“ SCIRI von Großayatollah Sistani & Co. ist und zu Beginn der US-Besatzung mit einem für die Kämpfer seiner Mahdi-Miliz sehr verlustreichen Aufstand gegen die Besatzer der stark bedrängten, vornehmlich sunnitischen Guerilla zu Hilfe kam. Womit sich seine Bewegung beim sunnitischen Widerstand zunächst große Sympathien erwarb und einiges für die Vermeidung eines Bürgerkrieges und die Erhaltung der Einheit des Irak tat.

Fakt ist aber auch, dass seine Bewegung später in die von den USA eingesetzte Regierung der Kollaborateure eintrat und Moqtada al Sadr inzwischen für viele Massaker an der sunnitischen Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht wird, die als Racheakt für Gemetzel der Al Qaida-Sektion im Irak an schiitischen Zivilisten verübt werden. Fakt ist auch, dass die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten so tief ist wie nie zuvor und der schleichende Bürgerkrieg durch die Videoaufnahmen von Saddam Husseins Hinrichtung am 30.12.2006 noch angeheizt wurde, wo Mitglieder des von der Regierung bestellten und von den US-Besatzern kontrollierten Lynchmobs bei ihrer makabren Darbietung mehrmals Moqtadas Namen skandierten. Der Lynchmord (anders kann man ihn nicht nennen) an Saddam Hussein wurde von vielen Beobachtern als „Geschenk der USA an den Iran und an al-Sadr“ bewertet. Kurz darauf erklärte die Bush-Administration al-Sadr allerdings zum vorübergehenden Hauptfeind für die Stabilisierung des Besatzungsregimes im Irak und kündigte offen die Zerschlagung seiner Bewegung an. Keine leeren Worte: Bis Ende Januar 2007 wurden der FAZ zufolge rund 400 ihrer Aktivisten (darunter ein führender Berater Moqtada al-Sadrs) von der US Army und den Truppen der Maliki-Regierung gefangen genommen, der die Sadr-Bewegung bis vor kurzem noch selbst angehörte!

Sehr widersprüchliche Fakten also, die die große linksliberale italienische Tageszeitung „la Repubblica“ zu einem Exklusivinterview mit Moqtada al-Sadr im irakischen Untergrund animierte. Es erschien am 19.1.2007.

Es spricht Moqtada al-Sadr:
„Der Mann der USA ist Allawi, nicht Maliki.“ Der Leader der fundamentalistischen Miliz lebt inzwischen im Untergrund.

„Eine Geheimarmee gegen uns, aber die Schiiten werden widerstehen!“

Von unserem Korrespondenten Renato Caprile

BAGDAD – Er fühlt sich verfolgt und versteckt sich. Er schläft nie mehr als eine Nacht im selben Bett. Einige seiner engsten Getreuen haben ihm bereits den Rücken gekehrt. Er hat sogar seine Familie an einen geheimen Ort gebracht. Moqtada al-Sadr spürt, dass das Ende nah ist. Zu viele Feinde, zu viele eingeschleuste Spitzel unter seinen Leuten. Und doch hat er es nicht mit Maliki, den er als kaum mehr denn eine Marionette betrachtet, als vielmehr mit Yad Allawi, dem ehemaligen Ministerpräsidenten, auf denen die Amerikaner niemals aufgehört hätten zu setzen. Er sei der wahre Regisseur der Operation, die darauf abziele, ihn und seine Mahdi-Armee von der Oberfläche des Irak zu tilgen.

Wie kommt es, dass al-Maliki, in dessen Regierung bis vor kurzem sechs Minister Ihrer Strömung vertreten waren, plötzlich gemerkt hat, dass die religiösen Milizen – und vor allem Ihre – das wahre Problem darstellen, das gelöst werden muss?

„Zwischen mir und Abu Assara (dem „Vater von Assara“, Name der Tochter von Maliki; Anm.d.Red.) hat die Chemie nie besonders gestimmt. Ich hatte immer den Verdacht, dass er gesteuert wird, und ihm niemals getraut. Wir haben uns nur bei ein paar Gelegenheiten getroffen. Beim letzten Mal hat er mir zuerst gesagt: ‚Ihr seid das Rückgrat des Landes.‘ Und hat mir dann gestanden, dass er ‚verpflichtet‘ sei, uns zu bekämpfen. ‚Verpflichtet‘, verstehen Sie?“

Bleibt die Tatsache, dass er dabei ist, mit eiserner Faust gegen Ihre Leute vorzugehen.

.Inzwischen ist er schon vorgegangen. Gestern Nacht haben sie bereits mehr als 400 der Meinen verhaftet. Sie wollen nicht uns zerstören, sondern den Islam. Wir sind nur das Hindernis . Vorläufig werden wir dem keinen Widerstand entgegensetzen.“

Heißt das, dass Ihr die Waffen streckt?

„Während des Muharram (dem heiligen Monat, indem man des Märtyrers Hussein gedenkt, der vor mehr als 600 Jahren starb; Anm.d.Red.) verbietet uns der Koran zu töten. Sollen sie uns doch umbringen. Für einen wahren Gläubigen gibt es keinen besseren Moment zum Sterben. Das Paradies ist sicher. Aber Gott ist großmütig. Wir werden nicht alle sterben. Nach dem Muharram sprechen wir uns wieder!“

Es gibt Leute, die behaupten, dass Armee und Polizei in großem Umfang von Ihren Leuten unterwandert seien und dass es die Marines allein niemals schaffen werden, Euch zu entwaffnen.

„Das genaue Gegenteil ist der Fall. Es ist unsere Miliz, in der es von Spionen wimmelt. Andererseits ist es nicht schwer eine Volksarmee zu infiltrieren. Und genau die sind es, die die Mahdi-Armee befleckt haben, indem sie sich mit unwürdigen Aktionen befleckten. Es gibt mindestens vier Armeen, die bereit sind gegen uns vorzugehen. Eine ‚Schattenarmee‘, über die man nie spricht, die unter großer Geheimhaltung von den amerikanischen Militärgeheimdiensten in der jordanischen Wüste ausgebildet wurde. Dann die Privatarmee von Allawi, dem Ungläubigen, der Malikis Nachfolger sein wird, und die sich auf dem ehemaligen Militärflughafen Muthanna vorbereitet. Dann gibt es die kurdischen Peschmerga und schließlich die regulären amerikanischen Truppen.“

Wenn das stimmt, was Sie sagen, habt Ihr keine Aussicht auf einen erfolgreichen Widerstand.

„Auch wir sind viele. Wir repräsentieren die Mehrheit des Landes, die nicht will, dass der Irak – wie Allawi sich das erträumt – zu einem laizistischen Staat wird, zu einem Diener der westlichen Mächte.“

Seit einer Woche werden sie offiziell ins Visier genommen. Die Regierung behauptet, dass die religiösen Milizen ohne ihre Führer militärisch schwächer sind.

„Dessen bin ich mir bewusst. Deshalb habe ich meine Familie an einen sicheren Ort gebracht. Ich habe sogar mein Testament gemacht, wechsele ständig meinen Aufenthaltsort und mache das so, dass nur wenige wissen, wo ich mich genau befinde. Aber auch wenn ich sterben sollte, die Mahdi-Armee würde weiter bestehen. Die Menschen kann man töten, den Glauben und die Ideen nicht.“

Es wurde gesagt, dass auch Sie zu der Menge gehörten, die bei Saddams Hinrichtung dabei war. Stimmt das?

„Das ist totaler Quatsch. Wenn ich da gewesen wäre, hätten sie mich auch umgebracht. Was Saddam angeht, so weine ich dem Mann, der meine Familie und meine Leute zu Zehntausenden abgeschlachtet hat, mit Sicherheit keine Träne nach. Nur, dass ich ihn auf einem öffentlichen Platz hingerichtet hätte, damit es alle Welt sieht.“

Wenn Sie nicht dabei waren, bestreiten Sie dann, dass der Raum voll von ihren Anhängern war?

„Nein, das waren nicht meine Männer. Das waren Leute, die bezahlt wurden, um mich zu diskreditieren. Um mich als den wahren Verantwortlichen für dieses Aufhängen erscheinen zu lassen. Der Beweis dafür findet sich in den Fakten. Es genügt sich das Tonband anzuhören, auf dem sie bei der Rezitierung meiner Predigt einige grundlegende Passagen weggelassen haben. Etwas, das selbst ein Kleinkind in Sadr City niemals getan hätte. Das Ziel war, Moqtada als den wahren Feind der Sunniten darzustellen. Und das ist ihnen gelungen. Vor einiger Zeit wurde ich mit allen Ehren in Saudi Arabien empfangen. Aber unmittelbar nach jener Inszenierung auf dem Schafott wurde mein Sprecher al-Zarqani, der sich auf Pilgerfahrt in Mekka befand, verhaftet. Eine fast zu deutliche Art, um mir klarzumachen, dass ich nicht mehr auf der Liste der Freunde stehe.“

In jedem Fall geht der Krieg zwischen Euch und den Sunniten weiter.

„Es stimmt, dass wir alle Moslems und alle Kinder desselben Landes sind, aber sie müssen zuerst auf Distanz zu den Saddam-Anhängern gehen, zu den radikalen Gruppen, zu den Männern von Bin Laden – darüber hinaus, dass sie ihr ‚Nein‘ zu den Amerikanern bekräftigen. Es würde schon ausreichen, dass die Ulema diese unsere Bedingung akzeptieren. Das haben sie noch nicht getan.“

Ist es möglich, dass die Zukunft aus nichts anderem als aus Blut besteht?

„Wenn die Zukunft aus einem dreigeteilten Land besteht, glaube ich nicht, dass es dazu eine Alternative gibt. Das ist es, was Bush will, um uns besser kontrollieren zu können, und gewiss nicht dass, was die Iraker wollen. Meines Erachtens gibt es nur eine einzige Möglichkeit, um zu einer Lösung zu gelangen: den sofortigen Abzug der Amerikaner.“

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: Rosso, (Ex-Mitglied der Ende Oktober 2006 aufgelösten Antifa-AG der Uni Hannover)

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