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Buchrezension: Hamas: Der politische Islam in Palästina

21. Juli 2007

aus Intifada Nr. 24
Helga Baumgarten
HAMAS
Der politische Islam in Palästina
Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München 2006
256 Seiten

Im Jänner 2006 wählte das palästinensische Volk in demokratischen Wahlen seine Vertretung. Die Hamas, die zu den Wahlen mit einer Liste unter dem Namen „Veränderung und Reform“ angetreten war, gewann mit überwältigender Mehrheit. Analysen zeigen, „dass die Hamas für die palästinensische Gesellschaft vor allem den Widerstand gegen die fortgesetzte israelische Besatzungsherrschaft symbolisierte, während Fatah zusehends für eine nicht mehr akzeptierte Politik der Kompromisse, ja des nationalen Ausverkaufs, oft auf der Basis kurzfristiger persönlicher Vorteile, stand. Religiöse Gründe scheinen bei der Entscheidung für die Hamas eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben.“ (S. 180)
Kaum waren die Lobeshymnen auf die vorbildlich demokratischen Wahlen vorbei, „da begann auch schon die Phase der harten und gnadenlosen Machtpolitik, in der kein Respekt mehr blieb für die demokratischen Entscheidungen armer, schwacher und unterdrückter Gesellschaften im Süden des Weltsystems. Zwar war der Norden großzügig genug gewesen, der Hamas eine Teilnahme an den Wahlen zu erlauben. Einen Wahlsieg hatte dieser Deal jedoch nicht eingeschlossen.“ (S. 184)

Mit diesen Stellungnahmen schließt Helga Baumgarten ihre Analyse der Hamas als einer Bewegung, die ideologisch und programmatisch dem politischen Islam zuzurechnen ist und untrennbar mit der Geschichte der palästinensischen Gesellschaft der letzten zwanzig Jahre verbunden ist, ab. Das Buch ist lesenswert für alle, die Genaueres über diese Entwicklung wissen wollen. Es wäre jedoch besonders lesenswert für diejenigen, die sich auf die westlichen Medien beziehen, wenn sie die Hamas als fundamentalistische Terrororganisation abstempeln, die die palästinensische Gesellschaft ins finsterste Mittelalter katapultieren würde, oder für diejenigen, die jede Denkarbeit ablehnen, weil sie darauf beharren, dass diese Organisation von Israel in die Welt gesetzt und gefördert wurde. So oder so, ob von Links oder Rechts, der Hamas als komplexer Organisation mit komplexer Geschichte wird nicht Rechnung getragen und die ungeheuerliche Boykottpolitik gegenüber dem palästinensischen Volk – wegen seiner Entscheidung für die Hamas – wird somit toleriert oder gar gutgeheißen.

Im Februar 1993 erklärten die USA die Hamas zur Terrororganisation, im September 2003 folgte ihr die EU in dieser Entscheidung. Als Gründe dafür werden die Gewaltbereitschaft der Hamas und ihre Nichtanerkennung des Existenzrechts Israels angeführt. Helga Baumgarten stellt diese Argumente in den Kontext, der sich eigentlich logisch ergibt. Das ist die seit vierzig Jahren andauernde Besatzung, die Gewalt von Seiten der Besatzungsmacht, oder die trotz aller Verträge intensivierte Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten. Helga Baumgarten hält fest: „Weder Israel noch der Westen waren damals wie heute bereit anzuerkennen, dass auch die Palästinenser legitime Forderungen haben. Auf dem Hintergrund einer Welle der Islamophobie, die alles niederzureißen scheint, gesteht man den Palästinensern und in besonderem Maße der Hamas nicht zu, dass auch sie nach Gerechtigkeit streben, dass sie Anerkennung als gleichberechtigter Partner am Verhandlungstisch wollen.“ (S. 160)

Es werden die Waffenstillstandsangebote der Hamas im Laufe der Jahre angeführt und ihre faktische Nichtbeachtung als verspielte Chancen Israels und des Westens für einen Friedensprozess gesehen.

Sehr ausführlich und mit Originaldokumenten im Anhang – wie zum Beispiel der Charta der Hamas von 1988 oder dem Programm zu den Wahlen von 2006 – wird die wechselvolle Geschichte der Hamas seit ihrer Gründung im Dezember 1987 durch die Muslimbrüder im Gazastreifen dokumentiert. Unter dem Druck der Ereignisse und der Militanz der Muslimbrüder im „Islamischen Dschihad“ waren sie der Meinung, die Zeit sei gekommen, mit der Waffe in der Hand gegen die israelische Besatzung zu kämpfen. Sie reklamierten im Wettstreit mit der PLO für sich, „1987 den Aufstand gegen die israelische Besatzung begonnen zu haben und für die erste palästinensische Intifada verantwortlich zu sein.“ (S. 40)
Bis zu diesem Zeitpunkt lag der Schwerpunkt der Arbeit auf dem Aufbau von Institutionen und Wohltätigkeitsorganisationen, der Erziehungs- und Mobilisierungsarbeit. Aus dieser Zeit stammen auch die Vorwürfe der Kollaboration mit Israel. Helga Baumgarten geht auf diese ein: „Die israelische Politik gegenüber den palästinensischen Muslimbrüdern im Zeitraum von 1967 bis 1987/88 kann am besten als eine „Politik der freundlichen Duldung“ charakterisiert werden. Sie muss jedoch immer im Zusammenhang mit Israels politischer Strategie des Teile-und-herrsche-Prinzips gesehen werden. Ein weiteres Motiv erklärt die Zurückhaltung der Besatzungsmacht im Umgang mit palästinensischen muslimischen Organisationen. Israel versuchte, etwa bis Ende der achtziger Jahre, zu verhindern, dass der schon schwer zu kontrollierende nationale Konflikt zu einer völlig unkalkulierbaren religiösen Auseinandersetzung eskalierte.“ (S. 73) Mit dem Ausbruch der Intifada war es mit der „freundlichen Duldung“ der Muslimbrüder / Hamas endgültig vorbei.

Auch die Selbstmordattentate stellt Helga Baumgarten in den Kontext der Ereignisse als Antwort auf das Massaker von Hebron und die Weigerung Israels, gegen die extremistischen Siedler vorzugehen. Weiters werden die innerpalästinensischen Konflikte verfolgt, die den Ausverkauf palästinensischer Interessen durch die PLO betrafen. Dabei vertrat die Hamas über Jahre hinweg die konsistente Position, dass die Beendigung der Besatzung Grundvoraussetzung für jegliche Konfliktlösung sein müsse. In diesem Sinne wurden die Oslo-Verträge abgelehnt.

Als gewählte politische Vertretung des palästinensischen Volkes ist für Helga Baumgarten die Hamas der Ansprechpartner, der für die Zukunft der Region von Bedeutung ist. Der im letzten Jahr stereotyp vorgebrachten Forderung nach Anerkennung des Existenzrechts Israels durch die Hamas und der unmenschlichen Boykottpolitik gegenüber einem Volk und seiner legitimen Regierung, weil diese Anerkennung nicht so erbracht wurde wie gewünscht, hält Baumgarten ein Zitat von Ismail Haniyeh vom 26. Februar 2006 entgegen: „Wenn Israel erklärt, dass es dem palästinensischen Volk einen Staat ermöglicht und ihm seine Rechte zurückgibt, dann sind wir bereit, Israel anzuerkennen.“ Außerdem wurde zum Zeitpunkt des Regierungsbeginns der Waffenstillstand von 2005 akribisch eingehalten und der Abschluss eines Waffenstillstands impliziert laut Baumgarten die Anerkennung des betroffenen Staates. So sachlich und nüchtern argumentiert Helga Baumgarten insgesamt in ihrer Aufarbeitung der Geschichte der Hamas. Ein lesenswertes Buch im Kampf gegen Ignoranz und westliche Arroganz, ein Beitrag gegen die Islamophobie!

(Helga Baumgarten lehrt Politikwissenschaften an der Universität Birzeit in Palästina und lebt in Ost-Jerusalem.)

Elisabeth Lindner-Riegler

Elisabeth Lindner-Riegler lebt in Wien und ist in der Palästina-Solidaritätsbewegung aktiv.

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