aus Intifada Nr. 24
„Die Forderung nach Verfassungsänderungen ist der Höhepunkt der demokratischen Bewegung, nicht ihr Beginn“
Prof. Dr. Ashraf el-Bayoumi ist Mitglied des Antikolonialistischen und Antizionistischen Komitees und Vizepräsident der Alexandrian Association for Human Rights Advocating
Intifada: Sie sind seit vielen Jahren in der Oppositionsbewegung in Ägypten aktiv, sie haben in Kifaya mitgearbeitet und sie waren einer der Hauptorganisatoren der ersten Kairo-Konferenz, die im Dezember 2002 stattgefunden hat. Wie sehen Sie die Entwicklung der Oppositionsbewegung seit damals und im Besonderen jene von Kifaya?
El-Bayoumi: Wir müssen uns die Frage stellen, was die Oppositionsbewegung heute ist. Vor der Invasion des Irak gab es einen Kern einer Bewegung und er war um die Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak herum gruppiert. Es gab kleine Erfolge, wie beispielsweise im Jahr 2002, als wir eine Flugladung Nahrung in den Irak sandten, trotz der Restriktionen von Seiten der UNO. Das war eine symbolische Geste gegen die Sanktionen. Es gab viele Aktivitäten in den späten 1990ern, und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts, die versuchten den Krieg gegen den Irak zu verhindern, die Sanktionen aufzuheben und gegen eine Normalisierung mit dem zionistischen Gebilde und für einen Boykott israelischer Güter und mancher symbolischer amerikanischer Güter wie McDonalds oder Coca Cola und die britische Firma Salisbury zu arbeiten. Diese Kampagnen waren sehr erfolgreich, sogar Mittelschulkinder nahmen an solchen Boykotten teil und wollten ihre Familien ebenfalls zum Befolgen des Boykotts bewegen.
Und dann kam der Höhepunkt der Bewegung im März 2003, als während der Demonstrationen gegen den Angriff auf den Irak der Tahrir Platz mit Menschen gefüllt war und das spontan. Danach sahen wir dann die „Erklärung an die Nation“ (Basisdokument von Kifaya, Anm. d. Übers.), die von einer Zahl an Leuten verfasst worden war, die sich im Haus von einem von ihnen getroffen hatten. Sie begannen Unterschriften dafür zu sammeln. Diese Erklärung verband die nationalen Fragen, wie die Besatzung des Irak, der Widerstand im Irak, Palästina und Libanon, Kampf gegen Imperialismus, Zionismus und so weiter mit den internen Fragen, also Demokratie, Verfassung und Reform und die Begrenzung der Macht des Präsidenten. Doch trotz des Vorwortes dieser Erklärung gab es keine klar definierten Aufgaben was diese nationalen Fragen betraf, sondern die Ziele wurden darauf reduziert eine neue Amtszeit von Hosni Mubarak als Präsident zu verhindern.
Intifada: Was geschah dann? Was waren die nächsten Schritte?
El-Bayoumi: Die Regierung setzte einige Änderungen durch, beispielsweise machte sie es noch schwieriger eine Partei zu gründen. Anstatt der fünfzig Unterschriften benötigte man jetzt tausend. Sie zog gleichsam den Boden unter den Füßen der Bewegung weg und änderte die Verfassung dahingehend, dass mehrere Präsidentschaftskandidaten antreten durften, was einer Farce gleichkam.
Und was noch wichtiger als das ist, ist dass die Forderung nach Verfassungsänderungen der Höhepunkt einer demokratischen Bewegung ist, und nicht ihr Anfang sein kann. Es gibt jedoch heute in Ägypten keine starken Gewerkschaften, Berufsvereinigungen, Arbeiterorganisationen, Studentenbewegungen oder ein, zwei politische Parteien, die auf ihren Füßen stehen können. In dieser Situation, wo die Opposition definitiv schwach ist, wird die Verfassung immer entgegen den Wünschen jener, welche die Verfassungsänderung gefordert hatten, geändert werden.
Also erstens beginnt man nicht von der am weitesten fortgeschrittenen Forderung eines demokratischen Kampfes, zweitens ist es klar, dass es die amerikanische Politik ist, Slogans von Demokratie und Reform vorzubringen und für ihre Zwecke zu benutzen. Wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem nationale Fragen mit jenen der Demokratie und Reform gekoppelt werden müssen, dann heute, weil die Vereinigten Staaten die gleichen Slogans verwenden. Um sich also von ihren Demokratie-, und Reformideen zu unterscheiden, musst du gegen Imperialismus sein, gegen US-Besatzung, für die Befreiung Palästinas und der besetzten Gebiete im Libanon und Syrien.
Die andere Sache ist, dass Condoleezza Rice und Journalisten in Editorialen der Washington Post und der New York Times Kifaya mehrmals gelobt haben, überhaupt die ägyptische Opposition gelobt haben, weil sie sich nur um innere Angelegenheiten kümmert und nicht die alten nationalistischen Slogans wiederholt. Natürlich war damals die amerikanische Politik jene, auf einige Regierungen in diese Richtung Druck auszuüben, inklusive der Mubarak-Regierung. Nun hat sich die amerikanische Politik geändert, seit Mitte 2005, als sie gemerkt haben, dass sie Regierungen wie jene von Mubarak brauchen um mit dem Schlamassel im Irak irgendwie fertig zu werden. Also spricht heute niemand mehr über Kifaya; es gibt keine Unterstützung mehr aus dieser Richtung. Nichtsdestotrotz sind jüngst Führer von Kifaya zu einer Konferenz nach Istanbul gefahren, welche von der Nationalen Stiftung für Demokratie organisiert worden war, was de facto CIA bedeutet, und das natürlich bringt so manche Frage darüber auf, was Kifaya eigentlich vorhat.
Intifada: Aber kann man wirklich von Kifaya als einer homogenen Gruppe sprechen?
El-Bayoumi: Das ist genau der nächste Punkt. Unsere erste Antwort an sie war sehr mild, weil wir bis heute glauben, dass die Mehrheit von Kifaya aus jungen Menschen besteht, die irgendetwas tun wollen, ihre politische Bildung jedoch ist sehr oberflächlich, sie wollen sofort Aktionen, egal was für Aktionen das sind. Und es war sehr attraktiv für sie auf die Straße zu gehen, aber auf der Straße zu sein ist kein Ziel sondern ein Mittel. Und tatsächlich haben sie bis zu einem gewissen Grad die Idee der Demonstration durch die ständigen Demonstrationen etwas verwässert.
Intifada: Was denken Sie über den anderen großen Teil der Opposition hier in Ägypten, der Moslemischen Bruderschaft?
El-Bayoumi: Nun, hier müssen wir einen weiteren Punkt diskutieren und der sind Allianzen, sehr opportunistische Allianzen. Können Sie mir sagen, wie sozialistische Revolutionäre sich mit der Moslemischen Bruderschaft verbünden können? Was haben sie gemeinsam? Da sie mit der Partei von John Reese verbunden sind, importieren sie diese Idee aus England und ignorieren dabei die Tatsache dass die Situation hier sehr unterschiedlich zu jener in England ist. Ich habe einmal zu Reese gesagt, dass wir nicht solche Beziehungen mit ihnen wollen wie die ägyptische Regierung und Churchill zu ihrer Zeit. Ich denke es muss da eine Art der Gleichheit geben, man muss unsere Ansichten hier respektieren. Daher bewegen wir uns auch nicht mehr in diesem Umfeld. Selbst die nasseristische Partei Karama verbündet sich mit der Moslemischen Bruderschaft. Und wenn wir sie fragen, weshalb sie das tun, dann antworten sie, dass sie sich nicht verbündet haben, sondern nur zu bestimmten Fragen kooperieren. Da frage ich mich jedoch, was sind diese Fragen? Die Moslemische Bruderschaft benützt sie, weil sie auf diese Weise den Amerikanern und Europäern zeigen kann: „Seht her, wir sind offen für eine Vielfalt an politischen Kräften, selbst Marxisten.“ Aber die Linke zieht keinen Nutzen daraus. Anstatt sich auf die Leute von der Straße zu konzentrieren, und die meisten Leute heute sind tatsächlich Nasseristen, konzentrieren sie sich auf die Bruderschaft.
Wenn wir also über die Opposition hier in Ägypten sprechen, sie ist derzeit schwach, es gibt Rudimente hier und dort, aber wir haben einen sehr langen Weg vor uns um einen organisierten Kern zu bilden, der antiimperialistisch ist und gleichzeitig wirkliche Demokratie und politische Freiheit und die Rechte politische Parteien bilden zu dürfen und Reform, usw. verteidigt.
Intifada: Was meinen Sie mit Reform?
El-Bayoumi: Reform bedeutet, dass wir daran interessiert sind die Universitäten auszubauen, ebenso die Gesundheitsinfrastruktur und das Wohlergehen des Durchschnittsbürgers zu verbessern. Deshalb müssen wir Alternativen anbieten, wir sind nicht nur gegen dies oder das, sondern wir stehen für dies und das. Das bedeutet für uns natürlich, dass wir bis über beide Ohren in Arbeit stecken, wir müssen über unsere Vision der Zukunft nachdenken, Wissenschaft, Entwicklung, auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Bildung. Die Menschen wollen handeln, aber es gibt einen Mangel an Wissen, Analyse. Du musst verstehen, was die andere Partei für dich vorbereitet, du musst verstehen, was das imperialistische Projekt auf der Welt ist, wozu es fähig ist. Was ist es im Detail? Wie steht es im Widerspruch zu unserem Projekt? Was ist unser Projekt? All diese Fragen müssen studiert werden, darüber muss nachgedacht, gelesen werden, aber viele der Sprecher, die im Fernsehen auftreten, machen weder das eine noch das andere. Einige von ihnen sind charismatisch und eloquent, aber offen gesagt sind ihr Wissen und ihre Analyse sehr dünn.
Intifada: Zurück zur Moslemischen Bruderschaft und den opportunistischen Allianzen. Wie sollte Ihrer Meinung nach die Linke mit der islamistischen Bewegung hier in Ägypten umgehen?
El-Bayoumi: Sie sollten sie entlarven. Ihren Opportunismus zeigen, die Tatsache, dass die Regierung sie benützt um das Vakuum zu füllen. Tatsächlich war die Bruderschaft in den 1940er Jahren verantwortungsbewusster und hatte mehr Wissen als heute. Ich kannte Hassan el-Banna persönlich, weil mein Vater ein Gründungsmitglied der Moslemischen Bruderschaft war und ich selbst für drei oder vier Jahre am College ein Mitglied war, aber Widersprüche führten dazu, dass ich die Bruderschaft verließ. Ich bin nicht dagegen, dass Menschen islamischen Ideale huldigen, aber unter bestimmten Bedingungen. Man muss die Christen respektieren und das fehlt. Heute sagen sie, dass sie Christen akzeptieren, aber wann haben sie eine Erklärung herausgegeben, in der sie manche ihrer Studenten verurteilen, die es ablehnen Christen, Kopten, an der Universität auch nur zu grüßen? Wie kommt es, dass die Universitäten voll waren mit Slogans für Afghanistan in den 1980ern, während hingegen während der israelischen Invasion im Libanon nicht ein einziges Wort dagegen gefunden werden konnte, 1982? Wann standen sie gegen eine Normalisierung mit Israel? Sie haben das erst vor einigen Jahre entdeckt. Und das nur symbolisch. Sie benutzen Religion um an die Macht zu kommen. Und außerdem glaube ich wirklich, dass jemand, der Politik durch das Fenster der Religion betreibt, am Ende konfessionell wird, ziemlich sicher. Ich denke nicht, dass Politik überhaupt mit Religion gemacht werden sollte.
Intifada: Wenn die Moslemische Bruderschaft tatsächlich nützlich für den Staat ist, warum leidet sie dann unter der brutalen Repression, hat politische Gefangene und warum gibt es einen neuen Verfassungsartikelzusatz, der formuliert, dass keine politische Partei auf Basis der Religion gegründet werden darf?
El-Bayoumi: Das ist ein Spiel, ein politisches Spiel, Katz und Maus. Du darfst das Vakuum füllen, aber innerhalb der Rahmenbedingungen des Systems. Wenn du über diese Rahmenbedingungen hinausgehst, werde ich dich zerstückeln. Und das ist das Spiel, das während der letzten 25 Jahre gespielt wurde. Wie ich zuvor schon sagte, ich bin dagegen Politik mit Religion zu machen. Erstens haben wir eine multireligiöse Gesellschaft hier, wir haben Kopten. Ihre Anzahl variiert, Leute, die gegen die Kopten sind, geben sie naturgemäß niedriger an. Aber meine Überlegung ist, dass sie wohl 10 bis 15 Prozent ausmachen. Aber der Prozentsatz ist nicht wichtig, wichtig ist, dass sie die gleichen Rechte haben müssen. Und natürlich erwähnen hier dann die Leute Verse aus dem Koran und Erklärungen der Hadith, um zu zeigen, dass Christen respektiert werden müssen. Aber die Kriterien, nach denen geurteilt werden kann, sind sehr klar. Wie viele Rektoren der Universitäten, wie viele Dekane, wie viele Minister und wie viele Regierungsbeamte sind Kopten? Auch wenn ich nicht davon überzeugt bin Ernennungen auf Basis der Religion durchzuführen – wenn man jedoch in einer gesunden Gesellschaft lebt, wenn die Gesellschaft offen ist und Kopten und Moslems gleichermaßen in der Gesellschaft involviert sind, dann ist es ganz natürlich, dass es eine gesündere Verteilung einflussreicher Posten gibt. Das gilt für Frauen übrigens gleichermaßen.
Intifada: Denken Sie, dass die Moslemische Bruderschaft heute das größte Hindernis für säkulare, linke Kräfte ist, um Einfluss in der Gesellschaft zu gewinnen?
El-Bayoumi: Die Regierung selbst ist die Hauptfrage. Ich meine, wenn wir kritisch der Moslemischen Bruderschaft gegenüber stehen, sprechen wir über das geringere, Hindernis. Der Hauptschuldige was das Vergiften der politischen Atmosphäre angeht, ist die ägyptische Regierung. Sie benutzt den Islam genauso wie die Moslemische Bruderschaft. Die Regierung benutzt den Islam um zu herrschen und die Moslemische Bruderschaft benützt den Islam ebenfalls um ihre Macht zu zeigen, also gibt es da nicht viel Unterschied. Am Ende der Analyse ist die Bruderschaft proamerikanisch und wirtschaftlich haben sie nicht einmal kapitalistische Ideen, ihnen schwebt die reaktionärste Form des Kapitalismus vor, nicht viel mehr als ein bisschen Handel. Die Moslemische Bruderschaft präsentiert sich selbst als größte politische Kraft und ja, in dem Vakuum, in dem wir uns heute befinden, könnten sie die größte politische Kraft werden. Das ist der Grund, weshalb wir sagen, dass wir Freiheit vor Demokratie brauchen. Sonst werden wir die algerische Erfahrung wiederholen, man kann nicht von der Diktatur abkommen und wählen gehen – um wen zu wählen? Wir hatten keine Gelegenheit Studentenführer, Gewerkschaften, Arbeiterführer usw. zu haben. Man braucht eine Zeit von etwa drei Jahren mindestens um zumindest eine halbfreie Gesellschaft zu haben, aus der sich einige Führer herausentwickeln, Bewegungen entstehen können.
Intifada: Wie steht die Moslemische Bruderschaft zur Hizbullah?
El-Bayoumi: Zunächst mal ist die Hizbullah etwas völlig anderes, aber auch sie ist nicht immun gegen einige der Punkte, welche man auch bei Moslemischen Bruderschaft kritisieren kann. Aber es gibt keinen Vergleich zwischen der Hizbullah und der Moslemischen Bruderschaft. Diejenigen, die Widerstand leisten sind von jenen, die keinen Widerstand leisten, zu unterscheiden, immer. Aber die Moslemische Bruderschaft ist eine politische Partei, sie unterstützt die Hizbullah weil die Leute sie unterstützen. Und selbst die Regierung würde die Hizbullah gerne unterstützen, aber sie kann nicht, weil sie natürlich anderen Diktaten folgen muss, was offensichtlich ist.
Intifada: Was die Probleme mit Kifaya angehen, haben Sie den Eindruck dass diese Idee nach wie vor lebensfähig ist? Messen die involvierten Einzelpersonen und Parteien der Idee von Kifaya noch Bedeutung zu?
El-Bayoumi: Kifaya ist Geschichte. Niemand misst ihr noch ernsthaft Bedeutung zu. Zu guter Letzt wurde Dr. Al-Masiri als neuer Sprecher gewählt, den ich persönlich sehr für seine Arbeit über Israel, in der er Israel als ein imperialistisches, nicht als jüdisches Projekt beschrieb, und für die sehr klare Unterscheidung zwischen Zionismus und Judentum respektiere. Aber ich habe ihm schon am Telefon gesagt, dass ich ihm nicht dafür gratulieren kann, dass er der Kopf von Kifaya geworden ist. Das Schicksal von Kifaya ist besiegelt. Wir brauchen eine Gruppe, die nicht in Eile ist, welche die notwendigen Schritte unternimmt um einen Kern einer politischen Organisation zu bilden. Es muss nicht radikal sein, aber es gibt ein Minimum, das erfüllt sein muss: Gleichheit zwischen den Bürgern, Antiimperialismus, Antizionismus, für eine Entwicklung, die auf Wissen und Unabhängigkeit, sei es wirtschaftlich, politisch oder kulturell, basiert, und Panarabismus. Ideologie spielt hier keine Rolle, egal was dein Hintergrund ist, solange du mit diesem minimalen Konsens einverstanden bist, kannst du Teil dieser Koalition sein. Und nicht zu vergessen ist der Respekt vor Frauen. Wir können nicht mit Leuten kooperieren, welche Frauen als sexuelle Wesen wahrnehmen, sei es nackt oder verschleiert, am Ende ist es das gleiche.
Intifada: Kifaya brachte die Idee auf, eine Boykottkampagne gegen das Referendum für die Verfassungsänderungen zu organisieren. Denken Sie, dass diese Initiative von Erfolg gesegnet sein wird?
El-Bayoumi: Nein, ich denke nicht, dass sie erfolgreich sein wird, sie ist keine Priorität. Wir haben keine Bewegung! Schauen wir uns die Hizbullah im Libanon an. Fünfzig Prozent der Leute unterstützen sie, sind für sie auf der Straße, natürlich ist die Regierung schwach, wenngleich sie von den ausländischen Kräften gestützt wird. Aber wenn wir der ägyptischen Regierung gegenüber stehen dürfen wir auch mit jenen die Konfrontation nicht scheuen, welche hinter ihr stehen, also seien wir bescheiden. Wir müssen eine politische Gruppe aufbauen. Wir müssen das Ernst nehmen. Eine politische Organisation aufzubauen bedeutet junge Leute auszubilden und Teil dieser Ausbildung ist es zu vermitteln, dass Demonstrationen ein Mittel und kein Ziel sind. Ja, Demonstrationen sind wichtig, auch symbolisch, sie sind wichtig um zu zeigen, dass es uns noch gibt, dass wir Widerstand leisten, dass wir „Nein“ sagen, aber zu glauben, dass wir ein System durch einige wenige Hunderttausend auf den Straßen ändern können ist nicht seriös. Und abgesehen davon können Demonstrationen ohne Führung oder eine Rahmenstruktur auch gefährlich sein. Wir stehen nicht dafür Chaos zu schaffen, wir wollen eine konstruktive Veränderung. Und Veränderung bedeutet nicht bloß Hosni Mubarak los zu werden. Eine Veränderung würde die gesamte Staatsstruktur miteinbeziehen.
Intifada: Sie haben erwähnt, dass Sie einer der Organisatoren der ersten Kairo-Konferenz waren. Wie beurteilen Sie die Entwicklung dieser Konferenz?
El-Bayoumi: Eine Konferenz ist ein Mittel, kein Ziel, sie muss einem bestimmten Zweck dienen. Die erste Konferenz wurde abgehalten um den Krieg gegen den Irak zu verhindern. Und auch um ägyptische Intellektuelle mit europäischen und amerikanischen fortschrittlichen Intellektuellen zusammenzubringen. Also luden wir Ramsey Clark, Dennis Halliday, von Sponeck und einige fortschrittlichen Professoren aus den USA ein, sowie Leute aus Kuba, George Galloway, John Reese und auch Leute aus Frankreich. Wir machten ein paar Fehler in unserer Auswahl, aber im Gesamten wurde unser Ziel doch erreicht. Es gelang uns die Idee vom Westen als einer homogenen Einheit aufzubrechen und einen Austausch zwischen westlichen und arabischen Intellektuellen zu haben. Aber jetzt nehme ich nicht mehr an dieser Konferenz teil. Sie wurde zu einer Bühne der Moslemischen Bruderschaft und wir müssen uns heute fragen, was heute das Ziel ist, was wir erreichen wollen?
Intifada: Was denken Sie über die Widerstandsallianz der Arabischen Völker, deren Anspruch es ist eine praktische Alternative, ohne NGOs zur Kairo-Konferenz zu sein, und deren Konferenz nach der Kairo-Konferenz stattfinden wird?
El-Bayoumi: Ich denke sie ist in Ordnung, ihre Positionen werden besser sein, als jene der Kairo-Konferenz, aber ich glaube wirklich, dass es Prioritäten gibt. Und die Priorität hier in Ägypten muss es sein, uns auf den Aufbau einer Infrastruktur zu konzentrieren. Es gibt viele Netzwerke für panarabischen Austausch, die eben bereits etabliert sind und arbeiten. Ich bin von der Notwendigkeit panarabischer Aktivitäten überzeugt, aber wir sind davon noch weit entfernt.
Intifada: Während der letzten sechs Monaten gab es immer wieder Berichte über wilde Streiks, vor allem in Fabriken in der Region des Nildeltas. Was denken Sie werden die weiteren Entwicklungen dieser sozialen Spannungen sein?
El-Bayoumi: Das ist die wichtigste Entwicklung, die Arbeiterstreiks. Aber das negative daran ist, dass es keine Organisation gibt. Und ihre Forderungen sind auf Gehaltsforderungen und vielleicht Arbeitsbedingungen beschränkt. Aber auch das zeigt, dass die Dinge hier nicht stabil sind. Ich, als Physiker, unterscheide zwischen stabil und metastabil. Auch wenn sie genau gleich aussehen, so kann doch die metastabile Situation sehr plötzlich kollabieren. Also kann man die Situation hier metastabil bezeichnen, was auch gefährlich ist, denn durch das Fehlen einer Organisation kann die Bewegung auch sehr schnell zerschlagen werden, das passierte bereits zuvor. Sie wird dann zu gar nichts führen und kann sogar eher hinderlich einer wirklichen Veränderung entgegen stehen. Also ist es unsere Pflicht eine Organisation zu schaffen, das ist sehr wichtig.
Intifada: Da die Linke so schwach ist, wäre es nicht ein Leichtes für die Moslemische Bruderschaft Nutzen aus diesen sozialen Spannungen zusammen mit dem Fehlen einer anderen Organisation zu ziehen?
El-Bayoumi: Sicherlich. Das Problem mit der Linken ist, dass viele Marxisten kooptiert wurden. Die meisten der NGOs, die ihr Geld von der EU und den USA beziehen, haben frühere Marxisten, die heute für sie arbeiten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sie sich um 180 Grad gedreht. Das ist also die Herausforderung, wir müssen von dieser Realität ausgehen. Es bedarf harter Arbeit und Widerstands, aber die Situation ist nicht hoffnungslos.
Intifada: Welche Rolle spielte die Gewerkschaft bei den wilden Streiks?
El-Bayoumi: Die Gewerkschaft ist völlig von der Regierung und dem Geheimdienst kontrolliert. Es gibt keine unabhängigen Gewerkschaften. Aber ironischerweise tat die Bewegung in den Fabriken das, was sie tat, trotz und gegen ihrer Gewerkschaftsführer, die im Grunde Regierungshandlanger sind. Dennoch, die Regierung erfüllte die meisten ihrer Forderungen während des Streiks, weil sie es sich nicht leisten kann, diese Art des sozialen Aufstands offen niederzuschlagen, denn er ist in gewisser Weise ansteckend. Wenn eine Fabrik einen Streik anfängt, kann dieser sehr leicht von einer zu anderen übergehen. Aber natürlich wissen wir nicht alles, was in der Fabrik selbst passiert. Wir haben keine Organisationen wahrgenommen, aber trotzdem ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Streiks Führer hervorgebracht haben, denen die Arbeiter vertrauen, zumindest in manchen Fällen.
Intifada: Eingangs erwähnten Sie die Gefahr konfessioneller Gewalt oder Spaltungen innerhalb der ägyptischen Gesellschaft. Wie nah ist diese Gefahr an der Wirklichkeit?
El-Bayoumi: In jeder Gesellschaft kann man konfessionelle oder ethnische Spannungen schüren. Ein Land kann entlang dieser Linien sehr leicht auseinandergerissen werden, jedes Land der Welt. Wir haben die Erfahrung von Jugoslawien gesehen und wir sehen es im Irak. Ich habe im Irak eineinhalb Jahre für die UNO gearbeitet, ich war verantwortlich für die Verteilung von Nahrung. Ich habe niemals etwas von dieser Spaltung Schiiten-Sunniten gehört. Auch wenn wir hier in Ägypten kaum Schiiten haben, gibt es Propaganda gegen sie um der Popularität von Nasrallah zu schaden und auch in Vorbereitung eines Angriffes gegen den Iran, denn die USA versuchen zusammen mit Jordanien, Saudi-Arabien und Ägypten eine sunnitische Allianz zu schmieden, die mit ihnen und Israel gemeinsam dem neuen Feind Iran die Stirn bieten kann. Wir sind sehr kritisch der Einmischung des Irans im Irak gegenüber, wir sind dagegen, wir verurteilen sie, aber wir halten den Iran nicht für einen Feind. Wir stimmen absolut nicht damit überein, was er im Irak macht, aber wir unterstützen seine Position, was nukleare Technologie, Syrien, Palästina und den Libanon betrifft. Ich bin gegen Atomwaffen, aber solange Israel hunderte solcher Waffen hat, ist es inakzeptabel einem einzigen Land in der Region die Entwicklung einer solchen Technologie zu verbieten.
Intifada: Wo Sie schon vom Iran sprechen, halten Sie einen Angriff auf den Iran für unmittelbar bevorstehend?
El-Bayoumi: Es gibt hier sehr widersprüchliche Signale, ich bin mir nicht sicher. Aber ich denke, dass sie eventuell zu einem Kompromiss finden. Es gibt auch die Möglichkeit von Luftangriffen, aber ich denke nicht, dass ein Krieg und eine Besatzung wie im Irak derzeit im Iran möglich ist. Israel übt Druck in diese Richtung aus, zumindest für Luftangriffe, nicht zuletzt deswegen, weil Israel von Anfang an eher an einem Angriff gegen den Iran als gegen den Irak interessiert gewesen ist.
Intifada: Welche Reaktion erwarten Sie vom ägyptischen Volk falls der Iran angegriffen wird? Halten Sie die sektiererische Propaganda für so weit vorgedrungen, dass sie eine Bewegung verhindern würde?
El-Bayoumi: Das Volk wird dagegen sein. Vergessen wir die Intellektuellen, welche ihre Positionen abwägen und nicht spontan reagieren, aber das Interessante an den Menschen in den Straßen, den Cafà©s ist, dass sie zwar eine vielleicht zu einfache Position haben, aber dafür eine sehr klare gegen einen solchen Angriff.
Intifada: Wenn wir kurz über internationale Fragen sprechen, wie würden Sie die Situation in Palästina kommentieren?
El-Bayoumi: Ich bin sehr unzufrieden damit, dass Hamas in die Regierung gegangen ist. Widerstand beteiligt sich nicht an einer Regierung, solange er nicht gewonnen hat. Und nun rutschen sie immer weiter zu Kompromissen hin. Die PFLP und der Dschihad waren kein Teil davon. Die Unterstützung des Volkes wird sich wenden.
Intifada: Hamas hätte sich überhaupt nicht an den Wahlen beteiligen sollen?
El-Bayoumi: Sie hätten sich nicht an der Regierung beteiligen sollen. Die Wahlen sind eine andere Geschichte. Es könnte eine Taktik gewesen sein, um zu zeigen wie populär sie sind, aber tatsächlich ist die Popularität der Hamas ein bisschen aufgebläht, denn die Leute wählten in erster Linie gegen Fatah. Nichtsdestotrotz war es ein gutes Zeichen, denn es war eine Wahl für den Widerstand. Aber in die Regierung zu gehen war ein katastrophaler Fehler.
Intifada: Denken Sie, die PFLP hat die richtige Entscheidung getroffen anfangs nicht in die Regierung zu gehen?
El-Bayoumi: Ja. Hamas ist jetzt unter sehr starkem Druck, von der EU, den arabischen Regierungen, der Fatah. Ich weiß nicht wohin das noch führen wird.
Intifada: Glauben Sie, dass es im Libanon immer noch eine Möglichkeit gibt die Hizbullah wieder in den existierenden Staat zu integrieren?
El-Bayoumi: Nein, Hizbullah ist vorsichtig, sie haben jüngst signalisiert, dass sie nicht mal mehr Teil von direkten Verhandlungen sein wollen, sondern andere für sich verhandeln lassen werden. Die Situation im Libanon ist sehr komplex und wären die USA nicht involviert, hätte man vielleicht einen Kompromiss erreicht. Aber die USA wollen diesen Internationalen Gerichtshof, der in Wirklichkeit sehr wenig mit der Ermordung von Hariri zu tun hat, sondern dazu dienen soll Nasrallah los zu werden. Deshalb fordern wir von Nasrallah auch sehr deutlich zu dem anderen internationalen Gericht im Irak Stellung zu nehmen, das nicht viel anders ist, man muss gegen beide sein. Er hat während der letzten Wochen mehrere Erklärungen herausgebracht, die auf der Webseite von Al Manar sind und die in diese Richtung gehen, Unterstützung des irakischen Widerstands, das sind sehr gute Schritte in diese Richtung. Vielleicht nicht so umfassend wie ich mir das wünschen würde, aber immerhin die Richtung stimmt. Wir fordern sie, es ist dasselbe wie mit der iranischen Regierung. Man kann nicht gegen Imperialismus sein und gleichzeitig politische Deckung für die Besatzung im Irak liefern.
Intifada: Was glauben Sie ist die Herausforderung für die europäische Linke heute?
El-Bayoumi: Für mich sind wirkliche Linke Menschen, die andere Linke respektieren und mit ihnen als aufrichtige Verbündete umgehen, zusammenarbeiten und interagieren. Ich bin davon überzeugt, dass der Kampf nicht nur lokal begrenzt ist. Ich verfolge, was in Europa passiert. Die Entwicklung der wirklich linken Bewegungen in Europa ist sehr wichtig, sie ist unsere Hoffnung, nicht dass sie unsere Probleme lösen wird, sondern dass sie Teil unseres gemeinsamen Kampfes ist. Aber seien wir ehrlich. Um wirklich ernsthaft zu arbeiten, muss man dem eigenen Land die Priorität einräumen, das bedeutet nicht internationale Fragen zu negieren. Ich glaube nicht, dass man immer nur eine Sache auf einmal machen kann. Es gibt nicht so etwas wie eine sequentielle Abfolge von Aufgaben, das ist lächerlich und dumm, es zeugt von Ignoranz, wenn man so denkt. Der Kampf ist komplex und man kann interne von äußeren Faktoren nicht trennen, und die äußeren Faktoren werden immer wichtiger, was jedoch nicht dazu berechtigt innere Fragen zu vernachlässigen.
Intifada: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Doris Höflmayer.
Kairo, 26. Februar 2007