Über die Verteufelung des politischen Islam, aus Intifada Nr. 24
Mit Befriedigung stellen wir fest, dass die Islamophobie endlich als eine zentrale Bedrohung für die fortschrittlichen Kräfte wahrgenommen wird. Das war vor nicht all zu langer Zeit noch nicht so und kann als Erfolg unserer Aktivität gewertet werden.
Islamfeindlichkeit als Herrschaftsideologie
Die Islamophobie ist eine Bedrohung, weil sie der Legitimation des gegenwärtigen imperialen Krieges dient. Dabei kommt es zu einer merkwürdigen Inversion der realen Verhältnisse. Der Islam wird nicht nur als barbarisch, archaisch und antiaufklärerisch dargestellt, sondern als aggressiv und kriegerisch, als wolle er die westliche Welt, die sich selbst gerne als Hort von Demokratie, Freiheit und Aufklärung gibt, offensiv angreifen. „Freie Frauen statt Kopftuch“ plakatierte die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) im letzten Wahlkampf millionenfach und drückte damit einen Allparteienkonsens von ganz rechts bis ganz links aus und würde wohl in den meisten europäischen Ländern dafür ebenfalls große Zustimmung erhalten. Wir, die Zivilisierten, müssten unsere Freiheit gegen die anmaßenden Barbaren, gegen die Neuauflage der historischen Türkenbelagerung, verteidigen. So sehr das politisch-korrekte, proamerikanische Establishment sich sonst von der breiten Masse entfernt hat, in diesem Punkt weiß es die Bevölkerung hinter sich. Die Angst vor der schleichenden Islamisierung, zukünftig ohne Kopftuch nicht mehr in die U-Bahn einsteigen zu dürfen, ist genau so ernst und echt, wie sie jeglicher Realität entbehrt.
Tatsache ist vielmehr, dass der Westen Teile der arabisch-islamische Welt militärisch besetzt hält, dieser den Krieg erklärt hat und den Zugang zu ihren Ressourcen erzwingt. Es geht um nichts weniger als die vollständige neokoloniale Unterordnung.
Es sei bemerkt, dass trotz des aufgeklärt-liberalen Anspruchs die Entstehung einer solchen modernen Alltagslegende durch die alles durchdringende Macht der Medienmaschine heute noch mehr möglich ist als in der Vergangenheit. Die Islamophobie gleicht in ihrer Irrationalität in vielerlei Hinsicht dem historischen Antisemitismus, nur dass sie in ihrer Funktionalität für die Herrschaft noch leichter erkennbar sein könnte – wenn man das wollte. Der Ideologe des Kulturkampfes gegen den Islam, der US-amerikanische Politologe Samuel P. Huntington, hat entgegen dem europäischen prozionistischen Mainstream, der im Dienste Israels den Antisemitismus weiterhin zum treibenden Prinzip der Weltgeschichte aufbläht, kein Problem diese Tatsache einzuräumen: „In Westeuropa ist der gegen Juden gerichtete Antisemitismus weithin von einem gegen Araber gerichteten Antisemitismus abgelöst worden.“1
Die Funktion der Hetze gegen Muslime ist aber keineswegs auf den globalen Krieg, also auf nach außen gerichtete Feinde, beschränkt. Sie wendet sich genauso nach innen und dient dem Abbau demokratischer Rechte, die die Eliten nach dem Ende der „kommunistischen Bedrohung“ als nicht mehr notwendig erachten. Der Kampf gegen den Terrorismus gerät so zum Feldzug gegen die elementaren Grundrechte. Doch das wurde in diesem Kreis bereits dargelegt und muss nicht wiederholt werden.
Konkreter auf unsere gemeinsame Aktivität eingehend, droht die verschärfte Kampagne gegen des Islam einige unserer Erfolge quasi durch die Hintertür zunichte zu machen. Uns ist es im Grunde gelungen, die Legitimität des Widerstands, auch des bewaffneten, gegen die westliche Besatzung im Irak und im geringeren Maß in Palästina, zu etablieren bzw. zu verteidigen. So stark die Medien auch für die USA und Israel schreiben mögen, wird uns Freund und Feind zustimmen, dass sich die subalternen Klassen von dieser Gehirnwäsche nicht beeindrucken lassen und den Kampf gegen fremde Besatzung gerechtfertigt finden.
Man versuchte die politische Unterstützung des Widerstands zu kriminalisieren. Das misslang angesichts dieser Stimmung und auch unserer Aktivität weitgehend. Doch die Herrschenden brauchen den Diskurs nur leicht zu drehen, ihm eine Schlagseite gegen den Islam zu geben und schon können sie mit satten Mehrheiten rechnen.
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Um so wichtiger ist es, den hier erreichten Konsens über die von der Islamophobie ausgehende Gefahr zu festigen und zu vertiefen. Dazu muss aber ein weiteres Vorurteil ausgeräumt, eine dogmatische Verkrustung der Linken aufgebrochen werden, die ebenfalls weitgehend in die gegenwärtige Herrschaftsideologie übernommen wurde.
Säkularistischer Fundamentalismus
Viele derjenigen, die die gegenwärtige Hetze gegen Muslime verurteilen, fühlen sich dennoch bemüßigt, sich im gleichen Atemzug in der alten atheistischen Manier vom Islam zu distanzieren. Sie bemühen dafür gerne das Marxsche Diktum von der Religion als Opium des Volkes. Doch dieses stammt in der Verkürzung nicht von Marx selbst, sondern ist eine Prägung der späteren Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen wie der prosowjetischen. Tatsächlich stand Marx für ein sehr viel dialektischeres Verständnis, nachdem die Religion gleichzeitig als Palliativum und als Protest fungiere. „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“4
Die Absetzung von der junghegelianischen Religionskritik war ein entscheidender Punkt auf Marxens Entwicklungsweg. Er richtete sich dabei auch gegen den bürgerlich-aufklärerischen Atheismus, den er als Kampf gegen Windmühlen verstand. Vielmehr ging es ihm darum, jene Umstände praktisch-politisch zu verändern, die der Religion bedürfen, die sie also als falsche Ideologie hervorbringen.
Mittlerweile sind zwei ereignisreiche Jahrhunderte der Kriege und Revolutionen ins Land gezogen und haben die Struktur der kapitalistischen Herrschaft grundlegend verändert. Dabei hat sich die Rolle der Kirche, die als Machtapparat auf Seiten des kapitalistischen Staates das legitime Ziel des Säkularismus war, gewandelt. Der kapitalistische Staat bedarf der Kirche kaum mehr und stützt sich auf eine zeitgemäßere liberalistische Zivilreligion, die viel durchdringender ist.
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Das ist politisch an der Position zum imperialen „Anti-Terrorkrieg“ ablesbar. Die USA führen diesen in der Substanz als christlichen Kreuzzug gegen den Islam. Obwohl Europa ob solch alttestamentarischen Obskurantismus die Nase rümpft, beteiligt es sich dennoch an dem Krieg, wobei es sich seinerseits als säkularistisch-aufklärerisch deklariert und sich dabei zivilisatorisch allen überlegen wähnt. Während dessen fand der Vatikan immer wieder kritische Worte zum Krieg, die am moderaten Rand der Antikriegsbewegung durchaus anschlussfähig waren und gegenüber sozialdemokratischen Positionen sogar als radikal wahrgenommen werden könnten.
Die Kirche ist dem Säkularismus unmerklich als Feind verlorengegangen, während er damit beschäftigt war, sich gegen einen neue am Horizont heraufziehende Bedrohung zu wappnen, nämlich dem Islam.
Allein, der Säkularismus hat dabei „vergessen“, dass sich der gegenwärtige politische Islam in seiner politisch-sozialen Funktion in keiner Weise mit jener historischen der Kirche vergleichen lässt – einmal ganz abgesehen davon, dass es in der Mehrheitskonfession des sunnitischen Islam überhaupt keinen Klerus gibt. (…) Der entscheidende Unterschied ist, dass der politische Islam sich in einem scharfen Konflikt mit dem kapitalistisch-imperialistische Zentrum befindet, während die Kirche eine Bastion derselben zu sein pflegte. Das war nicht immer so, hat sich aber mit dem Niedergang der linken, säkular-nationalistischen Befreiungsbewegungen entwickelt. Der Wendepunkt war auch hier 1989/91. Heute wird der politische Islam unter verschiedenem Titel vom Imperialismus als Hauptgegner angesehen.
Wir erlauben uns für diese Position den Begriff des säkularistischen Fundamentalismus zu verwenden, der den Fortschritt im Mund führt, aber realpolitisch chauvinistisch-reaktionär und vor allem neokolonial geworden ist. Der Westen hat ganz so wie in den Höhepunkten des Kolonialismus eine „mission civilisatrice“. Selbst versteht er sich als Antipode zum Fundamentalismus, den er zu bekämpfen vorgibt. Er nimmt für sich die vernunftmäßige Begründung in Anspruch, die ohne starres, dogmatisches, gegebenes Fundament auskommt. Doch unter der Hand ist sein Ideengebäude genau zu einem solchen starren Fundament verkommen, das vom gesellschaftlichen Kontext abgeschnitten wurde. Dieser fundamentalistische Säkularismus legitimiert im Namen des Kampfes gegen die Religion die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die letztendlich die Religion erst notwendig machen.
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Befreiungstheologie
Als in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem in Lateinamerika politische Bewegungen erstarkten, die sich auf die Theologie der Befreiung beriefen, stieß das bei der Linken auf allergrößte Zustimmung und wurde als Verbreiterung der Front willkommen geheißen. Der Kampf gegen die bestehenden imperialistischen Herrschaftsverhältnisse wurde von der christlichen Linken mit einer religiösen Doktrin kombiniert und legitimiert. Viele der Exponenten der Befreiungstheologie brachen mit Rom und proklamierten eine Basiskirche ohne Hierarchien, die sich auf das kirchenlose Urchristentum beruft.
Ein Vierteljahrhundert später, wo im Nahen Osten, der Region, die heute die zentrale Zielscheibe des imperialistischen Krieges ist, ähnlich geartete politisch-religiöse Bewegungen an vorderster Front Widerstand gegen Besatzung und westliche Dominanz leisten, da scheinen diese Erfahrungen wie weggeblasen. Man kann nicht umhin zu denken, dass diese gänzlich andere Rezeption damit zusammen hängt, dass deren religiös-kultureller Hintergrund nicht christlich, sondern islamisch ist.
Spätestens an diesem Punkt wird aus allen Kanonenrohren gegen die Analogie geschossen. Ein Vergleich sei nicht möglich, denn beim politischen Islam handelte es sich um eine reaktionäre Bewegung, die über lange Zeit gegen den Kommunismus und die Sowjetunion mit den USA und dem Westen im Bündnis gestanden wäre. Trotz der Abwendung von Washington bleibe der Islamismus reaktionär, weil er sich nach wie vor gegen den Sozialismus und die Emanzipation richte und diktatorische Herrschaft anstrebe. Mit Beispielen ist man schnell bei der Hand: Mit dem Verweis auf al Qaida, die Islamische Republik Iran oder die afghanischen Taliban glaubt man, Recht behalten zu können.
Jedes der Beispiele bedürfte einer separaten Betrachtung unter Einbeziehung des lokalen und regionalen Kontextes, wofür hier kein Raum ist. Diese Untersuchungen würden ein klares antiimperialistisches Moment aufzeigen, das zwar durchaus mit reaktionären Momenten verschmolzen sein mag, das aber in letzter und globaler Konsequenz den Bewegungsspielraum linker revolutionärer Kräfte erhöht.
Es lassen sich zahlreiche Beispiele finden, wo der Islamismus nicht nur eine antiimperialistische, sondern auch sozial fortschrittliche Rolle spielt, wie bei der libanesischen Hisbollah oder beim palästinensischen Islamischen Dschihad. Hier seien nur zwei sehr bekannte Bewegungen genannt, doch fast in jedem Land findet man kleinere krypto-linke islamische und islamistische Gruppierungen, die auch historisch auf die eine oder andere Art und Weise Schnittpunkte mit der Linken aufweisen.
Es lässt sich eine globale, allgemeine Tendenz feststellen, die alle Bewegungen betrifft und sie in einen zunehmenden Widerspruch zum Imperialismus bringt. Dieser Konflikt drängt den politischen Islam dazu, die subalternen Klassen und ihre Interessen nach sozialer Gerechtigkeit und politisch-kultureller Selbstbestimmung im Kampf anzusprechen. Das stößt sie nicht nur auf das Feld der Linken, sondern auch zur Kooperation mit dieser. Natürlich ist diese Tendenz nicht bruchlos und automatisch, aber sie ist einerseits real, am konkreten Gang der Entwicklung abzulesen und andererseits notwendig im Sinne von imperativ, denn anderes kann der Widerstand nicht die Kräfte mobilisieren, die für nachhaltige Siege notwendig sind.
Kampf der Kulturen
Es lohnt sich, die Transformation des politischen Islam zu Befreiungsbewegungen bis an die Wurzeln zu verfolgen. Diese hängt natürlich wesentlich mit dem Ende des linken, säkularen Nationalismus zusammen. Der Marxismus und die Linke stellten für die Unterdrückten der Dritten Welt die „gute Seite“ des Westens dar, die für Befreiung und Emanzipation vom Kolonialismus – trotz aller Einschränkungen – standen. Die UdSSR – auch hier mit gewichtigen Abstrichen – war das staatliche Bollwerk, das ein globales Gegengewicht gegen den Imperialismus darstellte und so Spielraum für eigenständige Entwicklungsprojekte verschaffte.
Der Sieg des imperialistischen Kapitalismus auf ganzer Linie ließ den Westen samt seiner Kultur und seinen Werten als einheitlichen imperialistischen Block erscheinen. Die Demokratie, die Aufklärung, die Linke, all das was früher von den Befreiungsbewegungen in ihr Repertoire aufgenommen worden war, wurde nun gegen sie in Stellung gebracht. Nachdem der Kommunismus als Alternative nicht mehr vorhanden war, konnten nun die westlichen Bomben im Namen von Menschenrechten, Demokratie, Frauenemanzipation usw. fallen.
Hinzu kommt, dass auch die linken, säkularen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zur Kapitulation und zur Übernahme der liberalistischen Thesen à la Clinton neigten. Paradigmatisch ist dabei das Beispiel Palästinas, des unversöhnlichsten und beständigsten kolonialen Konflikts in der Welt. Arafats Fatah ging mit den Osloer Verträgen auf die amerikanisch-israelischen Bedingungen ein, ohne nur eine einzige der grundlegenden Interessen der unterworfenen Palästinenser erfüllt zu bekommen – außer ein paar vagen Versprechungen. Nach anfänglicher Unterstützung durch weite Teile der Bevölkerung erkannte man nach und nach, betrogen worden zu sein, nachdem sich Israel nicht einmal zu einer Bantustanlösung bereit erwies. Während die Fatah an ihrer neuen Rolle als Kolonialverwaltung festhielt, regte sich in der Bevölkerung zunehmend Widerstand. Die islamische Bewegung, die in Form der Moslembrüder historisch eine quietistische bis kollaborationistische Rolle gespielt hatte, wurde zunehmend zum Träger dieses Widerstands. Das Projekt der nationalen Befreiung vom Zionismus, das links und säkularistisch argumentiert kaum mehr Hoffnung auf Erfolg versprach, erhielt mit religiöser Begründung neue Anziehungskraft.
Für kurze Zeit, nach dem Ende der Sowjetunion, schien der um die USA gruppierte Kapitalismus unter dem Namen Globalisierung als einzige Möglichkeit der Entwicklung, nicht nur im Westen. Die vollmundigen Versprechungen Clintons von Frieden, Prosperität und Demokratie für die ganze Welt wurden entweder geglaubt oder als alternativlos hingenommen. Doch in dem Maße, in dem diese Illusionen an der bitteren imperialistischen Realität zerstoben, sprang auch der Widerstand der Verlierer dieser proklamierten „Neuen Weltordnung“ an. Doch er war gezwungen, sich neue Banner, neue Begründung, neue Legitimität zu geben, denn die Linke war geschlagen. Die globale Tendenz ging und geht dahin, den Widerstand und ein alternatives gesellschaftliches Modell aus den eigenen autochthonen kulturellen Wurzeln heraus zu begründen – einerlei wie sehr diese real oder mystifiziert sein mögen, denn ihre geschichtliche Wirksamkeit hängt nicht in erster Linie von deren historischen Richtigkeit ab.
Huntingtons „Kampf der Kulturen“ ist sicher ein chauvinistisches Machwerk. Doch es greift zweifellos reale Tendenzen auf. Es antwortet aus imperialistischer Sicht auf tatsächliche Entwicklungen. Es reicht nicht aus, Huntingtons Thesen in Bausch und Bogen zu verdammen und ihm die politischen Projekte der 20er oder auch 60er Jahre entgegenzuhalten, die ein globales revolutionären Subjekt gegen den Kapitalismus oder zumindest zwei klar erkennbare Blöcke aufwiesen. Huntington konstatiert, was der common sense schon lange erfasst hat. Er mag übertreiben, wenn er das Ende der säkularen Ideologien proklamiert, und aus dieser Vereinfachung die Notwendigkeit des kulturell-religiös begründeten Krieges der USA ableitet. Aber es ist eine unleugbare Tatsache, dass die globalen säkularen Ideologien ihre Wirksamkeit stark eingebüßt haben.
Huntington sieht die Konkurrenz der verschiedenen Kulturen, stellt sie aber alle als in derselben Liga spielend dar. Er kann zwar nicht umhin, die enormen globalen sozialen Differenzen einzuräumen, aber als Triebkraft des Konflikts will er sie nicht gelten lassen. Wir wollen keineswegs der ökonomistischen These, dass alle Geschichte auf wirtschaftliche Faktoren zurückzuführen sei, das Wort reden, aber uns erscheint der „clash of civilisations“ als kulturelle Verkleidung oder Überformung eines Klassenkampfes. (…)
Die Konfliktlinien verlaufen also nicht in erster Linie zwischen den Kulturen, sondern vor allem zwischen dem imperialistischen Zentrum und den unterworfenen, unterdrückten und ausgebeuteten Milliardenmassen der Welt. Im Kampf für die Verbesserung ihrer Lage formieren sie diese Interessen gegenwärtig entlang der genannten kulturellen Linien. Die zugrundeliegende Substanz bleiben aber die zum Explodieren gespannten Ungleichheiten und Widersprüche im kapitalistisch-imperialistischen Weltsystem.
Aus diesem Gesamtzusammenhang werden auch die Tendenzen klar, die die Entwicklungsrichtung des politischen Islam bestimmen. Die islamistische Ideologie ist sicher keine noch so verbrämte des Klassenkampfes, im Gegenteil wünscht sie sich die möglichst konfliktfreie Einheit der Ummah, der globalen islamischen Gemeinschaft. Auch wollen wir uns nicht zur Behauptung versteigen, dass der Bezug auf die Religion nur eine äußere Hülle wäre. Nein, die Ideologie ist ein Stück weit mit Max Weber selbst konstitutiv für den Konflikt. Dennoch kennt der politische Islam seinen Hauptfeind, den Imperialismus. Um gegen diesen Erfolge erzielen zu können, muss er die subalternen Klassen der kapitalistischen Peripherie, die breiten Volksmassen gegen die eigenen Eliten, die mit dem Westen unter einer Decke stecken, mobilisieren. Diese haben Interessen nach sozialer Gerechtigkeit und politischer Beteiligung, die der politische Islam zwar auf seine Weise formulieren, aber bei Strafe des Scheiterns nicht gänzlich unterdrücken kann.
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Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Selbstbestimmung enthält ein universelles Element, dass nicht nur die Möglichkeit eines breiten politischen Konsens bis in die Mittelklassen ermöglicht – wobei die kulturalistische Einfärbung nicht Nachteil, sondern Vorteil sein kann – sondern auch über den eigenen kulturellen und religiösen Bereich anschlussfähig ist. Sie enthält den Keim einer globalen antiimperialistischen Front, die wenn man so will krypto-kommunistisch ist, die aber nicht den Fehler der Vergangenheit, der ganzen Welt unter dem Deckmantel des Marxismus die westliche zutiefst positivistische Kultur aufzudrängen, wiederholt.
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1 Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen, Siedler, 1996, amerikanisches Original New York 1996, S. 320
2 Siehe S. 114 ff. in diesem Band.
3 Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Ausländerbehörde, IV Z BO 1, 27.09.2006
4 MEW Bd. 1, S. 378
Willi Langthaler