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„Im Zweifel für Israel“

28. April 2008

von Werner Pirker, aus: jungeWelt, 25. April 2008


Mit seinem Bekenntnis zum Zionismus hat Gregor Gysi die Koordinaten linker Außenpolitik umgeworfen

Der Redakteur der tageszeitung hatte „die strategische Bedeutung“ der Gysi-Rede zum 60. Jahrestag der Gründung Israels1, die in einer Solidaritätserklärung an den zionistischen Staat und einer schroffen Absage an den Antizionismus gipfelte, sogleich erfaßt. „Wenn die Linkspartei“, schrieb Stefan Reinecke in der taz vom 18. April, „Israel als Teil der deutschen Staatsräson anerkennt, demonstriert sie, daß sie endgültig im westlichen Wertesystem angekommen ist“. Bedenkt man, daß westliches Wertesystem und imperialistische Kriegsallianz Synonyme sind, kann das nur heißen: Weit ist sie gekommen.

Gleichzeitig stellt sich die Frage: Ist die von Gysi geäußerte Zuneigung zu Israel dem Kalkül einer schrittweisen Annäherung an die imperialistische Staatsräson geschuldet, wie es der taz-Autor – „Gysis Rede ist ein Schritt, um die außenpolitische Selbstisolierung der Partei aufzubrechen“ – vermutet? Oder ist es die von einem deformierten Antifaschismus inspirierte prozionistische Position des linken Mainstreams, welche dessen Anpassung an die imperialistische „deutsche Staatsräson“ beschleunigte?

Dr. Gregor Gysi hat sich für eine sehr umständliche Begründung seiner Haltung zum Nahost-Konflikt entschieden. Solidarität mit dem Aggressor, das sagt sich schließlich nicht so leicht. Das geht nicht ohne Geschwafel, pardon: Vermittlungsschritte. Vom Allgemeinen zum Besonderen vordringend, leitete der Linkspartei-Fraktionschef seinen Vortrag über „Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel“ mit kriegstheoretischen Anleihen bei Clausewitz ein: „Anstatt eine Konfliktpartei als einsamen Akteur mit eindeutig festgelegten Präferenzen aufzufassen, muß ein realistisches Bild des Krieges den hohen Grad an Komplexität eines gewaltsamen Konflikts erfassen.“ Dieser „Philosophie des Krieges“ stellte der Redner eine in der Linken vorherrschende „Tendenz zur einseitigen Parteinahme“ gegenüber: „Gerade bei dem israelisch-arabischen Konflikt habe ich den Eindruck, daß unsere Konfliktbeschreibungen in einem Gut-Böse-Schema implodieren.“

Damit meint er im wesentlichen jenen Teil der Linken im allgemeinen, bzw. der LINKEN im besonderen, die sich für die palästinensische Tragödie empfänglich zeigen. Und nur ganz nebenbei auch jene übertriebene Israel-Apologie, wie sie in den Rasereien der „Antideutschen“ zum Ausdruck kommt. Denn Gysi, der die Solidarität mit Israel aus deutschem Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Geschichte einfordert, ist gewiß kein „Antideutscher“. Doch auch die antideutsche Attitüde ist in ihrem Wesen nicht antideutsch, sondern antiarabisch. Die sehr deutsche Absicht der Nationalnihilisten besteht darin, deutsche Schuldkomplexe auf die arabisch-islamische Welt abzuwälzen, die „Kameltreiber“ für Auschwitz büßen zu lassen.

Konfliktursachen ausgeblendet

Vom hohen Roß der Abstraktion auf das linke Fußvolk herabblickend, liefert Gysi eine Konfliktbeschreibung, in der die Ursache des nahöstlichen Konflikts, die in der Logik des zionistischen Staatsprojekts liegende Vertreibung und Entrechtung der angestammten arabischen Bevölkerung Palästinas ausgeklammert bleibt. Seine mit großem Aufwand hergestellten Begründungszusammenhänge, seine der Abstraktionsleistung eines Clausewitz abgeschauten Verallgemeinerungen dienen freilich einzig der schlichten Absicht, die kriegerische Existenzform Israels zu objektivieren. Diese Vorgangsweise folgt sehr wohl einer „eindeutig festgelegten Präferenz“. Wäre er als Rechtsanwalt gefordert, würde Gysi auf „Im Zweifel immer für Israel“ plädieren.

„Im Rahmen einer Rede“, merkte Gysi an, „kann kaum etwas anderes geleistet werden, als Dinge zu unterschlagen, die andere für absolut relevant halten, und wahrscheinlich tun sie das auch zu Recht“. Die vorauseilende Demut hatte freilich die Nachsicht, die sie erhoffte, nicht verdient. Denn was der Redner unterschlug, war nicht mehr und nicht weniger als die palästinensische Sicht auf den Nahostkonflikt. Die „Nakba“, die palästinensische Katastrophe, kam in seiner Rede, wenn überhaupt, nur indirekt vor: als die nahöstliche Gewaltmechanik in Schwung haltende Reaktion der Eingeborenen auf die jüdische Besiedlung. Das ist kein tragisches Rednergeschick. Hier wurde vielmehr eine Grundhaltung deutlich, die sich darin äußert, daß das Recht des jüdischen Nahoststaates auf Existenz ein absolutes sei, das alle palästinensischen Ansprüche relativiere. So soll die – aus palästinensischer Sicht – Katastrophe der israelischen Staatsgründung, die Unterordnung der autochthonen Bevölkerung unter das Siedlerdiktat für alle Zeiten fortgeschrieben werden.

Selbst auf der Ebene der Sichtweisen hat die palästinensische der israelischen untergeordnet zu sein. Die Sicherung des zionistischen Projekts hat als höheres Rechtsgut als das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes zu gelten. Erst nach Anerkennung des Landraubes durch die Geschädigten kann über deren Schadenersatzansprüche geredet werden. Da läßt sich dann auch ein Herr Gysi dazu herab, den Palästinensern für das ihnen von den Israelis zugefügte Leid sein Bedauern auszusprechen.

Die palästinensische Gegenposition zum Zionismus erscheint dem Linkspartei-Politiker als nicht diskursfähig. Denn schon die Nichtanerkennung Israels in seiner zionistischen Verfaßtheit wird von der politisch korrekten Linken als ideologische Voraussetzung des Terrorismus denunziert. Gysis Position zur israelischen Staatsgründung entspricht im Grunde dem Geschichtsbild der Gründergeneration des Zionismus: „Gebt das Land ohne Volk dem Volk ohne Land“. Zwar läßt sich das damals übersehene Volk inzwischen nicht mehr wegreden, doch als politisches Subjekt hat es nach dem Willen Israels und seiner Freunde so klein wie möglich gehalten zu werden, wenn es schon nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Zwar würde es ein Gysi so nie sagen. Wohl aber, daß die Legitimität der nationalen Rechte der Palästinenser an deren Anerkennung der Legitimität des Zionismus und damit ihrer Vertreibung geknüpft sei. Das ist noch keiner anderen Nationalität zugemutet worden: Daß ihre Existenzberechtigung der Bedingung unterliegt, die Existenz eines Staates zu akzeptieren, der auf der Negation ihrer Existenz aufgebaut ist.

Ende der Debatte

Die Legitimität des Zionismus leitet Gysi aus der jüdischen Leidensgeschichte ab. „Nach tausend Jahren Ausgrenzung, Pogromen und dann der nationalsozialistischen Barbarei, das heißt der Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden, den Überlebenden des Holocausts zu empfehlen, nun doch auf die Emanzipation in anderen Nationalstaaten zu setzen, wäre wohl deutlich zu viel verlangt gewesen. Und so stellte sich das jüdische Nationalstaatsprojekt als alternativlos dar.“ Ende der Debatte. Den Palästinenserinnen und Palästinensern zu empfehlen, ihren Boden den Überlebenden des Holocausts zu überlassen, war hingegen nicht zu viel verlangt. Für den deutschen Linkspolitiker ist einzig der jüdische Emanzipationsdiskurs maßgeblich. Über das Schicksal des Landes der drei Religionen hatte nicht dessen angestammte Bevölkerung zu entscheiden. Es war entschieden, als Opfer und Täter zur Ansicht gelangten, daß den Jüdinnen und Juden der Verbleib in anderen Nationalstaaten nicht mehr zuzumuten sei.

Es ist schon eigenartig, daß der „zivilisierte Westen“, der sich heutzutage in düsteren Prophezeiungen über die Gefahr eines islamisch inspirierten Holocausts ergeht, bei seiner Entscheidung für das jüdische Nationalstaatsprojekt von der Annahme eines Fortbestehens des Antisemitismus im eigenen Machtbereich ausging und deshalb das Schicksal der Juden im Nahen Osten besser aufgehoben sehen wollte als im christlichen Abendland. Wie dem auch sei: Das Schuld-und-Sühne-Drama ist mit der Überlassung der Sühne für abendländische Schuld an die Morgenländer erfolgreich über die Bühne gebracht worden.

Die Zionisten wußten es dem Abendland mit einer strikten Westorientierung zu danken. Die Opfer okzidentalen Rassenwahns, der im Begriff „Antisemitismus“, der ursprünglich in einem Bedeutungszusammenhang mit Anti-Orientalismus stand, seinen Ausdruck fand, stellten sich als Wacht am Jordan in den Dienst des westlichen Hegemonialkartells, das in letzter Instanz auf die Sicherung der „white supremacy“, der weißen Vorherrschaft, gerichtet ist. Da erstaunt es dann auch nicht weiter, wenn das imperialistische Deutschland die Sicherung der Existenz Israels als Teil seiner Staatsräson wahrnimmt. Das ergibt sich weniger aus dem Bemühen um Wiedergutmachung als aus der Kontinuität imperialistischer Politik in Deutschland. Diese wird heute nicht mehr in einem mörderischen Alleingang auf dem „deutschen Sonderweg“ verfolgt, sondern im Rahmen des atlantischen Kriegsbündnisses. Israel bildet in nahöstlicher Aktionseinheit mit der alleinigen Supermacht USA das Gravitationszentrum des imperialistischen Krieges.
Linken Konsens aufgebrochen

Mit seiner Forderung nach Solidarität mit Israel begibt sich Gysi in die feine Gesellschaft der Kriegstreiber. Sollte seine Position in der Linkspartei mehrheitsfähig werden, würde das auch einen dramatischen Bruch mit der bisher eingenommen Haltung der Äquidistanz zu den nahöstlichen Konfliktparteien bedeuten. Die hatte immerhin noch zur Folge, daß israelische Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen beim Namen genannt wurden. Dieser Konsens – Eintreten für eine gerechte Friedenslösung, bei stärkerer Betonung der legitimen Anliegen der unterlegenen palästinensischen Seite – ist nun vom Fraktionsvorsitzenden aufgebrochen worden. Denn Solidarität mit Israel zu bekunden, bedeutet eindeutig Partei für jene Seite zu ergreifen, die sich der seit Jahrzehnten andauernden Unterdrückung des palästinensischen Volkes schuldig gemacht hat. Natürlich will Gysi seine Solidarität kritisch verstanden wissen, tritt er für die Räumung der 1967 von Israel widerrechtlich besetzen Gebiete und die Auflösung der jüdischen Siedlungen auf der Westbank ein. Doch ein Bekenntnis zur Solidarität mit dem Volk von Palästina war in seiner Rede nicht enthalten – und das lag wohl eher nicht daran, daß in jeder Ansprache zwangsläufig Dinge unterschlagen werden, die andere, in diesem Fall die Palästinenser, als absolut relevant betrachten.

Gysi macht ohnedies kein Geheimnis daraus, daß er eine neutrale Position im Nahostkonflikt grundsätzlich mißbilligt. Das verdeutlicht er ausgerechnet am Beispiel seiner Ablehnung der Entsendung deutscher Truppen für die UN-Mission im Libanon. Eben weil Deutschland in Nahost nicht neutral sein könne, wolle es seiner Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit gerecht werden, sollte es auf Neutralität voraussetzende „Friedenseinsätze“ verzichten. Daß es zwischen einer solchen Position und einer offenen Unterstützung israelischer Aggressionshandlungen unter der Begründung, daß Deutschland im Nahen Osten nicht neutral sein dürfe, nur noch ein Katzensprung ist, versteht sich fast von selbst. Was man beim nächsten Angriffskrieg Israels aus der Linkspartei wohl zu hören bekommen wird? Daß es die deutsche Staatsräson verbiete, israelische Kriegsverbrechen zu verurteilen?

Die Forderung von Solidarität mit Israel geht auch weit über das bisherige Insistieren auf das Existenzrecht des jüdischen Staates hinaus, das von der Mainstream-Linken schon immer als ihre heilige Pflicht empfunden wurde. Dabei stellte sich stets die Frage, welches Israel anerkannt werden sollte. Und in welchen Grenzen? Ein als Staat seiner Bürger oder ein als Staat des jüdischen Volkes definiertes Israel? Ein Israel in den Grenzen vor dem Krieg 1967 oder ein Israel, das seine genaue Grenzziehung noch bekanntgeben will? Für den Zionismus stellt der exklusiv jüdische Charakter der israelischen Staatlichkeit die Überlebensfrage schlechthin dar. Der Grund, weshalb die israelischen Eliten eine Zweistaaten-Lösung überhaupt ins Auge faßten, ist in der Angst vor einer „demographischen Katastrophe“, womit eine arabische Bevölkerungsmehrheit auf dem Boden Israels gemeint ist, begründet. Auch Gregor Gysi bewegt die Sorge um die jüdische Reinheit des israelischen Staatswesens. Sich gegen eine Einstaatenlösung aussprechend, sagte er: „Wer nur einen Staat für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser mit demokratischer Struktur will, akzeptiert damit heute, daß die Palästinenserinnen und Palästinenser die Mehrheit stellten, alles besetzten und die Verfolgungen, Unterdrückungen und Pogrome gegen Jüdinnen und Juden wie seit Tausenden von Jahren wieder begännen, nicht zu verhindern wären“.

Der Judenhaß erscheint ihm offenbar als ehernes Naturgesetz. Ungeachtet der Tatsache, daß es einen solchen in der arabisch-islamischen Welt vor der Säuberung Palästinas von seiner arabischen Bevölkerung nicht gab. An die These vom ewigen Antisemiten knüpft Gysi die Behauptung, daß allein der Staat Israel eine wirksame Garantie für den Schutz der Juden vor antisemitischen Pogromen sei: „Die Grundannahme des Zionismus, wenn die Jüdinnen und Juden eine Staatsmacht haben wollen, die sie auch wirklich schützen soll, dann nur in ihrem eigenen Staat, ist nach dieser historischen Erfahrung kaum noch ernsthaft bestreitbar“. Es mag auch eine Grundannahme des Zionismus gewesen sein, daß sich die arabische Bevölkerung Palästinas nach der Ankunft jüdischer Siedler in Luft auflösen würde. Als dies nicht geschah, wurde sie mit Gewalt aus dem Land vertrieben. Inzwischen ist es eine Grundannahme des Zionismus, daß Israels „Selbstverteidigung“ gegen seine arabischen Feinde der Verhinderung eines „zweiten Holocaust“ diene. Was also als Schutzmacht vorgesehen war, ist selbst zum Schutzobjekt geworden. Es war jedenfalls eine äußerst seltsame Annahme, zu meinen, sich vor Anfeindungen schützen zu können, indem man sich der Heimat eines anderen Volkes bemächtigt. Der begreifliche Haß, den die Kolonisten auf sich gezogen haben, wurde dann umgehend als Antisemitismus denunziert. Wenn Antisemitismus tatsächlich nur auf Projektionen beruhen würde, wie es psychoanalytische Deutungen nahelegen, er also nicht eine Reaktion auf das reale Verhalten von Juden ist, dann können die Opfer der zionistischen Landnahme ganz bestimmt keine Antisemiten sein. Sie hassen ihre Unterdrücker, weil sie Unterdrücker und nicht weil sie Juden sind.

Exklusive Demokratie

Für Gregor Gysi ergibt sich aus der Perspektive eines säkularen demokratischen Staates für Juden und Araber auf dem Boden des historischen Palästinas das Horrorszenario einer von Judenverfolgung geprägten Gesellschaft. Das ist eine seltsame Vorstellung von Demokratie. Sie steht in einem inneren Zusammenhang mit der Behauptung, daß Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten sei. Denn die israelische Demokratie ist eine Apartheid-Demokratie, was bedeutet, daß die Demokratie der einen die Unterdrückung der anderen zur Voraussetzung hat. Die Begründer des zionistischen Projekts diskutierten sehr wohl die Frage, ob Israel ein jüdischer oder ein demokratischer Staat sein solle. Weil sie wußten, daß die jüdische Exklusivität durch den Gleichheitsgrundsatz gefährdet wäre, entschieden sie sich für den jüdischen Staat.

Gysi aber bewundert die israelische Demokratie – nicht trotz, sondern wegen ihrer Exklusivität. Vor allem angesichts der „Bedrohungslage“, in der sich das Land befände, sagte er, „anerkenne ich die Bewahrung demokratischer Verhältnisse – einschließlich einer demokratischen Öffentlichkeit – während der vergangenen 60 Jahre seit der Gründung Israels dort als eine wirklich große Leistung, die Bewunderung und Anerkennung verdient“. Die staatliche Sanktionierung von Folter, die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung, die gezielte Tötung von Aktivisten, die Verweigerung von Baugenehmigungen an Palästinenser, die Zerstörung ihrer Häuser, die offenkundige Benachteiligung der arabischen Bürger Israels – das alles fällt unter „Bewahrung demokratischer Verhältnisse“. Gregor Gysi hat sich voll die Logik der zionistischen Doktrin zu eigen gemacht: Je ausgegrenzter der arabische Faktor, desto stabiler die israelische Demokratie. Das ergibt sich logisch aus einem Staatswesen, das sich nicht auf die Gesamtheit seiner Bürger, sondern auf das gesamte jüdische Volk, wo immer sich das auch befinden mag, bezieht.

Die entschiedene Absage, die Gysi dem Antizionismus erteilte, war eigentlich überflüssig. Denn antizionistisch im Sinne einer grundsätzlichen Ablehnung der Idee einer exklusiv jüdischen Staatlichkeit waren die Linkspartei und ihre Vorgänger ohnedies nie. Die Parteirechte ist nunmehr um die Herstellung einer prozionistischen Hegemonie bemüht. Dabei geht es nicht nur um Israel. Die Verurteilung des Antizionismus zielt auf die Entsorgung der gesamten antiimperialistischen Altlast. „Zusammenfassend“, so Gysi, „würde ich also behaupten wollen, daß der einstige Antiimperialismus in linken Diskursen, falls er es je konnte, nicht mehr sinnvoll plaziert werden kann“. Seiner „politökonomischen Ursprungskomponente“ sei schon mit dem Eintritt des Kapitalismus in die fordistische Phase, die zu einem Bedeutungsverlust der Kolonien als Absatzmarkt geführt habe, die „sachliche Substanz“ entzogen worden und nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus sei dem Antiimperialismus auch die machtpolitische Komponente verlorengegangen.

Das klingt ja ganz so, als wären Imperialismus und Antiimperialismus Entäußerungen der Ost-West-Konfrontation gewesen und nicht umgekehrt. Und als wäre mit dem Ende der Sowjetunion auch der Imperialismus bedeutungslos geworden. Denn nur das Ende des Imperialismus würde den Antiimperialismus gegenstandslos machen. Es scheint aber eher so, daß in „linken Diskursen“ der Imperialismus seinen Schrecken eingebüßt hat, weil entweder westliches Vormachtstreben nicht mehr als Imperialismus oder dieser als Motor des zivilisatorischen Fortschritts wahrgenommen wird.

Die Gysi-Sozialisten sind tatsächlich in der westlichen Wertegemeinschaft angekommen. In der aufgeklärten, liberalen, demokratischen, pluralistischen, säkularen, kurz: besten aller Gesellschaften, deren Feinde sich unter der grünen Fahne des Propheten sammeln. In dieser Deutung der globalen Situation steht Israel sinnbildhaft für die bedrohte westliche Zivilisation. Sein Recht auf Existenz wird zu einer Gewissensentscheidung der Menschheit erhoben. Der jüdische Staat nutzt das zu einer besonders exzessiven Auslegung dieses Rechtes – im Namen einer aggressiven westlichen Zivilisation. Mit seiner Geburtstagsrede für Israel hat Gregor Gysi seine außenpolitische Reifeprüfung abgelegt.

1 Der Vortrag „Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel“ von Gregor Gysi, gehalten am 14.April auf der Veranstaltung „60 Jahre Israel“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist dokumentiert im Internet: linksfraktion.de/rede.php?artikel=1317265844
Am Samstag lädt die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein zu einer Veranstaltung unter dem Titel „Israel, Palästina und die deutsche Linke. Eine Zukunft für Palästina“. Es referieren Dr. Nazmi Ju’beh, Naseef Mu’allem, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Peter Schäfer; Diskussionsleitung: Michael Brie (26.4., 17-22 Uhr, RLS, Münzenberg-Saal, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Eintritt frei). Weitere Informationen unter rosalux.de

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