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Hugo Chávez ruft zum Neustart

6. Mai 2008

Das Referendum und seine politische Signalwirkung, aus Intifada Nr. 25

Nach der Niederlage von Venezuelas linkem Präsident beim Referendum zur Verfassungsreform steht das Land vor einem kritischen Jahr für die Zukunft seiner „bolivarianischen Revolution“.

Nach einem überwältigenden Wahlsieg im Dezember 2006, der Hugo Chávez mit 62,8 % für weitere sechs
Jahre im Amt bestätigte, sollte das „alte Venezuela“ nun endgültig durch eine sozialistische Umgestaltung überwunden werden. „Los 5 motores“ – die fünf Motoren der Veränderung, lautete das Programm des Präsidenten und seines Kabinetts. Die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, eine Offensive in der territorialen Neuordnung sowie die Verankerung einer neuen, sozialistischen Ethik in der Politik und im Alltagsleben waren die Säulen dieser „Revolution in der Revolution“. Um den Schwung aus der enthusiastischen Wahlunterstützung durch die große Mehrheit der venezolanischen Unter- und Mittelschichten mitzunehmen, plante die im Januar 2007 neu angelobte Regierung mittels Reform der Verfassung, diese Neugestaltung des Landes möglichst rasch in Gang zu bringen. Parallel dazu stand ein zweites Großprojekt auf dem politischen Fahrplan für 2007. Die Zusammenführung aller pro-bolivarianischen Kräfte in einer „Vereinigten Sozialististischen Partei Venezuelas“ (PSUV).

Vorerst ein Sieg der Enttäuschung
Die Indikatoren für einen Erfolg dieser Vertiefung der Revolution in Richtung Sozialismus standen gut. Nicht
nur, dass Venezuela weiterhin aufgrund des hohen Weltmarktpreises für Rohöl auf ausreichend finanzielle
Mittel zurückgreifen kann, um seine sozialen Reformprojekte und wirtschaftlichen Entwicklungspläne
durchzuführen, sonderm auch die Einschreibung von 5,3 Millionen Anwärtern für eine Mitgliedschaft in der
neuen Partei PSUV schien das aktive Interesse des Volkes an dem neuen Kurs zu bestätigen. Umso größer war die Überraschung, als Hugo Chávez am 3. Dezember 2007, nachdem der Nationale Wahlrat das offizielle Ergebnis des Referendums über die sozialistische Verfassungsreform verkündet hatte, eingestehen musste, dass „wir es vorerst einmal nicht geschafft haben“ (1). 50,7 % der Wähler sprachen sich gegen die vom Präsidenten vorgeschlagene Änderung von 33 Artikeln der Verfassung von 1999 aus, zu der noch weitere 36 Änderungsvorschläge der Nationalversammlung hinzugekommen waren. Das Ergebnis zeichnete sich weniger durch ein Anwachsen der Stimmen für die antichavistische Opposition aus, die – wie üblich sekundiert durch Unternehmerverband, Privatmedien und Kirchenhierarchie – eine rabiate Kampagne gegen den Reformvorschlag geführt hatte. Die Nein-Stimmen entsprachen mit 4,5 Millionen fast exakt den oppositionellen Wählern bei der Präsidentschaftswahl 2006 (4,3 Millionen). Dagegen verlor der bolivarianische Block im Vergleich zu seinem Vorjahreserfolg etwa drei Millionen Stimmen an die Nichtwähler. Carlos Lanz, Ex-Guerillero und prominenter Unterstützer der chavistischen Regierung, brachte es in seiner Evaluierung dieser ersten Wahlniederlage des Bolivarianismus auf den Punkt: „Man muss vor allem die Beschränkungen und Fehler im revolutionären Block selbst analysieren“ (2). Zwar waren die Kräfteverhältnisse für die Opposition durch das Ausscheren des sozialdemokratischen Regierungspartners „Podemos“, der etwa 5 % der Stimmen für Chávez bei den Präsidentschaftswahlen 2006 mobilisiert hatte, sowie durch die Angriffe des im Juli 2007 zurückgetretenen Verteidigungsministers Baduel, der Chávez sogar einen „Verfassungsputsch“ vorwarf, deutlich verbessert. Auch konnten die Studenten von Privatuniversitäten durch zahlreiche Straßenaktionen „in Verteidigung der Demokratie“ Teile der Mittelschichten gegen den Reformvorschlag aufbringen. Dennoch war die oft mehrheitliche Enthaltung selbst in chavistischen Hochburgen der Armenviertel von Caracas, eine Warnung an die Regierung, mehr denn ein Votum für die Rechtsopposition. Lanz sieht darin eine Folge des „Triunfalismo“ innerhalb des Regierungsblocks, der sich nach der Serie scheinbar unaufhaltsamer Wahlerfolgen eingestellt hatte. Dadurch wurden nur unzureichende Anstrengungen unternommen, eine kollektive Diskussion und Kommunikation der vorgeschlagenen Reformen unter der Basis zu führen, aber auch einige brennende Widersprüche in der politischen und ökonomischen Situation übersehen (3).

Schwierige Institutionalisierung der Revolution
Der populäre bolivarianische Publizistund Universitätsprofessor Vladimir Acosta wies in einem Interview auf den Rückgang des Volksaktivismus hin und sprach von einer „Teresacareñizacià³n“ der Revolution, einer
Beschränkung der aktiven Rolle des Volkes auf Großveranstaltungen im Theater Teresa Careño von Caracas bei öffentlichen Reden von Präsident Chávez (4). Tatsächlich hatte die permanente Präsenz des Volkes auf der Straße seit der Konsolidierung des Chavismus nach dem siegreichen Referendum im August 2004 abgenommen. Während davor durch die offene Konfrontation mit der Opposition (Putsch 2002, Erdölstreik 2002/03, Abwahlreferendum 2004) der Aktivismus des Volkes dominant war, gab es mit dem Eintreten in die Phase des „Aufbaus der Alternative“ ein Ab-flauen der Mobilisierung. Dies ist sicher Ausdruck einer Institutionalisierung der Revolution, die einherging mit einer wachsenden Bürokratisierung der anfänglich von Eigeninitiative getragenen Reformprogramme (Missionen). Auch ist bis heute Präsident Chávez der eigentliche Impulsgeber für die politischen Entwicklungen im Land geblieben, wohingegen die
Volksbewegung oft in einer eher abwartenden Rolle erscheint. Seine weit reichenden und an der Basis enthusiastisch aufgenommenen Vorschläge versiegen so häufig in den Mühlen einer ineffizienten, traditionellen Staatshierarchie. Diese Beobachtung sollte jedoch nicht einseitig interpretiert werden: der „Caudillo“ Chávez bremse oder verhindere gar die eigenständige Volksinitiative. Die im April 2006 gesetzlich verankerte Bildung von Kommunalräten auf lokaler Ebene dokumentiert den Willen der bolivarianischen Führung, zunehmende Machtbefugnisse an die Basis zu übertragen. Mit diesen Räten soll der bürokratischen Trägheit und Korruption des Beamtenapparats gegengesteuert werden, die die Umsetzung
von Reformprogrammen, Landverteilung und Entwicklungsprojekten verschleppen. Der Aufbau der „Volksmacht von unten“ wurde durch den Impuls von oben zum Angelpunkt der Veränderung der traditionellen Strukturen des Landes. Doch diese neuen Institutionen mit Leben zu füllen, zu einer funktionierenden Machtalternative zu machen, können selbst die besten Vorsätze von Regierungsseite nicht gewährleisten. In weiten Teilen der Bevölkerung wirkt das kulturelle Erbe von Jahrzehnten des Klientelismus und der passiven Erwartung aller Problemlösungen von oben schwer. Ein Bewusstsein, das besonders in dem Erdölland Venezuela stark ausgeprägt ist. Auch die venezolanische Linke kann nicht aus der Verantwortung genommen werden. Sie erscheint vielfach hinter den politischen Ereignissen nachzulaufen und eher als kritischer Kommentator denn vorausschauender Initiator von eigenständigen Initiativen. Dennoch bringt der politische Prozess immer wieder auch hoffungsvolle Gegenbeispiele des Volksaktivismus. Die Kommunalen Front Simon Bolà­var (FNCSB) und die Bauernfront Ezequiel Zamora (FNCEZ), die mittlerweile in 21 der 22 Provinzen des Landes vertreten sind, etwa veranstalteten am 25. September 2007 ein nationales Treffen von über vierhundert Sprechern von Kommunalräten, um Vorschläge der Basis für die Verfassungsreform zu erarbeiten und dieKoordination zwischen den lokalen Räten auf regionaler und nationaler Ebene zu stärken.

Neue Gefahren von Außen und Innen
Es steht außer Frage, dass, trotz des verlorenen Referendums, immer noch eine große Mehrheit der Venezolaner ihren Präsidenten unterstützt. Eine jüngste „Latinobarometer“-Umfrage bestätigte, dass Chávez weiterhin die Popularitätsliste unter den lateinamerikanischen Präsidenten anführt – gefolgt von seinem Hauptwidersacher Alvaro Uribe Velez, Kolumbiens US-hörigem Regierungschef (5). Doch das Ergebnis vom 2. Dezember 2007 zeigte das Dilemma, dass eine Revolution über Wahlen auch auf dem selben Weg wieder abgewählt werden kann, gelingt es ihr nicht, einen Konsens selbst unter großen Teilen der nicht-revolutionären Bevölkerungsschichten zu sichern. Dieses Vertrauen wird nicht nur von Bürokratie, Korruption und schwer zu lösenden Alltagsproblemen, wie jenes der städtischen Sicherheit, unterminiert. Auch der Erdölreichtum des Landes ist gleichzeitig Segen und Fluch. Denn die Steigerung der Güterproduktion kann – trotz Wachstumsraten von 10,4 % im industriellen Sektor (6) – mit der Nachfrage
nicht Schritt halten, die durch eine um 130 % gestiegene Kaufkraft der Massen überproportional angewachsen ist (7). Nicht nur die mangelnde Investitionsbereitschaft des Privatkapitals konterkariert die Befriedigung dieser Nachfrage. Eine Überwindung der traditionellen Importabhängigkeit und der damit einhergehenden Zersetzung der Inlandsproduktion im landwirtschaftlichen und Konsumgüterbereich
kann selbst durch höchste Anstrengungen der Regierung nicht kurzfristig erreicht werden, trotz sichtbarer Erfolge aufgrund der Diversifizierung der Außenhandelsbeziehungen und systematischem Know-
How-Transfer im Rahmen der neuen Investitionsabkommen. Die sozialen Preiskontrollen in den Volksmärkten MERCAL führten in dieser Situation zu einem erstarkenden Schwarzmarkt und einem intensiven Lebensmittelschmuggel nach Kolumbien, wo die privaten Großproduzenten und – händler ihre gewohnten Profite realisieren können. Lebensmittelengpässe wurden vor dem Referendum auch gezielt verschärft und hatten zweifellos ihre Auswirkung auf das Wahlverhalten der weniger bewussten Schichten
der bolivarianischen Wählerschaft. Das Wahljahr 2008, in dem die Provinzgouverneure und Bürgermeister
neu besetzt werden, ist vor diesem Hintergrund zweifellos ein kritischer Moment für den Fortgang der bolivarianischen Revolution. Gelingt es der Opposition durch die medial und ökonomisch Mächtigen im Land, diese Situation zu verschärften und politisch zu kanalisieren oder kann die Regierung mit wirkungsvollen Maßnahmen gegensteuern? Die USA werden das ihre tun, um dem bolivarianischen
Prozess den Weg möglichst steinig zu machen. Der aktuelle Kon- flikt mit dem Erdölriesen Exxon-Mobil
(8) ist vor diesem Hintergrund zu lesen. Es geht dabei nicht nur um die Wut eines Großkonzerns, der gewohnt ist, dass Regierungen sich seinen Interessen unterordnen, sondern auch um ein Infragestellen der Investitionssicherheit für ausländisches Kapital in Venezuela, um das Land in die wirtschaftliche Isolation zu drängen.Das letzte Wort ist noch lange nicht gesprochen Den politischen Widersprüchen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten stehen aber zweifellos viele Zeichen der Hoffnung gegenüber. Nicht nur konnte sich Chávez jüngst durch seine Vermittlungstätigkeit bei der Befreiung zweier von der FARC-Guerrilla in Kolumbien festgehaltener Politikerinnen internationale Anerkennung schaffen. Zum Missfallen der USA,
da er prompt forderte, die FARC von der Liste terroristischer Organisationen zu streichen und als politischen
Gesprächspartner für eine Friedenslösung anzuerkennen. Innenpolitisch hat die Wahlniederlage beim Referendum zu einem intensiven Diskussionsprozess innerhalb der bolivarianischen Bewegung geführt. Präsident Chávez verkündete die Notwendigkeit der „drei R“ – Revision, Berichtigung und Neuanfang (auf Spanisch Revisià³n, Rectificacià³n und Reimpulso). Als erster Schritt wurde die Einheit der Regierungskoalition wieder zusammengeschweißt, die durch Differenzen über das Verfassungsreferendum,
aber vor allem auch um das vorgeschlagene Aufgehen etablierter Parteien wie „Patria Para Todos“
(PPT) und der „Kommunistischen Partei Venezuelas“ (PCV) in der PSUV, angeschlagen war. Die wiederbelebte Parteienallianz des „PatriotischenPols“ soll in neuem Konsens die bevorstehenden Wahlen meistern. Wichtiger, vor allem im Hinblick auf die Vertiefung der Revolution, ist aber sicher die Stärkung der Volksmacht von unten. Selbst ein Sieg im Referendum hätte diese strategische Herausforderung nicht gelöst, trotz der vorgeschlagenen verfassungsmäßigen Institutionalisierung der Kommunalräte. „Die wirklich verfassungsgebende Kraft kommt von unten, von der umwälzenden Aktion des Volkes, um, mit oder ohne die Unterstützung des Staates und an der Seite von Kommandant Chávez, eine neue revolutionäre institutionelle Ordnung zu schaffen“, so die Schlussfolgerung der FNCSB und der FNCEZ aus der Wahlniederlage (9). Ob diese schwierige Doppelstrategie aus revolutionärer Volksmacht von unten und Stabilisierung von Regierung
und Wählerbasis durch den Staat den momentanen Vormarsch der Opposition und die neuerlichen politischökonomischen Destabilisierungsversuche aus den USA zu stoppen vermag, wird sich bei den Wahlen im Herbst 2008 zeigen. Damit ist auch die „internationale Front“ dieses Kampfes, die
antiimperialistische Solidarität mit der Regierung Chávez und der revolutionären Bewegung Venezuelas, wichtiger denn je.

Gernot Bodner
(1) Hugo Chávez: Transkription der Rede vom 3. Dezember. http://www.congresobolivariano.org
(2) Carlos Lanz Rodriguez: La teorà­a crà­tica y la evaluacià³n del referà©ndum. 18.12. 2007, www.aporrea.org
(3) Carlos Lanz Rodrà­guez: a.a.O.
(4) Vladimir Acosta: A la derecha no se le puede dar tregua. Interview mit Aporrea. 17.01. 2008, www.aporrea.
org
(5) siehe: http://www.latinobarometro.org/
(6) Banco Central Venezuela: Agregados macroeconomicos. PIB por actividad econà³mica. Die durchschnittliche Wachstumsrate des BIP lag 2007 bei 8,8 %, jene in den industriellen Sektoren ohne Erdöl bei 10,4 % und jene im Erdölsektor bei 5,5 %. http://www.bcv.org.ve/c2/indicadores.asp
(7) Federico Fuentes und Tamara Pearson: Combatting Food Shortages in Venezuela. Green Left Weekly, 3rd February 2008
(8) Venezuela sicherte sich durch ein Dekret vom 1. Mai 2007 zumindest 60 % der Anteile aller Joint Venture Unternehmen an der Nutzung der Erdölvorkommen im Orinoco-Delta. Vier der sechs dort aktiven ausländischen Konzerne einigten sich auf neue Rahmenverträge und Kompensationszahlungen,
während Exxon vor Gericht zog. In England und Holland erwirkte der Konzern ein vorläufiges Einfrieren von 12 Mrd. Dollar an Vermögenswerten des staatlichen venezolanischen Erdölunternehmens PDVSA. siehe: Keine Erpressung Venezuelas durch den Öl-Multi Exxon, https://www.antiimperialista.org/
(9) FNCSB und FNCEZ: Desatemos con frenesà­ el verdadero poder constituyente del pueblo. http://frentecomunalsimonbolivar. org.ve/

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