Überlegungen und Vorschläge der Antiimperialistischen Koordination (AIK) zum österreichischen „Linksprojekt“. Am Samstag 19. Juli ab 12 Uhr wird in Wien auf einer Konferenz über den Antritt bei der Nationalratswahl entschieden.
I. Linksprojekt für Österreich: ein richtiger und wichtiger Schritt
Der Versuch einer Zusammenfassung oppositioneller Kräfte gegen das politisch-ökonomische Establishment des Neoliberalismus in Österreich, wie er derzeit von verschiedenen Kräften der Linken versucht wird, ist eine „objektive Notwendigkeit“ und daher zu begrüßen. Auch in Österreich herrscht eine gesellschaftliche Grundstimmung der Skepsis, des Zukunftspessimismus bis hin zur Ablehnung gegenüber den Eliten. Das Vertrauen in die etablierten Parteien, die wachsenden sozialen, politischen und ökologischen Probleme zu lösen, erodiert zusehends. Intuitiv erkennt die Bevölkerung, dass die politische Führung des Landes zu einer Verwaltungsinstanz des (euro-amerikanischen) neoliberalen Kapitalismus verkommen ist, ihre Gestaltungsmöglichkeiten und -willen den Sachzwänge der Globalisierung bereitwillig geopfert hat.
Der offene Bruch aller Versprechungen der Sozialdemokratie aus dem Wahlkampf 2006 zugunsten staatlicher Machtpositionen ist der Bevölkerung noch gegenwärtig. Zu unglaubwürdig wirkt auch der kürzliche sozialdemokratische Rettungsversuch, sich durch einen Brief an die Kronen-Zeitung als EU-kritisch zu positionieren, um damit dramatischen Wählerverlusten an die FPÖ gegenzusteuern. Der sich abzeichnende Zugewinn der FPÖ selbst ist Ausdruck der Abkehr von den Großparteien, war doch die FPÖ die einzige Partei die es verstand, sich glaubwürdig als Opposition in sozialen Belangen, der EU aber auch der internationalen Politik (Tschad, Afghanistan) zu positionieren, und so neben dem rassistischen Chauvinismus (besonders anti-islamische Ressentiments) auch über wichtige „linken“ Belange Terrain zu gewinnen.
Der Erfolg der deutschen Linkspartei, sich als Opposition zu platzieren (und damit den Vormarsch der NDP besonders unter den sozial Benachteiligten zu stoppen), unterstreicht die Hoffnung, auch in Österreich eine solche Alternative zu positionieren.
II. Eine notwendige gesellschaftliche Diagnose
Für die Möglichkeiten des geplanten Linksprojektes stehen Aufgabenstellungen auf zwei Ebenen bevor. Obwohl beide Ebenen in Verbindung stehen, erfordern sie wohl eine zeitliche und methodische Prioritätensetzung. Unmittelbar geht es um eine realistische Diagnose der gesellschaftlichen Missstimmung. Diese ist erforderlich, um in griffiger Art den oppositionellen Unmut in der Bevölkerung anzusprechen und ihn für das neue Projekt zu interessieren, sei es als Wahloption, sei es längerfristig auch in aktiv-organisierter Form.
Zum zweiten und längerfristig stehen bei einem solchen Versuch, der Gesellschaft eine Alternative zu den etablierten Rezepten der Eliten vorzuschlagen, auch immer die „Rezepte“ der Linken selbst zur Diskussion. Gelingt es eine Systemalternative in all jenen – großen und kleinen – Fragen der modernen Gesellschaft zu formulieren, die ausreichend Konsistenz, Glaubwürdigkeit und gleichzeitig Radikalität besitzt, um von den Enttäuschten und Ausgeschlossenen als Möglichkeit und Hoffnung aufgegriffen zu werden? Im Folgenden werden wir in Vorbereitung der Konferenz am 19. Juli versuchen, einige Überlegungen und Ideen vor allem im ersteren Bereich einzubringen.
Der Unmut der Bevölkerung gegenüber den politischen Entwicklungen äußert sich in weitgehend passivem gesellschaftlichem Pessimismus und Skepsis/Ablehnung gegenüber den Großparteien. Dies wird gespeist durch soziale Unsicherheit (Arbeitsplatz, Pensionen) und monatliche finanzielle Engpässe bei Kleinverdienern (Preissteigerungen, Mieten), das Gefühl „denen da oben“ (Kapital, EU, USA) schicksalhaft ausgeliefert zu sein, bis hin zu den sich häufenden medialen Vermittlungen von „Endzeitszenarien“ der kapitalistischen-imperialistischen Entwicklung (Kriege, ökologische Katastrophen, Ressourcenverknappung).
Während die Gesellschaft lange Halt gefunden hatte durch ihre klare und bewusste politisch-kulturelle Zuordnung zu einer sozialen Klasse, ihrer Partei und deren zumindest theoretisch unterscheidbarem Projekt (nachdem der Kapitalismus die „archaischeren“ Formen des Zusammenhaltes ländlichen Gemeinschaft, des Standes oder der Großfamilie untergraben hatte), herrscht in der heutigen Situation des Neoliberalismus das Empfinden des individuellen Ausgeliefertseins vor. Die Globalisierung hat tatsächlich die politischen Gestaltungsspielräume stark eingegrenzt, über die es den Einzelstaaten und gesellschaftlichen Kräften/Parteien möglich war in die Entwicklungen einzugreifen und hat den reformistischen Pragmatismus des sozialen Ausgleichs über den Staat an die Wand gedrängt. Zum anderen bedeutet die Globalisierung auch kulturellen „Amerikanisierung“, die unter den sozial Ausgeschlossenen die Entwicklung einer Klassenidentifikation untergräbt und bisher bei einem diffusen Unmut stehen bleibt, der auch der rechts-sozialpopulistischen Option zugänglich ist.
Die Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses durch das Kapital hat somit keine Rückkehr zu den früheren Formen des Klassenkampfes zur Folge, der eine klare soziale und kulturelle Trennlinie zwischen Arbeiterbewegung und bürgerlicher Elite kannte. Vielmehr ist seine Folge die Entwicklung der 2/3-Gesellschaft US-amerikanischen Zuschnittes. Der Protest des letzten Jahrzehnts hat vor diesem Hintergrund einerseits die Form (oft kurzfristiger) themenbezogener sozialer Bewegungen angenommen (Antikriegsproteste, EU-Volksabstimmungsbewegung, Umweltinitiativen, Milchbauern, politische, kulturelle und/oder religiöse Vereinigungen unter Migranten). Andererseits äußern sich der Unmut in globaler Form in oft unerwarteten Wählerfluktuationen zur Abstrafung der Systemparteien, deren Ausdruck die Wahlerfolge der populistischen Oppositions-FPÖ (die kaum in den neoliberalen Regierungskonsens reintegriert sofort zerfielen), aber auch der Liste Hans-Peter Martin bei den EU-Wahlen oder auf regionaler Ebene der KPÖ waren. (Als kurzfristige Gegentendenz muss aber auch die „Stabilitätswahl“ zugunsten „klarer Mehrheiten“ in Betracht gezogen werden, wie beim letzten Urnengang in Italien. Dies nutzt die Elite europaweit für eine Kampagne für das Mehrheitswahlrecht.)
Dies führt uns zu zwei Schlussfolgerungen:
1. Ein alternatives Projekt muss sich als radikale Opposition zur Globalisierung positionieren. Der berechtigte gesellschaftliche Ummut ruft nach einer globalen alternativen Option, die sich das demokratische Eingreifen gegen die globalen, europäischen und kapitalistischen Sachzwänge auf die Fahnen schreibt. Die Souveränität der Entscheidung der Bürger steht über dem Diktat des Marktes, bei aller Konsequenz die heute ein solcher demokratischer Ausbruch aus dem Eliten-Konsens hat. Selbstbestimmung (als demokratische Volkssouveränität, deren Teil auch die nationalen Souveränität gegen die Zwänge des transnationalen Kapitals wie WTO, EU, NATO, etc. ist) gegen Fremdbestimmung durch die Sachzwänge der Globalisierung.
2. Die klassischen sozialreformerischen Forderungen (Arbeitszeitverkürzung, Lohnausgleich, …) haben zwar heute wieder neue Relevanz angesichts der kapitalistischen Gegenreform. Doch ihr Träger, die Reste der gewerkschaftlichen und Arbeiterbewegung, ist nur mehr eine Teilkomponente einer potentiellen gesellschaftlichen Opposition, die es zu erreichen gilt. Prekäre und befristete Arbeitsverhältnisse, extreme Angst vor Arbeitsplatzverlust, Erpressung durch Standortkonkurrenz, kurz die Arbeitswirklichkeit des Neoliberalismus, finden ihren oppositionellen Ausdruck nicht mehr so sehr in einer Wiederaufnahme des Kampfes um jene Rechte, die der Sozialstaat früher garantierte, als in einem gesamtpolitischen Unmut gegen ein noch als unbesiegbar empfundenes System. Die neuen Unterschichten sind politisch und kulturell keine Kontinuität der traditionellen Arbeiterbewegung, sondern Teil der unteren zwei Drittel einer neoliberalen Gesellschaft, deren amerikanisierte Kultur sie von den Hoffnungen und Kämpfen ihrer Väter trennt. Heute noch hoffnungslos, produziert ihr Unmut verbreitete individualisiert-entfremdete Gewalt, Anfälligkeit für chauvinistischen Populismus, aber auch die Suche nach einer kompromisslosen Gesamtalternative, die als politischer und kultureller Gegensatz zum liberalen kapitalistischen Establishment empfunden wird.
Aus diesen Hypothesen zur Interpretation der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation in Österreich und dem Potential, das diese für den Ansatz einer antikapitalistischen Option produziert, ergeben sich einige Politikbereiche, in denen wir denken, es bestehen Möglichkeiten, ein neues politische Projekt gegenüber und in den sozial Benachteiligten und Ausgeschlossenen zu positionieren. Diese Vorschläge sind als Ergänzung und/oder Erweiterung jener schon von anderen Organisationen ausgearbeiteten Forderungen zu verstehen:
1. Keine Auslieferung an die europäischen Eliten – Volksabstimmung!
Die klare Opposition zur EU und ihren anti-sozialen, anti-demokratischen und militaristischen Projekten stellt angesichts der jüngsten breiten Bewegung für eine Volksabstimmung zum Verfassungsvertrag eine, wenn nicht die zentrale Chance eines oppositionellen Projektes dar. Die Volksabstimmungs-Bewegung hatte genügend soziale Breite und einen weiten Konsens in der Bevölkerung und ist in ihrer Ausrichtung objektiv gegen das herrschende kapitalistische Establishment in Österreich und Europa gerichtet. Die alternativen Optionen (Kritik, Austritt, eine neue Gemeinschaft souveräner Völker, Soziale EU) müssen/sollten dabei offen bleiben. Ein positiver Bezug zur demokratischen Souveränität der Entscheidung des österreichischen Volkes – die gegen die eigenen nationalen Eliten neu erkämpft werden muss – bedeutet in diesem Kontext die Konkretisierung des Widerspruchs zu den europäisch verpackten Markt- und Globalisierungszwängen.
2. Keine Beteiligung an den US-EU-NATO-Feldzügen – Neutralität und Völkerfreundschaft
Die Neutralität kann auf eine stabile Mehrheit der Österreicher zählen. Daher die Angst der Eliten sie offen in Frage zu stellen und daher ihre stille und systematische Untergrabung. Genauso breit haben die Österreicher den US-Aggressionskrieg gegen den Irak abgelehnt. Die Neutralität und die Gegnerschaft gegen die US-amerikanische Hegemonialpolitik – zuletzt mit der Raketenstationierung in Tschechien und Polen – ermöglichen einem oppositionellen Projekt, eine antiimperialistische Positionierung in der Bevölkerung zu entwickeln. Gegen die imperiale unipolare Weltordnung unter vereinigtem US/EU-Kommando. Keine Beteiligung an den neokolonialen Kriegen, sofortiger Rückzug aus dem Tschad und Kosovo, Respektierung der Souveränität und des Rechtes der angegriffenen Völker auf Widerstand entsprechend der UN-Charta. Die Förderung des Verständnisses und einer auf dem Bewusstsein des Wertes der Souveränität begründeten Grundsympathie für den Widerstand der von den USA angegriffenen Menschen ist nicht zuletzt auch ein Mittel, um den verbreiteten Chauvinismus zu bekämpfen ist, ein kleiner aber wichtiger Ansatz zur Vermittlung des Wertes der Völkerfreundschaft.
3. Demokratie ist Volkssouveränität
Die etablierten politischen Parteien sind zu Verwaltern des freien Marktes und der von den vereinigten europäischen und US-amerikanischen Eliten vorgegebenen Politik geworden. In der Demokratie ist jedoch der Souverän das Volk und nicht der Markt. Der Staat muss wieder ein Instrument im Interesse der Gemeinschaft werden. Die institutionelle Ordnung soll eine größtmögliche Mit- und Selbstbestimmung des Volkes ermöglichen. Um die verfassungsmäßige Souveränität des Volkes zu realisieren, muss die politische Entscheidungsfindung demokratisiert werden indem u.a. a.) eine demokratische parlamentarische Repräsentanz aller politischen Kräfte des Landes garantiert und gefördert wird (indem die finanzielle und mediale Privilegierung der Großparteien beendet und das immer stärker geforderte Mehrheitswahlrecht bekämpft wird), b.) Kompetenzen und Entscheidungsprozesse dezentralisiert werden und c.) den demokratischen Instanzen und Initiativen an der Basis die finanziellen und medialen Mittel gegeben werden, ihre Souveränität auszuüben.
4. Demokratische Rechte/Meinungsfreiheit
Die demokratischen Rechte auf Meinungs- und Organisationsfreiheit sind durch die ausufernde Kontroll- und Sicherheitspolitik gefährdet. Diese wird durch den „Krieg gegen den Terrorismus“ der Bevölkerung verkauft, um so Konsens für einen Überwachungsstaat zu schaffen. In Verbindung mit dem verallgemeinerten Chauvinismus werden derzeit besonders die Gemeinschaften aus moslemisch/arabischen Staaten diskriminiert und ihrer demokratischen Rechte beraubt. Der Kampf um die Verteidigung demokratisch-liberaler Grundrechte ist damit ein schwieriger, da ein gewichtiger Teil der Unterschicht von den Medien und Populisten für die Beschneidung der Demokratie hörig gemacht wurden und die liberale Mittelschicht sich in einem kolonialen Wertekonsens mit den Herrschenden gegen die „mittelalterlich-antiwestlichen“ Kulturen befindet. Über die Propagierung einer Politik der kulturellen Verständigung, einer Außenpolitik der Souveränität, Nichteinmischung und Völkerfreundschaft sowie einer Sensibilisierung für die Gefahr der Entdemokratisierung muss das Terrain der demokratischen Grundrechte verteidigt werden.
5. Die Wirtschaft hat der Gemeinschaft zu dienen
Aufgrund der jahrelangen neoliberalen Durchdringung ist das Klassenbewusstsein selbst unter jenen, die zunehmend sozial benachteiligt sind dem Irrglauben gewichen, dass man der Wirtschaft keine zu hohen „sozialen Bürden“ auflasten dürfe, da diese sonst nicht konkurrenzfähig sei und den Standort wechsle. Neben der ideologischen Komponente, die Betroffenen vom Widerstand abzuhalten, hat dieses Argument (leider) jedoch einen Kern an Wahrheit. Daher sind oft jene klassischen und berechtigten sozialen Forderungen der Lohnsteigerung und Arbeitszeitverkürzung in der Öffentlichkeit wenig griffig. Dennoch bleibt in der Bevölkerung ein Bewusstsein des Gemeinwohls und der sozialen Verantwortung der Wirtschaft, das genutzt werden kann. So ist keinem einsichtig, wie der Staat Unternehmen subventioniert, um Arbeitsplätze zu sichern, die Unternehmen jedoch nach wenigen Jahren entgegen aller Vereinbarungen ihre Produktion verlagern. Oder wie die exorbitanten Managergehälter steigen, während Arbeiter entlassen und zu weiteren Opfern aufgefordert werden. Die allgemeine Forderung, die Wirtschaft habe der Gemeinschaft zu dienen, kann in diese Richtungen konkretisiert werden, ebenso wie über die Forderung der stärkeren öffentlichen Kontrolle gegen die Erpressung der Belegschaften und/oder des Staates durch die Unternehmerschaft. Die Logik des Gemeinwohls impliziert auch einen radikalen Angriff gegen das Spekulationsgeschäft, das gerade mit dem BAWAG-Skandal in der österreichischen Politik aktuell ist.
Wie viele andere auch, sehen wir aus einer realistischen Perspektive vielerlei Schwierigkeiten für den Aufbau eines starken alternativen Projektes: Mediendiktatur, Amerikanisierung und Individualismus auch in den Unterschichten, der mit Chauvinismus gepaarte Sicherheits- und Antiterrorkonsens, die Schwäche einer fortschrittlichen Intelligenz in der Gesellschaft und das Fehlen einer populären Figur wie Lafontaine als Katalysator schränken die Möglichkeiten ein.
Nichtsdestotrotz steht dem die unumstrittene Notwendigkeit des „Versuches des Unmöglichen“ (Che Guevara) gegenüber, um nicht vor den Schwierigkeiten der Situation präventiv zu resignieren. Dies erfordert sowohl die größtmögliche Breite gegenüber allen oppositionellen Kräften (etwa aus den Anti-EU-Initiativen), die Fähigkeit der Kommunikation mit der Bevölkerung über die kulturellen Grenzen der Linken hinaus, eine klare Erfassung der Anknüpfungspunkte an den existierenden gesellschaftlichen Unmut und seiner potentiellen Widersprüche mit den Herrschenden sowie, auf lange Frist, ein kollektives Erarbeiten eines radikalen gesellschaftlichen Alternativprojekts, das der sozialistischen Hoffnung wieder Konsistenz und Halt gibt.
Antiimperialistische Koordination (AIK)
Wien, 13. Juli 2008
Am Samstag, den 19. Juli ab 12 Uhr findet im Amerlinghaus (Stiftgasse 8, 1070 Wien) eine Konferenz für die inhaltliche und organisatorische Konkretisierung des österreichischen Linksprojektes sowie eine Diskussion zur Möglichkeit der Wahlteilnahme statt. Die Antiimperialistische Koordination ruft alle oppositionellen Kräfte auf, sich an dieser Konferenz zu beteiligen.