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Jubelt der Libanon einem Kindermörder zu?

22. Juli 2008

Der Gefangenenaustausch als weiterer politischer Sieg der Hizbullah

Am 16. Juli fand der längst erwartete Gefangenentausch zwischen Hizbullah und dem Staat Israel statt. Gegen die Leichen der zwei israelischen Soldaten, die im Jahre 2006 beim Versuch der Hizbullah, israelische Soldaten zu entführen, getötet und mitgeschleppt wurden, sind neben fünf gefangenen Libanesen 199 Leichnahme von Widerstandskämpfern freigegeben worden, die bei verschiedenen Aktionen der palästinensischen Guerilla gefallen und in Israel im „Friedhof der Nummern“ namenlos begraben wurden. Die „Rückkehr der Märtyrer“ bedeutet die Rückkehr ihrer Geschichten, und beleuchtet vergessene Zeiten der spektakulärsten Aktionen des palästinensischen Widerstands in den Siebzigern und den frühen Achtzigern. Vergessene Heldenfiguren der palästinensischen Bewegung werden wieder aktuell, und ihre Geschichten und Bilder werden den jüngeren Generationen bekannt. Das erklärt vor allem die euphorische Stimmung in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon, aus denen heraus die meisten dieser Aktionen gestartet wurden.

Bei den lebendigen Befreiten handelt es sich um vier Hizbullah-Kämpfer, die im Krieg von 2006 gefangengenommen wurden, und (was der Kern dieser Austauschverhandlungen und Ziel der Hizbullah-Aktion war) um Samir Kuntar, der 30 Jahre (darunter dreieinhalb in Einzelhaft) in israelischen Gefängnissen weilte.

Die Befreiung von Kuntar durch die Aktion von Hizbullah unterstreicht erneut die Rolle der Organisation als historische Erbin der gesamten Widerstandsbewegung im Libanon, sowie als eine nationale Befreiungsbewegung, die über die konfessionellen Grenzen hinaus geht, die vom politischen System im Lande gezogen werden: Kuntar selbst war und ist kein Mitglied der Hizbullah. Er ist nicht Schiit, stammt sondern aus einer drusischen Familie. Gefangengenommen wurde er bei einer Aktion der palästinensischen Guerilla 1979.

Während im Libanon die längst ersehnte Befreiung von Kuntar (und der Rückkehr der Märtyrer) als ein weiterer Sieg des Widerstands gefeiert werden, herrscht in Israel ein Gefühl der Niederlage. Lauter wird die Frage, warum man 2006 den Krieg überhaupt begonnen hat, wenn man schlussendlich zu Verhandlungen und zum Austausch von Gefangenen gezwungen wird. Die Freilassung von Samir Kuntar (verurteilt zu 5 Mal lebenslänglich plus 47 Jahre, in Summe 542 Jahre), der 30 Jahre lang durch die israelischen Medien als „Kindermörder“ defamiert wurde, wird als eine Niederlage betrachtet, besonders weil das Regime jahrelang versprach, er werde das Licht nie wieder sehen.

Dies erklärt die verschleierten Morddrohungen des Mossad-Chefs an Samir Kuntar, und die weltweite israelische Kampagne, ein verbrecherisches Bild von Kuntar zu schaffen.

Um die Hintergründe dieser langjährigen Kampagne und der bisherigen Weigerung, Qutar trotz der Verbüßung von mehr als 25 Jahren Haft freizulassen, zu verstehen, muss man die Geschichte von Kuntars Aktion bei Naharia 1979 erläutern.

Wer ist Samir Kuntar?

Am 23. April 1979 gelang es dem 16 jährigen Libanesen Samir Kuntar, gemeinsam mit drei anderen Genossen der „Palästinensischen Befreiungsfront“ (PLF) [1] in einem Ruderboot die 10 km zwischen dem Südlibanon und der israelischen Stadt Naharia zu überwinden. Die Aktion „Nasser“ wurde im Kontext des Camp David-Abkommens zwischen Ägypten und Israel durchgeführt, um den Willen zum Widerstand und das Festhalten an der Linie des verstorbenen ägyptischen Präsidenten Nasser zum Ausdruck zu bringen. Ziel der Aktion war es, Israelis als Geiseln in den Libanon zu entführen, um diese gegen palästinensische Gefangene auszutauschen. Konkretes Ziel war der israelische Atomwissenschaftler Danny Haran, der in Naharia geortet wurde. Es gelang der Gruppe, Haran und seine Familie bis zum Boot am Strand zu bringen. Im Gefecht mit den israelischen Truppen starben Haran und seine Tochter, sowie zwei der palästinensischen Kämpfer. Unter den Verletzten war auch der Kommandant der israelischen Küstenwache Yosef Tsahur (das wurde erst 10 Jahre später bekannt).

Die genauen Details des Aktionsverlaufes wurden nie bekannt gegeben. Ein wesentlicher Teil des Prozesses (darunter die Aussagen Kuntars und die Beweislage) wurde jahrelang geheim gehalten. Die Verluste des israelischen Militärs wurden nicht bekannt gegeben und man beharrte auf der Version, Kuntar habe Danny Haran und das vierjährige Mädchen kaltblütig ermordet. Kuntar wurde auch für den Tod der zweiten Tochter Harans verantwortlich gemacht, obwohl diese durch die Hand der Mutter erstickt wurde, die sie im Versteck zum Schweigen bringen wollte [2].

Kuntar selber dementiert nach wie vor, die beiden getötet zu haben. Der damals noch Minderjährige wurde zu einer Summe von 542 Jahren verurteilt. Sein Mitstreiter Ahmad Abras wurde 1985 im Gefangenenaustausch zwischen der PFLP-GC und Israel befreit. Im Jahr 1984 entführte im Mittelmeer ein Kommando des PLF das italienische Schiff Achile Lauro mit der Forderung, Kuntar freizulassen. Der Versuch scheiterte an der Weigerung der arabischen Staaten, das Schiff in ihr Nationalgewässer hineinzulassen.
Trotz der ständigen israelischen Weigerung, Kuntar freizulassen, hat die Hizbullah immer betont, dass sie den Versuch nie aufgeben wird, ihn und alle libanesischen Gefangene zu befreien.

Im Gefängnis absolvierte Kuntar 1998 an der „Offenen Universität Tel Aviv“ ein Soziologie-Studium. Als ältester arabischer Gefangener war Kuntar eine politische Führungsfigur in den Gefängnissen.

von Mohammad Aburous

[1] PLF: Die PLF (Palestinian Liberation Front) wurde ursprünglich von Ahmad Dschibril im Jahre 1959 gegründet. Im Jahr 1967 verband sich die PLF mit anderen Gruppen der „Arabisch-nationalistischen Bewegung“ und bildete so die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) unter der Führung von George Habasch.
Im April 1968 spaltete sich Ahmad Dschibril wieder von dieser Gruppe ab, um die Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC) zu gründen, die zu der stark pro-syrischen Position der früheren PLF zurückkehrte.
Letztendlich führte dies zu der Wiederentstehung der PLF, als sich im Konflikt Syrien/PLO eine pro-Arafat-Fraktion von der PFLP-GC trennte, um eine eigenständige Organisation unter dem Namen PLF zu gründen.
Am 24. April 1977 wurde die neue PLF unter der Leitung von Muhammad Zaidan alias „Abu Abbas“ und Tal’at Ya’akub gebildet.
Nach der israelischen Invasion des Libanons und der Abzug der PLO-Truppen zerfiel die PLF in drei Fraktionen, von denen jede den Originalnamen behielt und behauptete, die Mutterorganisation zu sein
Die Fraktion Tal’at Ya’koubs versuchte die Kräfte der PLF im Libanon eigenständig und ohne politische Abhängigkeiten wiederherzustellen. Ya’akub starb im November 1988 an einem Herzinfarkt, und seine Gruppe zerfiel.
Eine kleinere Gruppe unter dem Mitglied des PLF-Zentralkomitees Abd al-Fatah Ghanim war aggressiver pro-syrisch und übernahm die Kontrolle der Bewegung in Damaskus. Die Gruppe konzentrierte ihre Verwaltung später in Libyen und verschmolz letztlich mit der Ya’akub-Fraktion.
Die pro-irakische Fraktion unter Abu Abbas, der stellvertretender Generalsekretär gewesen war, genoss die politische und materielle Unterstützung Arafats und der PLO und hatte somit die größte Gefolgschaft. Die Gruppe hatte ihr Hauptquartier in Tunesien, aber nach der Entführung des Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro im Jahre 1985 wurde Abu Abbas von den tunesischen Behörden ausgewiesen und die Gruppe verlegte ihren Sitz nach Bagdad.
Nach der US-amerikanischen Invasion des Iraks wurde Abu-Abbas im April 2003 durch US-amerikanische Truppen gefangengenommen. Er starb in der amerikanischen Gefangenschaft am 9. März

[2]: Interview von Smadar Haran-Kaiser mit der Washington Post (18-05-03)

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