Rede von Peter Melvyn anlässlich des 60. Jahrestages der Nakba, der palästinensischen Katastrophe, aus Intifada Nr. 26
Sie werden sich vielleicht fragen, warum eine jüdische Gruppe der „Nakba“, der Vertreibung der Palästinenser im Jahre 1948 gedenkt, während alle offiziellen jüdischen Gemeinden und Organisationen in allen Ländern den 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel feiern. Allen voran natürlich Israel, das das Westjordanland abriegelt, um bei seinen Feiern nicht gestört zu werden. Die Antwort ist einfach: Wir finden, dass es nichts zu feiern gibt! Wir wollen und können nicht einen Staat feiern, der auf der Grundlage von Terrorismus, Massakern und ethnischer Säuberung geschaffen wurde, einen Staat, der ständig gegen internationales Recht verstößt, der monströse Kollektivstrafen über die Bevölkerung von Gaza verhängt und seit 60 Jahren dem palästinensischen Volk die elementarsten Menschenrechte und nationalen Ansprüche verweigert. Dies zu feiern ginge gegen unser Gewissen.
Wir betrachten die Nakba und ihre Folgen als eine tiefe Ungerechtigkeit, als eine koloniale Eroberung des angestammten Landes der Palästinenser, dessen Wirtschaft und Kultur willentlich zerstört wurde und seit 1967 weiterhin zerstört wird. Viele der Vertriebenen und ihre Nachkommen fristen ihr Leben in 58 Flüchtlingslagern im Nahen Osten. 60 Jahre später und nach mehreren Generationen sind sie heute sieben Millionen.
Die Nakba hinterließ eine tiefe Spur von Tränen, Blut und Gewalt. Die Nakba war nicht nur eine Katastrophe, wie ihr Name sagt, für das palästinensische Volk, sondern auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen von der damaligen zionistischen Führung der jüdischen Minderheit Palästinas – damals ein Drittel der Gesamtbevölkerung – und ihren militärischen Einheiten, der Haganah, sowie der irregulären faschistischen Milizen.
Wie konnte es dazu kommen? Die Propaganda des offiziellen Israel stellte jahrzehntelang die Nakba als eine unbeabsichtigte Folge der Kriegswirren von 1948 dar. Das ist eine Lüge! Die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung war seit Jahrzehnten geplant und vorbereitet, um Platz zu schaffen für eine erhoffte jüdische Masseneinwanderung aus aller Welt, und nach 1945 für die Überlebenden des Holocaust, mit dem die Palästinenser nicht das Geringste zu tun hatten! Es wird ferner seitens Israels behauptet, die Palästinenser hätten aufgrund von Aufrufen ihrer Führer und der arabischen Staaten, die Israel den Krieg erklärten, ihre Heimat verlassen, um nach einem arabischen Sieg zurückzukehren. Es gibt aber keinerlei Beweise für solche Aufrufe. Außerdem hätten ja die arabischen Truppen, die in Teile Palästinas eindrangen, die einheimische Bevölkerung als Unterstützung für Lebensmittel, Wasser und Treibstoff gebraucht!
Palästinensische Historiker wie Walid Khalidi und Nur Masalha sowie eine neue Generation israelischer Historiker wie Benny Morris, Ilan Pappà© u.a. in den 80er Jahren konnten aufgrund der seit 1978 zugänglichen Archive und Protokolle der israelischen Regierung, der Armee und der zionistischen Organisationen, die Argumente, die ich vorher nannte, entkräften. Die palästinensische Bevölkerung hat ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Sie wurde zu einem großen Teil gezwungen – durch Einschüchterungen, Drohungen, Terror, Massaker – Hals über Kopf zu fliehen, unter Zurücklassung ihres gesamten Hab und Guts, ihrer Felder, ihrer Plantagen, ihres Viehs, ihrer Häuser und Werkstätten, ihrer Bankguthaben. All dies – eine riesige Masse von palästinensischem Privateigentum – fiel dem entstehenden Israel in die Hände, ohne jegliche Entschädigung. Auf diese Weise wurden nach UNO-Berichten 750 000 Palästinenser vertrieben – aus 531 Dörfern und elf Städten. 300 000 Hektar Land – die Palästinenser besaßen 93% der Gesamtfläche Palästinas – fielen ebenfalls Israel zu.
Die Planung und Vorbereitung der Vertreibung zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Zionismus, bereits vor 1914 und dann während der 30 Jahre des britischen Mandats 1918-1948. Den Anfang machte Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, der schon Ende des 19. Jahrhunderts von der „Aussiedlung“ der Palästinenser sprach wie später Chaim Weizmann, David Ben Gurion und andere, oft unter dem Deckmantel eleganterer Ausdrücke wie „Transfer“ oder „Bevölkerungstausch“. „Die Araber“ (man gebrauchte noch nicht den Begriff „Palästinenser“) „verschwinden zu lassen“ war, wie ein israelischer Historiker schrieb, „nicht nur ein zentraler Bestandteil des zionistischen Traums, sondern auch eine unabdingbare Voraussetzung für seine Verwirklichung“.
Mit dem Abzug Großbritanniens 1948 bot sich der zionistischen Führung die lang erhoffte Gelegenheit zur Vertreibung. Bereits Ende 1947 begann ihre Armee (die Haganah) eine etappenweise Offensive gegen die zivile palästinensische Bevölkerung. So z.B. wurden die Einwohner der Städte Ramle und Lydda – 70 000 Menschen – innerhalb weniger Stunden auf Befehl David Ben Gurions von den Einheiten Yitzchak Rabins verjagt und Mitte Juli, zu Fuß, ohne Wasser und Nahrung in Richtung jordanische Grenze getrieben. Viele starben vor Erschöpfung. 50 000 Menschen wurden aus Jaffa nach Artilleriebeschuss, vertrieben. Ähnliches geschah in zahlreichen Dörfern, obwohl kein Widerstand geleistet wurde. Dieses Schicksal erlitt das Dorf Deir Yassin, in dem 254 Männer, Frauen und Kinder von den Milizen des späteren Premierministers Begin ermordet wurden. Der Zweck dieses Massakers war eine Welle des Terrors auszulösen, um die Flucht der Palästinenser zu beschleunigen. Die gleiche Methode wurde auch in anderen Dörfern angewandt.
Wie ich bereits sagte, war die Vertreibung genau geplant. Am 10. März 1948 trafen sich 11 Männer, hohe zionistische Führer und junge Armeeoffiziere, im Tel-Aviver Hauptquartier der Haganah. Dort beschlossen sie die sofortige Durchführung des so genannten Plan D, den Plan der systematischen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Noch am selben Abend bekamen militärische Einheiten überall im Lande genaue Anweisungen, wie die Vertreibungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten auszuführen seien. Jede Einheit erhielt eine Liste der Dörfer, die es zu erobern, zu besetzen oder zu zerstören und deren Einwohner zu vertreiben galt. Die Angriffe erfolgten meist nachts und zwar von drei Seiten. Ein Weg wurde offen gehalten in Richtung der Grenze des nächsten arabischen Staates. Diese Aktion wurde Pläne über jedes einzelne Dorf in der Hand der Haganah erleichtert, denn seit 1939 gab es genaue Angaben über alle palästinensischen Dörfer und Städte, die ständig erneuert wurden. Sie enthielten demografische Daten, Informationen über Zugangswege, Bodenqualität, Landwirtschaft, Handwerk, die Namen der Notabeln etc. sowie eine Einschätzung, ob und wie feindselig das Dorf umliegenden jüdischen Siedlungen eingestellt war, über die Teilnahme an der Revolte gegen die Briten und jüdische Einrichtungen in den Jahren 1936-1939. Innerhalb von sechs Monaten war die Vertreibung abgeschlossen.
Dies ist, sehr kurz gefasst, die Geschichte der Nakba. Aus Zeitmangel konnte ich nicht auf Details eingehen, auf Details des Schreckens und der Verbrechen seitens der zionistischen militärischen Verbände, wie Vergewaltigungen, willkürliche Hinrichtungen, Plünderungen in den Städten und Dörfern. Wie berichtet, war selbst Ben Gurion darüber entsetzt – nicht über die Vertreibung selbst, sondern was sie begleitete – ebenso wie Politiker und junge Soldaten aus den damals noch existierenden linkssozialistischen Parteien und Siedlungen.
Die Nakba ist nicht ein lang zurückliegendes historisches Ereignis. Sie ist eine andauernde Realität, die nach der neuerlichen Vertreibung von 375 000 Palästinensern im Juni 1967 an jedem Tag zugegen ist. Doch im Gegensatz zu 1948 können die Palästinenser des Westjordanlands und Gazas heute in keines der arabischen Nachbarländer fliehen. Die Nakba geht weiter, mit dem Bau der Mauer, die Israel quer durch enteignetes palästinensisches Land baut, sie ist zugegen in jedem Flüchtlingslager im Libanon, in jedem Gefängnis Israels, an jeder Straßensperre, in jedem palästinensischen Haus, das von der israelischen Armee abgerissen und auf jedem Stück Land, das zugunsten der jüdischen Siedler enteignet wird. Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann schrieb einmal: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Leider trifft dies auf das palästinensische Volk nicht zu, dessen Würde damals wie heute von Israel mit den Füssen getreten wird.
Peter Melvyn ist Mitglied der „Jüdischen Stimmen für einen gerechten Frieden im Nahen Osten“