Site-Logo
Site Navigation

Die Linke in Zeiten der Nicht-Aktualität der Revolution

10. September 2008

Mit Blick auf die Erfolge der deutschen Linkspartei hat sich in
Österreich ein Linksbündnis gebildet, das sich bei den vorgezogenen
Nationalratswahlen am 28. September kandidieren wird. Öffnet sich auch
in Österreich ein Fenster für eine gesellschaftlich relevante
Opposition angesichts der prognostizierten Krise der Großparteien?, aus Intifada Nr. 26


Die Zeit der Kleinparteien

Lauf Umfrageergebnissen des Meinungsforschungsinstitutes OGM stehen sowohl SPÖ als auch ÖVP bei den vorgezogenen Neuwahlen deutliche Verluste bevor. Für die ÖVP hätten Anfang August 31 % der Wähler gestimmt, die SPÖ erhielte nur mehr 26 %. 2006 waren es 33,3 % für Schwarz und 34,3 % für Rot. Damit ist mit einem etwa 10 % Stimmenverlust für die beiden Großparteien zu rechnen. Verschiedene Analysten rechnen damit, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der großkoalitionären Performance unter Gusenbauer-Molterer diesmal den Kleinparteien zugute kommen wird. Neben den Parlamentsparteien werden unter anderem der ehemalige Präsident der Arbeiterkammer Tirol Fritz Dinkhauser, das Liberale Forum, die KPÖ, die EU-kritische Unabhängige Bürgerbewegung „Rettet Österreich“ und das Bündnis Linke antreten.

Im Gegensatz zu den Wahlen in Italien, wo das Scheitern der Mehrparteienkoalition Prodis zu einem deutlichem Votum für „klare Mehrheiten“ zugunsten der dominanten Gruppen der Mitte-Rechten (Berlusconis „Volk der Freiheit“) und der Mitte-Linken (Veltronis „Demokratische Partei“) führte und die „Regenbogenlinke“ um Rifondazione Comunista aus dem Parlament verbannte, wird in Österreich die Unzufriedenheit der Bevölkerung das politische Spektrum in den nächsten Wahlen erweitern. Auf den ersten Blick scheint dieses Szenario für die Neupositionierung einer Opposition, die die Isolation der Linken überwindet, also günstig und spricht für die Richtigkeit des Versuchs, sich im wahlpolitischen Spektrum zu positionieren.

Pessimismus

Zweifellos lassen sich – jenseits der neoliberalen Kritik des „Reformstaus“ an der Gusenbauer-Regierung – einige konjunkturelle und strukturelle Schwierigkeiten des kapitalistischen Projekts ausmachen.

Schon Gusenbauers Regierungsantritt war ein Schlag gegen die Glaubwürdigkeit des politischen Establishments. Zu rasch und von einem machttrunkenen Drang zur Regierungsbildung um jeden Preis getrieben, verkaufte die SPÖ alle Wahlversprechungen. Der Bevölkerung wurde in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass die demokratische Stimmabgabe in keiner Weise mehr ein Mittel zur Gestaltung des Landes darstellt, sondern nur zur Legitimation einer abgehobenen Elite, deren Souverän schon lange nicht mehr der Wähler ist, sondern die kapitalistischen Sachzwänge und die Absicherung der eigenen Position im erlauchten Kreis der neoliberalen Familie. Eine Art Camorra aus Politik und Wirtschaft.

Mit der Durchpeitschung des EU-Reformvertrages und dem neutralitätswidrigen Tschad-Einsatz des Bundesheers zog sich die sozialdemokratische Spitze bei zwei sensiblen Themen erneut den Unmut der Bevölkerung zu. Das irische Nein-Votum zum Lissabon-Vertrag gab der breiten sozialen Bewegung für eine Volksabstimmung in Österreich zusätzliche politische Relevanz. Um die Erosion der eigenen Wählerbasis zur FPÖ, der einzigen EU-kritischen Parlamentspartei, zu stoppen, versuchten Gusenbauer-Faymann über ihren offenen Brief in der Kronenzeitung im Juni die Notbremse zu ziehen. Das Manöver dürfte jedoch nicht aufgegangen sein. Zu unglaubwürdig und offensichtlich durch Stimmenfang motiviert war der Versuch, der Profilierung Straches als EU-Opposition etwas entgegenzuhalten.

Der Anstieg der Lebenshaltungskosten durch den hohen Ölpreis begleitet von überproportionalen Preissteigerungen durch den Handel verschärfte den Druck auf die unteren Einkommensschichten, die ohnedies schon über Jahre zu den Verlierern der Entwicklung zählen und selbst in den Zeiten der guten Konjunktur keine Aussicht auf Besserung mehr haben. Die negativen Wachstumsprognosen verallgemeinerten den sozialen und wirtschaftlichen Pessimismus, sodass 74 % der Österreicher 2009 mit einer weiteren Verschlechterung ihrer persönlichen Situation rechnen.

… oder Krise?

Der unübersehbare Unmut über das politische Establishment, der mehrheitliche Zukunftspessimismus und der soziale Abstieg von Teilen der Bevölkerung stellen das Szenario dar, in dem sich das im Juli neu formierte Linksbündnis Chancen ausrechnet, eine soziale Alternative zu positionieren. Die Hoffnung gründet sich auf ein Paradigma aus den Elementen „wirtschaftliche Krise“, „sozialer Protest der Arbeitenden“ und dem daraus resultierenden Platz für eine linke und sozialistische Kraft. „Die beginnende Krise der Weltwirtschaft zeigt sich bereits in den Ankündigungen von Personalabbau. (…). Wir wollen nicht für ihre Krise zahlen und müssen daher unsere Lebensgrundlage aktiv verteidigen.“ (Wiener Programmentwurf der Linken).

Die Frage, die sich unabhängig von der Notwendigkeit des Linksprojektes und des zweifellos richtigen Versuches seiner Positionierung als Alternative zu den Systemparteien bei Wahlen stellt, ist nun, ob dieses Paradigma stimmt, um so die Erwartungen, aber auch die politischen und organisatorischen Ausrichtungen eines neuen Projektes richtig zu kalibrieren.

Es lassen sich ohne Zweifel statistische Daten sammeln, die zeigen, dass der österreichische Kapitalismus heute ungerechter geworden ist. So fiel der Lohnanteil am Bruttoinlandsprodukt von einem Höchststand bei etwa 73 % Ende der 70er Jahre auf 60 % 2005, wobei der Fall zwischen 1995 und 2005 in Österreich sogar signifikant höher war als im OECD-Durchschnitt. Dies zeigt die Aufkündigung des sozialen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit, der den europäischen Nachkriegskapitalismus besonders ab den späten 60er Jahren prägte. Nicht mehr eine nach Ausgleich und Umverteilung strebende soziale Marktwirtschaft ist gesellschaftliche Zielstellung, sondern das Bestehen im globalisierten Standortwettbewerb bei ständiger Drohung des Arbeitsplatzverlustes, Rückschraubung staatlicher Sozialleistungen und Sicherheiten und dem daraus resultierenden enormen Druck auf den/die einzelne/n Arbeitnehmer/in.

Bedeutet jedoch diese Amerikanisierung des europäischen Kapitalismus mit Tendenz zur Zweidrittelgesellschaft eine Rückkehr der Klassenkonfrontation, wie sie Westeuropa zumindest bis in die 50er gekennzeichnet hat? Ist es eine Krise, die die kapitalistische Normalität und Stabilität in absehbarer Zukunft durchbrechen wird (wie etwa während der argentinischen Krise von 1998-2002, in der das wirtschaftliche Scheitern in eine tiefe politische Hegemoniekrise mündete)? Nein. Und zwar in erster Linie deshalb, da das Überrollen Europas durch Neoliberalismus und Globalisierung einher geht mit einer „amerikanistischen“ Umwälzung der politisch-kulturellen Verhältnisse und der Art und Weise, wie sich das kapitalistische Establishment seine Hegemonie über die Gesellschaft absichert. Wäre Österreich von einer kleinen Elite an Superreichen beherrscht, denen eine Masse an Ausgeschlossenen gegenübersteht, beide Seiten in klarer sozialer, kultureller, politischer und sogar territorialer Trennung – wie es die Arbeiterviertel der Zwischenkriegszeit, die Slums der Dritten Welt oder die Banlieues Frankreichs sind – so wäre die Aufgabenstellung für eine soziale Opposition eine leichtere. Es ginge ausschließlich darum, den objektiven sozialen Gegensatz, vielleicht sogar seine bereits sichtbaren spontanen Ausbrüche auf der Straße und in den Betrieben, zu organisieren. Doch die Wirklichkeit für ein linksoppositionelles Projekt ist leider schwieriger.

Klassengegensatz ohne kämpfendes Subjekt

Der soziale Absturz bringt sozialen Zerfall statt Solidarität, individualistische und perspektivlose Brutalisierung statt gemeinschaftliches Bewusstsein. Auf der anderen Seite ist die Herrschaft des Kapitals mehr als repressive Absicherung eines oligarchischen Regimes. Zwar ist das politisch-ökonomische Establishment – wie in den USA – mittlerweile eine „andere Welt“, völlig abgetrennt von der einfachen Bevölkerung und trotz demokratischer Wahlen entkoppelt von den Bedürfnissen und Forderungen des Volkssouveräns. Die Führungsspitzen des neoliberalen Projekts, einer Kombination von Marktradikalismus und „westlicher Werteordnung“, sind eine Oligarchie im wahrsten Sinne, die sich ihre Vorherrschaft auch gegen Verfassungs-, Bürger- und Menschenrechte mit ausufernden Überwachungs- und polizeilichen Befugnisse abzusichern bereit sind. Dennoch ist ihre Herrschaftsausübung keine oligarchische, sondern trotz allem eine „demokratisch-hegemoniale“. Der Konsens der Alternativlosigkeit, die Angst vor noch weiterem Abstieg, der individualistisch-konsumistische Hoffnungsanker für die Mittelschicht und die kulturellen Ersatzdrogen aus sinnentleerten Events, Spaß oder Esoterik: Sie vermitteln die Dominanz eines bewusst neoliberalen und unbewusst neoliberalisierten Mehrklassen-Blocks.

Diese weit verzweigte Herrschaft zu durchbrechen ist für eine neue systemoppositionelle Bewegung eine wesentlich schwierigere Aufgabenstellung, als es die bloße Organisierung und Weiterentwicklung eines permanenten Widerspruches zwischen der profitierenden Oberschicht und den unterdrückten Unterklassen wäre. Es geht um mehr als die „organische“ Politisierung eines „zugerechneten“ sozialen Bewusstseins der Lohnabhängigen, das sie in objektiven Gegensatz zum Kapital stellt. Leider ist der gordische Knoten kapitalistischer Herrschaft nicht so leicht zu durchtrennen. Es geht um die schwierige Aufgabe der Entwicklung einer Opposition aus einer sozial, politisch und kulturell amerikanisierten Gesellschaft, mit Menschen, deren Bewusstsein unweigerlich von den herrschenden Denkschemata geprägt ist. Unter den Verlierern der neoliberalen Gesellschaft können gleichzeitig immer wieder Momente des Ausbruchs aus dem hegemonialen Block auftreten. „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“. So könnte man mit Che Guevara dieses Paradox benennen, die notwendige Überwindung des menschenfeindlichen Kapitalismus mit einem Subjekt zustande zu bringen, dessen Bewusstsein in ungeahntem Maße von den verkommenen, brutalisierenden und egoistischen Vorstellungen der amerikanisierten Gesellschaft deformiert ist.

Soziale und politische Frage

Ist nun die „soziale Frage“ jener Bereich, in dem sich die meiste Sprengkraft verbirgt? Es läge nahe anzunehmen, dass die von jedem spürbaren sozialen Verschlechterungen jener Katalysator sind, der die Massen bewegt. Oder aber ist in der „sozialen Frage“, die immer die ökonomische und Eigentumsfrage impliziert, der herrschende Konsens stark genug, um über das Empfinden der Alternativlosigkeit unter den Betroffenen jede oppositionelle Regung zu ersticken? Ist damit die Idee der „sozialen Frage“ als Zentrum oppositioneller Arbeit mehr ideologische Annahme – im Sinne von Marx‘ falscher Sicht auf die Realität – als konkrete Wirklichkeit gesellschaftlichen Dissens?

Die traditionell-marxistische Annahme der Organisierung der Opposition ausgehend vom Sozialen wird in mehrerer Hinsicht der heutigen Realität nicht mehr in dem Maße gerecht wie zu den Hochzeiten der Arbeiterbewegung: zum Ersten ignoriert sie die erwähnte „amerikanisierte“ Form der entstehenden Zweidrittelgesellschaft, die kaum kollektives Widerstandsbewusstsein produziert. Zum Zweiten ist es nicht die Hoffnung auf soziale Besserstellung, die Menschen zu einer Stimmabgabe für eine radikal-oppositionelle Minderheit bewegt, sondern die Glaubwürdigkeit ihres umfassenden Gegensatzes zum bestehenden System. Zum Dritten artikulieren sich die unterschiedlichen sozialen Stellungen und Interessen in der Gesellschaft nicht notwendigerweise in ihrem scheinbar nächstgelegenen Bereich, dem Kampf um die (Um)verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Vielmehr sind es häufig kulturell oder direkt politische Konflikte und Konstellationen, über die sich die entgegengesetzten gesellschaftlichen Pole ausdrücken. Auch wenn der „Volksblock“ noch meilenweit davon entfernt sein mag, von einem raunzenden „Nein danke“ zu einem klar sehenden und als Subjekt agierendem Gegenpol zu den Herrschenden zu werden.

Die Forderung nach einer EU-Volksabstimmung, der Unmut über die US-amerikanische Raketenstationierung in Polen und Tschechien, das Schimpfen auf eine verlogene abgehobene Politikerkaste, die instinktive Gegnerschaft zu Globalisierung und Freihandel. All diese Bereiche des Alltagsbewusstseins der sozialen Verlierer des Neoliberalismus beinhalten Anforderungen an die Linke, Antworten auf strategische Fragen der Souveränität, Demokratie, Wirtschaftspolitik oder des Antiimperialismus in ihrem Gegenmodell zu entwickeln. Hier verbindet sich der strategische Gegensatz eines Linksprojektes zu jenem der neoliberalen Elite mit einer konkret vorhandenen und bewusst empfundenen Trennlinie zwischen Oben und Unten. Globaler Freihandel, EU, westliches Wertebündnis mit den USA – diese Schützengräben der heutigen kapitalistischen Herrschaft werden quer zu allen Systemparteien bis zur letzten Kugel verteidigt, während sie für die Mehrheit unverständlich und inakzeptabel sind. Denn wo die einen profitieren, da haben die anderen nur zu verlieren. In diesen momentanen Brüchen im herrschenden Konsens zwischen Unten und Oben, die aus den Streitfragen der Tagespolitik entstehen, steckt heute mehr antagonistische Dynamik als in sozialen Fragen im engen Sinne.

Große und kleine Politik

Gilt es für die politisch-ideologischen Gruppierungen marxistischen Hintergrundes im Linksprojekt wie oben diskutiert die traditionellen Ideen eines Arbeiterklasse-Subjekts, seiner Formierung über die „soziale Frage“ und ihrer „organischen“ Verknüpfung mit dem sozialistischen Ziel vor den aktuellen Realitäten des Kapitalismus neu zu überdenken, so geht es bei der andere wichtigen Komponente des Bündnisses, jener der zivilgesellschaftlichen sozialen Bewegungen aus dem Österreichischen Sozialforum, um Überzeugungsarbeit über die generelle Notwendigkeit eines umfassenden Projekts, das sich der politischen Auseinandersetzung auf allen Ebenen inklusive der staatlich-wahlpolitischen stellt. Gerade hier scheint noch einiges an Arbeit nötig, insofern als bisher die Einbindung zivilgesellschaftlich-sozialer Initiativen nur bedingt gelungen ist.

Ein Grund dafür dürfte in der heutigen Form kapitalistischer Herrschaft selbst liegen. Die zementierte Trennung der politisch-ökonomischen Elite von der Bevölkerung sowie die Versteinerung des neoliberalen Dogmas an der Spitze der sozialen Pyramide bei gleichzeitiger Nichtexistenz starker gesellschaftlicher Alternativideen an ihrer Basis hat zu einer Entfernung der sozialen Bewegungen von den Sphären der „großen Politik“ geführt. Kam früher, wo Sozialdemokratie und Bürgerliche noch zwei gegensätzliche Pole repräsentierten, der Kampf um die großen Fragen der Politik aus der Mitte der Gesellschaft, stellte ein organisches Ganzes von den kleinen Scharmützeln am Fußballplatz bis hin zu den Auseinandersetzungen im Parlament dar, so herrscht heute in der breiten Mitte der Gesellschaft Konsens, während die Infragestellung desselben von den isolierten Rändern kommt. Selbst wenn der Protest Dimensionen erreicht, wie die millionenfachen Märsche gegen den Irakkrieg, bleibt das Establishment davon unbeeindruckt und der normale Lauf der Gesellschaft wird nicht durchbrochen. Zumeist fehlt der sozialen Bewegung die kritische Masse, in jedem Fall der mediale und institutionelle Transmissionsriemen, um ihre Themen und Vorschläge auf die gesellschaftliche Tagesordnung zu bringen.

Im derzeitigen Moment bringt das eine schwer zu überwindende Verurteilung der sozialen Bewegungen zur „kleinen Politik“ themenspezifischer Initiativen in und für einen beschränkten Kreis von Interessenten. Aber diese Situation wurde auch insofern „internalisiert“, als das Eindringen in die „große Politik“ als nicht mehr anstrebenswert angesehen wird. Das zivilgesellschaftliche Engagement wird „anti-politisch“. Oberflächlich könnte man dem sogar zustimmen, angesichts der sozialdemokratischen und auch kommunistischen Erfahrungen, wo einstige Revolutionäre einmal an der staatlichen Macht nicht mehr diese transformierten, sondern von ihr zu konventionellen Machtpolitikern transformiert wurden. Es geht jedoch heute nicht um die tatsächlich ungelöste Frage der Aufhebung von Berufspolitikertum und Staat. Vielmehr ist die unmittelbare Überlebensfrage für die Linke ein Ausbrechen aus der Isolation, das Erreichen von Kommunikation mit jener Mehrheit, die abseits der Kultur zivilgesellschaftlicher Zusammenhänge und der Reichweite ihrer besonderen Interessensgebiete stehen. Es geht um das punktuelle Aufbrechen des hegemonialen Konsens und des diesen tragenden sozialen Block.

Was tun vor der Nicht-Aktualität der Revolution?

Die zermürbende Zeit fehlenden Massenaktivismus ist noch lange nicht überstanden. In absehbarer Zeit wird Aktivismus und Engagement aus den kleinen sozialen Bewegungen kommen, denen jedoch der Zugang zur politischen Relevanz versperrt ist. Die große gesellschaftliche Unzufriedenheit, das derbe systemoppositionelle Murren der Menschen gegen EU und Politikelite, wird noch lange passiv und vereinzelt bleiben, ohne Bereitschaft sich dem Kampf gegen das Establishment zu stellen. Zumindest nicht in jenen Formen, die die Linke immer als die ihren gesehen hat: Streiks, Demonstrationen, Komitees. Vielleicht ist der gesellschaftliche Pessimismus aber im Wahl-September bereit, die über Jahre eingepeitschte Idee der kapitalistischen Stabilität als Wert an sich zugunsten einer deutlichen Proteststimme für die Kleinparteien zu ignorieren. Es ist zu hoffen, dass davon auch die Linke profitiert, denn es wäre ohne Zweifel ein Vehikel, um wie in Deutschland, zu einem – unangenehmen – „Mitspieler“ in der großen Politik zu werden. Die Wahlteilnahme ist damit mehr als nur eine taktische Ergänzung des sozialen Kampfes. Sie ist heute der wichtigste Katalysator, um in der großen Politik für die Menschen als oppositioneller Pol sichtbar zu werden.

Dieser Pol hat jedoch sein Lebenselixier im kollektiven politischen Engagement. War dies in der alten Arbeiterbewegung im Alltagsleben vorhanden, von Gewerkschaft und Betriebsrat in der täglichen Arbeitsrealität bis zur Kultur- und Freizeitvereinigung im Wohnviertel, so ist es in der heutigen amerikanisierten, individualisierten Gesellschaft viel sprunghafter und kurzfristiger. Dies erschwert den Neuaufbau eines Linksprojekts aus den Protestbewegungen, denn trotz spektakulärer Größe (etwa der Anti-Bush-Proteste in Wien) und politischer Sichtbarkeit (wie die EU-Volksabstimmungsbewegung) verschwinden sie nach ihrem Auftreten wieder in der Anonymität, aus der sie gekommen sind. Übrig bleiben die wenigen Initiatoren und Aktiven von eh und je. Dieses Minderheitenprogramm kollektiven und permanenten politischen Einsatzes in der heutigen westlichen Welt kann und soll dennoch nicht durch millionenschwere Funktionärsapparate und mediale Inszenierungen ersetzen werden. Daher ist die Verbindung selbst mit der marginalsten sozialen Bewegung, Bürgerinitiative oder anderen kollektiven Artikulationsformen von Menschen so entscheidend. Denn nur da überlebt heute die Permanenz des Engagements, die Bereitschaft zur Organisation, die für eine Systemopposition praktisch aber auch theoretisch unersetzbar ist.

Zuletzt soll eines nicht vergessen werden. Die Glaubwürdigkeit des Neoliberalismus ist im Sinken. Doch dies bedeutet noch keine einhergehende Rehabilitierung des historischen Alternativprojekts Sozialismus. Denn das bisherige Scheitern aller sozialistischen Versuche ist mehr als eine durch die Zeit verheilende Wunde der Glaubwürdigkeit. Ein neues revolutionäres Projekt mag viel aus den positiven und negativen Erfahrungen des Marxismus entnehmen, aber es wäre ein völlig unerklärlicher Irrglaube anzunehmen, dass nicht genauso viel neu zu formulieren ist. Die Linke braucht eine Politik für die Zeiten der Nicht-Aktualität der Revolution, die mehr ist als ein gewerkschaftliches Minimalprogramm sozialer Forderungen. Doch dies hat der leninistische Marxismus nie ausreichend geleistet und in seiner Zeit revolutionärer Entscheidungsschlachten auch nicht leisten müssen. Zu lange haben die Revolutionäre dieses Feld den fähigen Köpfen der anti-revolutionären Sozialdemokratie überlassen und sich damit zwar exzellent auf den geschichtlichen Moment der Machtübernahme, aber völlig unzureichend auf die langen Perioden der vorrevolutionären Gegen- und der nachrevolutionären neuen Hegemonie vorbereitet. Es ist zu hoffen, dass die heutigen prekären Zeiten für die Linke auch dazu führen, diese strategischen Defizite unserer Bewegung anzugehen, ohne ihre zukunftsorientierte revolutionäre Essenz zu verlieren. Denn an die kommenden „leninistischen“ Zeiten des Sturms werden wir bereits heute tagtäglich durch die antiimperialistischen Widerstandskämpfe jenseits des Westens erinnert.

Gernot Bodner
23. August 2008

Thema
Archiv