Auszüge und Kommentare zum Bericht der Internationalen
Arbeitsorganisation über die „Lage der ArbeiterInnen in den besetzten
arabischen Gebieten“, Internationale Arbeitskonferenz, 96. Sitzung, 2007, aus Intifada Nr. 26
Die ILO veröffentlicht jährlich einen Bericht zu diesem Thema. Der Bericht wird von einem Expertenteam erstellt, das sich vor Ort über die Lage der ArbeiterInnen in den besetzten Gebieten ein Bild macht, und zwar aufgrund von Informationen durch israelische sowie palästinensische Regierungsstellen, Ministerien, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, akademische Institutionen, Organisationen der Vereinten Nationen, israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen, internationale und lokale NGOs u.a. Der 43-seitige Bericht kann durch pubvente@ilo.org in englischer oder französischer Sprache bezogen werden. Wir bringen hier daraus einige Auszüge.
In seinem Vorwort weist der Generaldirektor der ILO, Juan Somavia, unter anderem auf die Schwierigkeit hin „in angemessener Weise und in der Sprache eines Berichts dem Gefühl Ausdruck zu verleihen, das das palästinensische Volk angesichts der Kollektivbestrafung, der es ausgesetzt ist, tief in seinem Herzen trägt. Immer wieder kommt einem das Wort ‚Würde‘ in den Sinn, vor allem weil die Würde der PalästinenserInnen in mehr als einer Weise mit den Füßen getreten wird, und auch ob der Würde, mit der sie den Demütigungen und Erniedrigungen, die sie ertragen, ins Auge sehen.“
2007 steht im Zeichen des 40. Jahres der israelischen Besatzung des Westjordanlandes, Gazas, Ost-Jerusalems und des Golans. Für diese Gebiete bedeutete dies ein weiteres Jahr akuten Leidens aufgrund des sinkenden Lebensstandards, wachsender Armut und Arbeitslosigkeit, zunehmenden sozialen Zerfalls und politischer Wirren zu ertragen. Drei Faktoren trugen zur Verschlechterung der Lage im Vergleich zum letzten Jahr bei. Erstens, das finanzielle, von der internationalen Gemeinschaft gegen die Palästinensische Behörde (PA) verhängte Embargo, das verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Wirtschaft hatte. Zweitens, die von Israel einbehaltenen Steuergelder, entgegen den Abmachungen von Oslo, was zu einem monatlichen Budgetverlust von 60 Millionen Dollar führte. Drittens, weitere Beschränkungen im Personen- und Güterverkehr innerhalb und zwischen den besetzten Gebieten sowie zwischen letzteren und Israel und anderen Ländern. Die palästinensische Wirtschaft war daher gezwungen auf einem minimalen Niveau zu funktionieren.
Der Zugang zu Märkten innerhalb und außerhalb der besetzten Gebiete unterliegt einer strengen Kontrolle durch die israelische Armee (IDF). Die Hindernisse zu einem freien Verkehr im Westjordanland mehren sich mit der zunehmenden Zahl von „fliegenden“ Barrieren, zusätzlich zu den bereits bestehenden. Die Handels- und Transportkosten sind dadurch untragbar geworden und wirken sich auf die Preise von Konsumgütern aus. Die Kontrolle der zahlreichen Barrieren und Übergänge innerhalb der besetzten Gebiete gibt der IDF volle Macht über den Lebensunterhalt der Bevölkerung. Die sich dadurch ausbreitende humanitäre und wirtschaftliche Krise führt zu einer Schwächung der Institutionen, zu Gewalttätigkeit, Kriminalität und Rechtlosigkeit, zusätzlich zu Auseinandersetzungen zwischen politisch uneinigen, schlecht ausgebildeten und nur gelegentlich entlohnten Sicherheitskräften, besonders im Gazastreifen.
Obwohl die finanziellen Hilfeleistungen aufgrund der verschlechterten Lage der palästinensischen Bevölkerung zunahmen, änderte sich die Aufteilung der Hilfsgelder insofern, als die Hilfe für humanitäre Zwecke im Vergleich zur Entwicklungshilfe überhandnahmen (56% durch die EU im Jahre 2006, aber nur 16% 2005), die für die Entwicklung einer Wirtschaft in einem lebensfähigen palästinensischen Staat notwendig wäre. Mit der Desorganisation der wirtschaftlichen Aktivitäten schrumpft die Produktivkraft der Wirtschaft. Die Verminderung des Angebots und dem daraus folgenden Verlust an Einkommen und Arbeitsplätzen geht Hand in Hand mit einem massiven Absinken der Nachfrage. Das Resultat ist eine „Ent-entwicklung“, die eine lebensfähige palästinensische Wirtschaft unmöglich macht.
Zu den Hindernissen zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung zählen Kontrollpunkte, Straßenbarrieren, Metallabriegelungen, Erdhügel, Schranken, Gräben und die Trennmauer, die hauptsächlich östlich der Waffenstillstandslinie von 1949, der sogenannten „Grünen Linie“ verläuft und die innerhalb des Westjordanlandes errichtet ist und an der weiter gebaut wird. Das Resultat ist eine Zerstückelung des Gebietes, wodurch palästinensische Wohnorte und -zentren voneinander isoliert werden, insbesondere Ost-Jerusalem, Nablus und das Jordantal.
Die internationale Gemeinschaft betrachtet die Besetzung der eroberten Gebiete als illegal und als einen Verstoß gegen das internationale Recht. Laut der Resolution 465 von 1980 erklärte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: „Israelische Politik und Praktiken, Teile seiner Bevölkerung und neue Einwanderer in diesen Gebieten ansässig zu machen ist eine flagrante Verletzung der Genfer Konvention … wie auch ein ernstes Hindernis zu einem gerechten und dauerhaften Frieden im Mittleren Osten.“ Auch die internationale Arbeitsorganisation nahm 1980 eine Resolution an, die die Auswirkungen der Siedlungspolitik Israels feststellt: Rückgang an Arbeitsplätzen, psychische und physische Schäden an palästinensischen ArbeiterInnen, flagrante Verletzungen der Rechte im allgemeinen und des Rechts der Versammlungsfreiheit.
Der Bau von jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und in Ost-Jerusalem setzte sich seit 2006 fort. Für Landwirtschaft bestimmtes Land palästinensischer Eigentümer wird von den Siedlern für kommerzielle Zwecke benützt. Die israelische Statistik weist Ende 2005 auf palästinensischem Gebiet 119 jüdische Siedlungen mit 247.500 Einwohnern auf, – über 118.000 mehr seit 1995. Laut der israelischen Organisation „Peace Now“ gab es zusätzlich 101 nicht-autorisierte Siedlungen oder „outposts“. Die Siedlungen, einschließlich sogenannter „geschützter“ oder „gesperrter“ Gebiete machen 40% der besetzten Gebiete aus.
Ein extensives Straßennetz ist bereits angelegt und teilweise noch im Bau für die ausschließliche Benutzung durch Siedler, jüdische Israelis und die IDF. Tunnels und Umgehungsstrassen stellen sicher, dass die palästinensische Bevölkerung nicht mit jüdischen Israelis in Berührung kommt. Andrerseits leben in Ost-Jerusalem 182.000 Juden unter 245.000 Muslimen, Christen u.a. Von den zwölf kontrollierten Zugängen zu Ost-Jerusalem können nur vier von in Jerusalem domizilierten PalästinenserInnen benutzt werden.
Am 20. April 2006 wurden Richtung und Länge der Trennungsmauer im Westjordanland von der israelischen Regierung neu festgelegt, und zwar von 670 auf 702 km verlängert. 2007 waren bereits 59% der Mauer trotz Einspruchs des Haager Internationalen Gerichtshofs und der Resolution der Versammlung der Vereinten Nationen (A/Res/ES-10/15 vom 20.07.04) errichtet. Nur 20% der Mauer folgen der „Grünen Linie“. 575 km2 (10,17%) westjordanischen Landes liegen innerhalb der sogenannten „Nahtzone“ zwischen der Mauer und der „Grünen Linie“. In dieser Zone befindet sich ein großer Teil des fruchtbaren westjordanischen Ackerbodens und der Wasserressourcen. 242 Dörfer mit 260.500 palästinensischen Einwohnern sind in dieser „Nahtzone“ angesiedelt. 12 Dörfer mit 31.400 Einwohnern sind bereits – oder werden – von der Mauer völlig eingeschlossen sein, 28 Dörfer mit 124.300 Einwohnern von drei Seiten, – die vierte Seite mit einem Verschluss oder einer ähnlichen Struktur. Mit dem Mauerbau entstanden Industrieanlagen in der Nähe jüdischer Siedlungen, in denen palästinensische Männer, Frauen und sogar 10-jährige Kinder für Löhne weit unter dem Mindestlohn und ohne Schutz gegen Arbeitsunfälle beschäftigt werden.
Genehmigungen und Passierscheine für Zwecke des Personen- und Güterverkehrs innerhalb der besetzten Gebiete sowie nach und von Israel oder ins Ausland sind kompliziert, undurchsichtig und widersprüchlich. Seit der zweiten Intifada (Jahr 2000) ist die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für Beschäftigung in Israel stark gesunken und auf höhere Altersgruppen beschränkt. Die Zahl der illegalen ArbeiterInnen wird auf 15 – 20.000 geschätzt, der in den Siedlungen Beschäftigten auf 11.000.
Israel kontrolliert weiterhin Gazas Grenzen, Küste und Luftraum, drosselt Personen- und Güterverkehr in einem Ausmaß, dass Gaza mit einem Freiluftgefängnis verglichen werden kann. Der israelische Arbeitsmarkt ist für Arbeitssuchende aus Gaza seit April 2006 gesperrt. Die Arbeitslosigkeit ist dementsprechend hoch. (Die Lage in Gaza hat sich seit 2007 sehr verschlechtert und wird im Bericht 2008 behandelt werden).
Die Armutsrate ist in den besetzten Gebieten gewachsen, und zwar von 20% 1998 auf 29,5% 2005. (Die Armutsgrenze liegt bei 4 US-Dollar pro Person pro Tag). Schätzungsweise leben sieben von zehn palästinensischen Haushalten in Armut, – neun von zehn in Gaza, einer von zweien im Westjordanland. Grund für die Zunahme der Armut ist die niedrige Beschäftigungsrate, die der militärischen Besatzung und der finanziellen Isolierung zuzuschreiben ist. Die Beschäftigungsquote sank rapide im Jahre 2006, – um fast 100,000. Die Arbeitslosenrate betrug 23,7% im Jahre 2006 (35% in Gaza). Sie betrug 1998 11,8%. Über 67% aller Arbeitslosen sind junge Menschen zwischen 15 und 24.
Das ILO-Expertenteam stellte fest, dass in den besetzten Gebieten Recht und Gesetz – normalerweise Staatsverantwortung – keine Beachtung zukommt. Das komplizierte und sich fortwährend ändernde System der Genehmigungen im Personen- und Güterverkehr, die immer beschränktere Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit innerhalb der besetzten Gebiete und zwischen Teilen derselben ermöglicht eine willkürliche und diskriminierende Behandlung der Bevölkerung durch die Besatzungsmacht. Der Sonderberichterstatter stellte fest, dass die Erniedrigungen, denen die PalästinenserInnen an den Kontrollpunkten ausgesetzt sind – zusätzlich zu der Zerteilung der Gebiete in „Bantustans“ – zu einer verhaltenen Wut der Betroffenen führt, die „langfristig eine großen Gefahr für die Sicherheit Israels“ darstellt. Er erklärt ferner, dass es „Israel gut tun würde, aus der Erfahrung eines ähnlichen Systems im ehemaligen Apartheid-Südafrika zu lernen.“
Gewalttaten gegenüber palästinensischen Männern, Frauen und Kinder seitens jüdischer Siedler sind weit verbreitet, und zwar durch tätliche Angriffe, Diebstahl, Zerstörung von Eigentum in Häusern, Feldern und Plantagen. Diese Siedler, die oft „outposts“ auf Hügeln im Westjordanland besetzt halten, die auch nach israelischen Kriterien illegal sind, erfreuen sich nichtsdestoweniger völliger Straffreiheit und Schutz durch Polizei oder IDF. Diese Übergriffe gehören zum Alltäglichen. Die oft gewaltsame Besitznahme von Land und Wasserressourcen durch Israel wurde vom Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen als „eine Form von Kolonialismus“ beschrieben, die „eine Nichtbeachtung menschlicher Grundrechte“ darstellt, „entgegen der Charter der Vereinten Nationen wie festgelegt in der Erklärung der Vollversammlung zur Unabhängigkeit der Kolonialstaaten- und Völker von 1960“ (Resolution 1514 XV).
Es muss bedacht werden, dass die für gerichtliche Prozeduren zuständige Regierungsstelle in den besetzten Gebieten völlig außerstande ist Gerichtsbarkeit auszuüben und zu vollstrecken. (Die besetzten Gebiete unterstehen der israelischen Militärverwaltung.) Der demokratisch gewählte palästinensische gesetzgebende Rat (Palestinian Legislative Council) ist nicht handlungsfähig, solange so viele seiner Mitglieder sich ohne Anklage in Haft befinden.
Peter Melvyn (pensionierter Mitarbeiter der ILO)
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie wurde im Jahre 1919 gegründet und hat ihren Hauptsitz in Genf. Die ILO verfügt über eine dreigliedrige Struktur, die im UN-System einzigartig ist: Die 182 Mitgliedsstaaten sind durch Repräsentanten sowohl von Regierungen, als auch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Organen der ILO vertreten. Schwerpunkte der ILO sind die Formulierung und Durchsetzung internationaler Arbeits- und Sozialnormen, insbesondere der Kernarbeitsnormen sowie die Schaffung von menschenwürdiger Arbeit als einer zentralen Voraussetzung für die Armutsbekämpfung.