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Libanon: das große Warten auf den Krieg

10. September 2008

Antiimperialistischer Widerstand vor der Grenze des Konfessionalismus, aus Intifada Nr. 26

Der Libanon ist einer der Brennpunkte des antiimperialistischen Widerstands. Vor zwei Jahren gelang es der Hizbullah in sensationeller Weise, den israelischen Angriff zu parieren. In der Folge forderte die Koalition des Widerstands angesichts ihres gewachsenen politischen Gewichts die Beteiligung an der Macht. Doch die prowestliche Regierung weigerte sich starrköpfig. Erst durch eine überwältigende militärische Machtdemonstration der Hizbullah in Beirut im Frühjahr 2008 konnte die Konfrontation zugunsten der Opposition gelöst werden. Nach dem Gefangenenaustausch mit Israel im Sommer scheint die Hizbullah vorläufig an einem neuen Höhepunkt ihrer Machtentfaltung angelangt zu sein. Doch den proimperialistischen Kräften im Land eine entscheidende Niederlage zufügen, scheitert indes am Konfessionalismus und am regionalen Kräftegleichgewicht. Alles wartet auf das Showdown zwischen den USA und Israel auf der einen Seite und dem Iran auf der anderen.

Abwehr des israelischen Angriffs

Im Sommer 2006 griff Israel den Libanon abermals frontal an. Anlass war ein Grenzzwischenfall, bei dem es der Hizbullah gelang, zwei israelische Soldaten gefangen zu nehmen und mehrere andere zu töten. Zweck solcher Aktionen ist letztlich die Befreiung inhaftierter Libanesen in Israel, die zwei Jahre später auch gelang. Deklariertes Kriegsziel Israels war es, die Hizbullah vernichtend zu schlagen. Doch der Widerstand verteidigte sich bravourös gegen die überlegene Armee und der Angriff kam schnell ins Stocken. Letztlich wandelte er sich in eine demütigende Niederlage des Zionismus, die Einfluss und Prestige der Hizbullah in der gesamten arabischen Welt auf einen neuen Höhepunkt trieb. Zum zweiten Mal war es der Volksmiliz gelungen, Israel zu schlagen, etwas was regulären arabischen Armeen, geführt von rachitischen Eliten, bisher versagt geblieben war.

Natürlich handelt es sich um einen Teilerfolg, denn Israel weiß den gesamten Westen hinter sich. So musste die Hizbullah entsprechend der UN-Resolution 1701 die Entsendung vor allem europäischer Truppen in den Südlibanon akzeptieren. Trotz der Beteuerung, nicht in innerlibanesische Konflikte eingreifen zu wollen, kam die grundsätzliche Parteilichkeit der UNIFIL von Anfang an zum Ausdruck, als von einer möglichen Ausweitung des Mandats auf die gesamte libanesische Grenze schwadroniert wurde – um der Hizbullah den Nachschub an Militärmaterial abzuschneiden. Zwar blieb diese Idee ein Testballon, doch zeigt sie deutlich an, dass die UNIFIL-Truppen unter veränderten Umständen gegen den Widerstand zum Einsatz gebracht werden könnten.

Zweijährige Blockade durch die Hariri-Gruppe

In der Folge des veränderten Kräfteverhältnisses forderte die Opposition – also im Wesentlichen die Hizbullah, die Amal und die Freie Patriotische Bewegung des General Michel Aoun – de facto ein Vetorecht in der Regierung. Sie verlangten ein Drittel plus einen Sitz in der Regierung, sowie die baldige Ausrichtung von Neuwahlen. Nachdem die Regierungskoalition, geführt von Fuad Siniora, das verweigerte, trat die Opposition geschlossen aus dem Kabinett zurück. Es sollte eine fast zwei Jahre andauernde Konfrontation folgen, die das politische System des Landes lähmte und es an den Rand des Bürgerkriegs trieb.

Die Opposition argumentierte – übrigens zutreffend -, dass die Regierung die realen politischen Verhältnisse im Land nicht mehr widerspiegeln würde. Tatsächlich war diese im Frühjahr 2005 nach Wahlen an die Macht gekommen, die von der Ermordung des starken Mannes Rafik Hariri sowie dem darauf folgenden Abzug der Syrer aus dem Land geprägt waren.

Kurz zu den historischen Umständen: Der Anschlag auf Hariri am 14. Februar 2005 zog weit reichende Konsequenzen nach sich. Er brachte den bereits überfälligen Abzug der syrischen Truppen ins Rollen und führte bei den Wahlen zum Sieg der konsolidierten prowestlichen Koalition. Überfällig war der syrische Rückzug deswegen, weil die Militärpräsenz von einem Großteil der Bevölkerung bis weit hinein in die linken und antiimperialistischen Kräfte als Besatzung und Fremdbestimmung angesehen wurde. Die Massenbewegung gegen Syrien, obwohl nicht vollständig kongruent mit den prowestlichen Eliten, stärkte letztere dennoch enorm. Nach dem Vorbild der proimperialistischen „orange Revolution“ in der Ukraine oder der „Rosenrevolution“ in Georgien wurden die Ereignisse als „Zedernrevolution“ gefeiert. Doch die Freude am scheinbaren „regime change“ währte nicht lange.

Dabei bleibt zu erwähnen, dass sich die Hizbullah an der neuen Koalitionsregierung durchaus beteiligte. Die neue Mehrheit war auch dank lokaler Wahlbündnisse mit der Hizbullah zustande gekommen (die dem byzantinischen konfessionellen Wahlsystem geschuldet sind). Die Hizbullah richtete sich auch nicht gegen den Abzug der Syrer. Der tiefe Bruch kam erst später, als der proamerikanische Charakter der Siniora-Regierung voll durchschlug. Es ist bis heute nicht geklärt, wem die Verantwortung an dem Attentat zukommt. Der Westen beschuldigt Syrien. Aber eines ist offensichtlich: Die Aktion schadete in erster Linie dem syrischen Regime selbst. Sie wurde in einem bürokratisch-militaristischen Geist konzipiert, dem der Kampf um politische Hegemonie fremd ist. Wenn Elemente des syrischen Geheimdienstes beteiligt waren – ihrer Handschrift entspräche es -, heißt das nicht automatisch auch eine Verstrickung Assads selbst. Politisch ging es übrigens um die Verlängerung des auslaufenden Mandats des Präsidenten Emil Lahoud, den Damaskus als seinen Gewährsmann im Zedernland ansah.

Nach dem israelischen Angriff und dem Erfolg des Widerstands auf dem Schlachtfeld traten diese Fragen jedoch in den Hintergrund. Zutage kam viel mehr die Untätigkeit und Unfähigkeit der Regierung in der Verteidigung des Landes, die wie ein stillschweigendes Einverständnis mit dem Aggressor wirkte. Während der zivile Apparat der Hizbullah einen effektiven Wiederaufbau in den betroffenen Gebieten betrieb, der bewusst nicht nur ihre schiitische Klientel bediente, liefen die Bemühungen der Regierung nur sehr langsam an und waren von Anfang an von Klientelismus und Korruption geprägt. Hauptsorge der Regierung blieb weiterhin die Entwaffnung der Hizbullah nach UN-Entschließung 1559 aus dem Jahr 2004, obwohl die Hizbullah gerade erst ihre Nützlichkeit zur Verteidigung des Landes eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte.
So eskalierte die Opposition Schritt für Schritt ihre Proteste. Eine ursprünglich gewerkschaftlich motivierte Aktion im Januar 2007 wurde von der Opposition aufgegriffen. Die Streiks wuchsen zu Straßenprotesten an, an denen sich an die zwei Millionen Menschen (etwa die Hälfte der Bevölkerung) beteiligten. Eine derartige Hegemonie und Mobilisierungskraft sind auch global gesehen historische Ausnahmen. Doch die Paralysierung des Landes drohte in konfessionell motivierte Konflikte abzugleiten, die auch einige Todesopfer forderte. Daher zog die Hizbullah die Notbremse und hob die Straßenblockaden auf. Fortan beschränkten sich die Proteste neben dem institutionellen Boykott der Regierung auf eine symbolische Blockade vor dem Sitz der Regierung.

Indes blieb die Koalition aus sunnitischer Hariri-Gruppe, traditioneller christlich-maronitischer Rechter und dem drusischen Wendehals Walid Jumblat hart. Nur dank der Rückendeckung aus Washington konnte sie sich weiterhin weigern, der Forderung der Opposition nach einer „Regierung der Nationalen Einheit“ statt zu geben. Denn die Opposition hatte nicht nur bewiesen, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatte, sondern auch signifikante Unterstützer in allen Konfessionen hinter sich vereinigen konnte.

Stolperstein Konfessionalismus

Das politische System, das die politische Macht entsprechend konfessioneller Paritäten aufteilt und dabei die prowestliche Eliten strukturell bevorzugt, hat der Libanon der französischen Kolonialherrschaft zu verdanken. Paris hinterließ es, um den Maroniten die Herrschaft zu sichern.

Es bedurfte eines blutigen fünfzehnjährigen Bürgerkriegs, nicht um sich von dem System überhaupt zu emanzipieren, sondern um das konfessionellen Gleichgewicht den neuen Gegebenheiten anzupassen. De facto lautete die im Frieden von Ta’if 1989 vereinbarte Formel die Aufgabe der auch demografisch nicht mehr haltbaren Vormachtstellung der Maroniten. Die Schiiten, die früher völlig marginalisiert gewesen waren, erhielten mehr Gewicht. Doch der eigentliche Nutznießer war die sunnitische Handelselite um die Familie des mit Saudiarabien verbundenen Milliardärs Hariri, die zum Kern des politischen Systems gekürt wurde. Der alte christlich-muslimische Konflikt mutierte sukzessiv zu einem sunnitisch-schiitischen, angeheizt auch durch die Veränderungen in der Region insbesondere die saudisch-iranische Rivalität.

Für die Hariri-Gruppe scheint sich die konfessionelle Mobilisierung gegen die Schiiten als letzter Trumpf gegen die Hizbullah zu erweisen. Nicht nur sie, sondern fast alle proamerikanischen Regimes im ostarabischen Raum reagierten mit einer hysterisch und gar paranoid anmutenden Steigerung der antischiitischen Kampagne. Für sie wirkten die nach dem Sieg der Hizbullah im Sommer 2006 in den Straßen der arabischen Hauptstädte auftauchenden Konterfeis von Hassan Nasrallah wie ein Alarmsignal. Einzig Gamal Abdel Nasser war jemals eine ähnliche Popularität im Volk zuteil geworden. Wenn in Damaskus flächendeckend selbst in Ämtern neben dem Bild von Bashar al-Assad jenes des Hizbullah-Führers hängt, kann man das noch mit der Allianz Teheran-Damaskus-Hizbullah sowie der alawitisch-schiitischen Verwandtschaft erklären. Ganz recht kann eine solche Gleichsetzung einem autoritären Staatschef indes nicht sein, gereicht sie doch in Wirklichkeit zu seiner Herabsetzung. Doch unerhört wird es in Amman und Kairo, wo es keine autochthonen Schiiten gibt und der Dreibund amtlich als Feind gilt – zumal dort Nasrallah allein, ohne den eigenen Machthaber, die Scheiben ziert.

Der Hariri-Gruppe wird nachgesagt, dass sie gegen den steigenden Einfluss der Hizbullah versucht, im sunnitischen Bereich die logische Gegenbewegung, den Salafismus, zu mobilisieren. Nach dem Zusammenbruch des arabischen Nationalismus, der unter den Sunniten historisch dominierte, hat der sunnitische Islamismus vor allem unter den subalternen Schichten stark an Einfluss gewonnen, zumal die Hariri-Führung keinerlei eigene Ideologie als Business und Klientelismus zu bieten hat. Doch diese Instrumentalisierung hat enge Grenzen, die sich in der Schlacht um das palästinensische Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Herbst 2007 klar und deutlich zeigten, als sich die der al-Qa’ida nahe stehende Gruppe Fatah al-Islam gegen die libanesische Armee erhob. Die salafitische Agenda hat bekanntlich eben nicht nur die Schiiten im Auge, sondern vor allem auch den Westen und die USA. Diese sind bereit, das Spiel mit dem Feuer, wenn überhaupt, dann nur am Rande zu akzeptieren. Und die sunnitische Elite wird sich hüten, ihren wichtigsten Verbündeten mit solchen Hasard-Aktionen zu vergraulen.

Die Hizbullah tut sich indes mit der konfessionellen Mobilisierung denkbar schwer und reagiert entsprechend defensiv. Das Bündnis der Opposition ist zwar im Gegensatz zum Bündnis der Regierungsmehrheit tatsächlich interkonfessionell, umfasst also alle Konfessionen. Es ist jedoch keineswegs suprakonfessionell in dem Sinne, dass es die Konfessionsgrenzen überwinden würde. Nicht nur, dass Hizbullahs schiitischer Bündnispartner Amal voll der konfessionellen Logik folgt und sich im Gegensatz zur Hizbullah auch gewalttätige Übergriffe zu schulden kommen hat lassen. Auch die Partner in den anderen Konfessionen verfolgen Interessen, die auf Konflikte in den Konfessionsgruppen zurückgehen und nicht unbedingt systemoppositionell oder gar antiimperialistisch motiviert sind.

Die Bewegung des wichtigsten Bündnispartners, des Christengenerals Aoun, repräsentiert sicher einen Bruch mit den traditionellen maronitischen Eliten und dominanten Familienklans insofern sie volksnäher und weniger konfessionalistisch ist. Doch darüber darf nicht vergessen werden, dass es Aoun wesentlich darum geht, seine innerchristlichen Gegner auszuhebeln. Das Bündnis mit Hizbullah dient dafür als Mittel zum Zweck. So war Aoun der schärfste Gegner Damaskus‘ und sein „Befreiungskrieg“ gegen die syrische Präsenz die letzte Episode des Bürgerkriegs. Bis vor nicht allzu langer Zeit rühmte er sich, Architekt der UN-Resolution 1559 zur Entwaffnung der Hizbullah zu sein. Seine prosyrische Wende ist sicher prinzipientreuer als die antisyrische Wende der Regierungsmehrheit. Denn immerhin wurde seine Forderung nach Abzug der syrischen Truppen erfüllt, während die ehemaligen Handlanger von Damaskus sich nach dessen Rückzug in opportunistischer Weise in Gegner verwandelten. Insbesondere der Drusenführer Jumblat gilt als Lehrmeister des Seitenwechsels jeweils zum Stärkeren. Insofern kann die Haltung Aouns durchaus als patriotisch bezeichnet werden: unter syrischer Schirmherrschaft gegen Syrien, unter amerikanischer gegen Amerika. Doch darf Aoun weder zum Gegner des Konfessionalismus und schon gar nicht zum Antiimperialist stilisiert werden, so wertvoll auch das Bündnis mit ihm gegen die proimperialistischen Eliten ist. Es ist die innere Logik des Konfessionalismus, die Aoun dazu treibt, und nicht eine antagonistische Opposition dagegen. Geänderte Umstände können nur zu gut einen neuerlichen Seitenwechsel bewirken.

Noch mehr gilt das für die mit der Hizbullah verbündeten drusischen Gegenspieler der Jumblat-Dynastie, namentlich den Klan der Arslan. Am ehesten antiimperialistisch motiviert sind noch die Reste des arabischen Nationalismus im sunnitischen Milieu, die sich aber der konfessionellen Logik auch nicht gänzlich entziehen können. Einzig die nicht religiöse Linke kann das, doch diese spielt nur mehr eine Nebenrolle, denn sie musste das Heft des antiimperialistischen Widerstands an die Hizbullah abgegeben.
So drückt die Hizbullah nicht nur das libanesische Paradoxon aus, sondern zeigt ein globales Problem des antiimperialistischen Widerstands auf: den Kulturalismus.

Die Hizbullah ist als einzige der großen konfessionellen Formationen des Libanon gegen das konfessionelle System und für die Einführung einer repräsentativen Demokratie. Indes verdankt sie ihren Aufstieg der Fähigkeit, die antiimperialistischen, nationalen und sozialen Forderungen der alten Linken den Volksmassen in eine religiös-kulturelle Sprache übersetzt und so zur Hegemonie fähig gemacht zu haben. Doch Übersetzung bedeutet unweigerlich auch Veränderung. Der libanesische Bürgerkrieg begann 1975 als antiimperialistischer und antizionistischer Klassenkrieg, also als echte Volksrevolution von unten unter Einschluss der explosiven palästinensischen Frage. Doch schon bald zerfiel die revolutionäre Front entlang konfessioneller Linien, auch angesichts des feindlichen Eingreifens Syriens. Die Positionen der Hizbullah waren ursprünglich extrem konfessionalistisch und gegen die Linke gerichtet. Allerdings: Je mehr die Linke verschwand, desto stärker bewegte sich die Hizbullah nach links und übernahm ihre Rolle, denn die Schiiten stellten die Volksklasse der Unterprivilegierten dar, die historisch zur Linken und den Kommunisten tendiert hatte.

So sehr der Antiimperialismus und viele der linken Forderungen auch von der Hizbullah weiter getragen werden, so sehr hat ihr universeller Anspruch gelitten. Entkleidet man indes den Kern der Forderungen der Hizbullah ihrer schiitischen Form, streicht man das spezifisch schiitische weg, so würde derzeit nicht viel an Unterstützung im Volk übrig bleiben. Selbst eingefleischte Säkularisten bestätigen das. Der dafür zu zahlende Preis ist aber sehr hoch. So scheint das derzeitige interkonfessionelle Bündnis der Hizbullah das Maximum des Erreichbaren, eine echte suprakonfessionelle, antiimperialistische Front unmöglich. So bitter es ist: Antiimperialismus der Massen scheint heute global nur in kulturalistischer und konfessionalistischer Form zu haben sein, der es notwendig an universeller, globaler Anziehungskraft gebricht. Vor dem gleichermaßen vom Imperialismus an die Wand gemalten wie von den Antiimperialisten gewünschten gewaltsamen Sturz des prowestliche Regimes in Beirut schreckt die Hizbullah konsequent zurück. Sie fürchtet die unweigerliche konfessionalistische Interpretation eines solchen revolutionären Gewaltakts, der ihr die anderen Konfessionen entfremden würde. Allem Anschein nach hat sie mit dieser Einschätzung recht, was das heute gegebene Patt erklärt.

Das Doha-Abkommen

Zurück zur Chronologie: Die Mobilisierung der Opposition gegen die Regierungsmehrheit und deren Intransigenz zerrüttete das staatliche Gefüge zunehmend und führte nach dem Auslaufen des Mandats des Präsidenten zu einer veritablen Verfassungskrise. Zwar einigte man sich auf einen Kandidaten für das Präsidentenamt, den maronitischen General Michel Suleiman, doch knüpfte die Opposition dessen Wahl an die Forderung nach einer Regierungsumbildung, da die Regierung aus ihrer Sicht andernfalls verfassungswidrig wäre.

An diversen gewalttätigen Konflikten der Parteien zeigte sich die Zuspitzung des gefährlichen konfessionellen Potenzials, das früher oder später in bürgerkriegsähnlicher Form zum Ausbruch kommen würde. Schon hörte man Gerüchte über die Aufrüstung diverser konfessioneller Milizen. Schließlich entschloss sich die Hizbullah, ihre absolut überlegene militärische Macht zu demonstrieren, um der unerträglichen Situation ein Ende zu bereiten. Anlass war die Absetzung des schiitischen Kommandanten des internationalen Flughafens sowie die Abschaltung des von der Hizbullah betriebenen Telefonnetzes. Gemeinsam mit der Amal brachte die Hizbullah im Mai 2008 in einem Handstreich innerhalb von nur zwei Tagen das gemischte, aber mehrheitlich doch sunnitische Westbeirut mitsamt dem Regierungsviertel unter ihre Kontrolle. Anderswo waren auch linke Kräfte beteiligt. Der Medienapparat der Hariri-Gruppe wurde ausgeschaltet und die Regierung in ihren Amtsgebäuden eingeschlossen. Während die Armee strikt Neutralität bewahrte, vermochten die sunnitischen Hariri-Milizen keinen ernsthaften Widerstand leisten. Sie zerfielen förmlich unter dem überwältigenden Druck der Hizbullah, die damit zeigte, wer der Herr im Haus ist oder besser sein könnte. Denn sehr schnell wurde klar, dass sie die eroberten Positionen nicht behielt, sondern sie der Armee übergab. Mit allen Mitteln versuchte die Hizbullah den Eindruck einer konfessionellen Motivation ihres Überraschungscoups zu vermeiden.

Das Resultat der Machtdemonstration ließ nicht lange auf sich warten. Noch vor Monatsfrist unterzeichneten die Konfliktparteien das Abkommen von Doha. Die Siniora-Regierung konnte zwar ihr Gesicht wahren, doch in der Substanz gab sie den Forderungen der Opposition nach. Diese wurde mit einem Drittel plus einem der Sitze im Kabinett bedacht. Um zu retten war zu retten war, gaben die proimperialistischen Kräfte nach – eine Notwendigkeit, die scheinbar auch der Westen eingesehen hatte. Pikanterie am Rande: Einer der prononciertesten Gegner der Hizbullah, Walid Jumblat, dessen Milizen sich bei den Kämpfen in den Mai-Tagen eine blutige Nase geholt hatten, mäßigte seinen Ton entschieden – bester Indikator für eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses.

Im Juli 2008 erntete die Hizbullah gleich die nächste Frucht ihres Sieges von 2006. Israel stimmte einem Gefangenenaustausch zu, bei dem die sterblichen Überreste der 2006 in die Gewalt der Hizbullah gekommenen israelischen Soldaten gegen in zionistischen Händen befindliche Libanesen und Palästinenser ausgetauscht wurden. So konnte die Hizbullah der ehemaligen Besatzungsmacht, die sie weitgehend vom nationalen Territorium (mit Ausnahme der Shib’a-Höfe) vertrieben hatte, auch noch die letzten Gefangenen abringen. Nicht einmal die libanesische Regierung konnte sich dem nationalen Jubel entziehen und musste gute Miene zum bösen Spiel machen.

Äußerer Faktor

Eine noch größere Machtentfaltung der Hizbullah scheint kaum möglich, ohne die Grundfesten des libanesischen Regimes zu erschüttern. Schon die substanzielle Regierungsbeteiligung der Hizbullah ist so starker Tobak, dass sie der Westen nur akzeptierte, da er keine andere Wahl hatte. Denn ein abermaliges militärisches Eingreifen Israels ohne westliche militärische Unterstützung scheint sinnlos. Eine neue Front aufzumachen, neben dem Irak und Afghanistan, muss Washington aber als Verzettelung vorkommen. Denn als Amerikas Hauptproblem erweist sich der Iran, dessen Aufstieg zur Regionalmacht in der Folge der US-Besatzung des Irak zur entscheidenden Herausforderung für das Imperium Americanum wurde. Dieses Gegengewicht gibt den antiimperialistischen Volksbewegungen im Nahen Osten wie der Hizbullah oder der Hamas Bewegungsspielraum. Die Hizbullah kann daher nur durch die substanzielle Schwächung Teherans eingedämmt oder geschlagen werden.

Nicht nur, aber auch deswegen ist ein Militärschlag gegen den Iran mit dem Ziel des regime change aus israelischer Sicht unbedingt notwendig – und eigentlich auch aus amerikanischer Perspektive. Doch in Washington gibt es große Zweifel an den Erfolgsaussichten und in den europäischen Hauptstädten überwiegt überhaupt die Angst vor einem Misserfolg und der daraus resultierenden Schwächung des imperialistischen Systems als Ganzem. Greifen die USA den Iran nicht an, so hätte das unweigerlich die Schwächung des Zentrums zur Folge und bedeutete einen Schritt zur multipolaren Welt. Es gäbe auch den antiimperialistischen Bewegungen in aller Welt mehr Luft zum Atmen.

Wilhelm Langthaler
Wien, August 2008

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