Oder: eine alptraumartige Skizze der globalisierten Weltwirtschaft., aus Intifada Nr. 26
siehe auch:
Harte Zeiten, Artikel aus der Intifada Nr. 26
Wir treffen ein paar Annahmen: global vollständig integrierte
Industriegüter-, und Agrarmärkte ohne Schranken (weder Zölle, noch
Transportkosten, noch sonstige Hindernisse für das Zusammenwachsen von
Märkten), sowie das Fehlen von Gewerkschaften oder staatlicher Regelung
des Arbeitsmarktes. Das entspricht zwar nicht der Realität, aber der
Bewegungsrichtung der Globalisierung, sowie den Träumen ihrer
wirtschaftsliberalen Einpeitscher. Es entspricht den Zielen der
neoliberalen „Reformer“.
Es gibt mehr als 6 Milliarden Menschen. Knapp die Hälfte ist bäuerliche
Bevölkerung, von diesen arbeiten nur 10 Prozent mit Hilfsmitteln der
industrialisierten Landwirtschaft, oder zumindest mit einfachen
Maschinen. 60 Prozent – mit Familien also vielleicht 1,5 Milliarden,
bestellen ihre Felder in Handarbeit, wodurch sie nicht mehr als einen
Hektar pro Arbeiter bearbeiten können. Ihre Erträge sind damit nach
oben begrenzt, ihr Verdienst in den letzten Jahrzehnten, ungeachtet
jüngster Preisanstiege, aber gesunken. Das, weil sie mit einer
Agroindustrie konkurrieren müssen, in der ein Arbeiter 300 Hektar
bestellen kann und obendrein viel höhere Hektarerträge erzielt. Diese
Bauern leben in absoluter Armut. Wann werden sie ihren Betrieb
aufgeben, nach anderer Arbeit suchen und in ein städtisches
Elendsviertel umziehen? In dem Moment, in dem man mit unqualifizierter
Arbeit in der Stadt mehr verdienen kann. Etwa eine Milliarde hat diesen
Schritt bisher unternommen und lebt in städtischen Slums.
Wir hätten jetzt den Verdienst für unqualifizierte Arbeit in unserer
globalisierten Welt gefunden: Er entspricht einem bäuerlichen
Kleinstbetrieb, ohne Maschinen, mit etwa einem Hektar pro
Beschäftigtem. Würde er längerfristig über diese Marke steigen, werden
so lange zusätzliche Bauern aufgeben und das Arbeitsangebot erhöhen,
bis die Einkommen wieder gefallen sind.
Höher qualifizierte Arbeit (etwa in der Industrie) wird natürlich
besser bezahlt, aber es wird eine gewisse Aufwärtsmobilität der
Arbeitskräfte geben. Der Verdienst eines Industriearbeiters kann sich
nur dann deutlich und dauerhaft von jenem eines armen Bauern abkoppeln,
wenn die einfachen Industriebeschäftigten vor Konkurrenz durch ehemals
bäuerliche Arme geschützt werden (durch Gewerkschaften oder staatliche
Eingriffe, die wir aber zuvor ausgeschlossen haben), oder wenn der
Industriesektor in solcher Geschwindigkeit wächst, dass die Möglichkeit
der nicht Qualifizierten gewisse Basisfähigkeiten zu erwerben
überfordert wird. (Dieser Fall ist gerade in China eingetreten, die
Löhne an der Küste steigen jetzt deutlich – allerdings flüchten die
Betriebe in das Landesinnere oder nach Vietnam). Ein solches Wachstum
wird nicht dauerhaft möglich sein.
Selbiges Modell kann man jetzt für jede weitere Stufe der Qualifikation
annehmen. Geringer Qualifizierte können sich höher qualifizieren und
damit für zusätzliches Angebot auf den jeweiligen Arbeitsmärkten
sorgen. Ein indischer Programmierer verdient weniger, als ein
amerikanischer. Es wäre lächerlich anzunehmen, dass sich der Markt
qualifizierter Arbeitskräfte völlig vom Einkommensniveau der nicht
Qualifizierten abkoppeln kann. Wenn man sich dieses Modell am Beispiel
Indien durchdenkt, dann wird klar, warum Lohnabhängige – auch bei
höherer Qualifikation – so schlecht verdienen. Im Wesentlichen haben
Entwicklungstheorien schon in den 60er und 70er Jahren dieses Modell
für die Erklärung niedriger Einkommen etwa in Lateinamerika verwendet.
Wir gehen einen Schritt weiter zu den global integrierten Märkten für
Industriegüter und handelbare Dienstleistungen (call-center,
Buchhaltung für große Firmen, Softwareentwicklung…): Auch ohne jede
Wanderungsbewegung, nur über die Exportindustrie werden jetzt Preise
international vereinheitlicht, handelbare Güter müssen in China das
gleiche kosten wie in Österreich. Modifiziert um unterschiedliche
Produktivität müssen sich daher auch die Einkommen der Beschäftigten im
Bereich handelbarer Güter angleichen (oder nach unten anpassen) – und
von dort wird das Lohnniveau auf die restliche Wirtschaft weitergegeben
(die nicht handelbare Güter herstellt, etwa Lehrer oder Friseure), da
Lohnunterschiede Beschäftigte dazu bewegen werden sich einen anderen
Job zu suchen. Ein Friseur kann auf Dauer nicht mehr verdienen als ein
Industriearbeiter.
Was ist die Aussage dieses Modells? Was ist der Referenzpunkt auch des
Lohnniveaus eines österreichischen Lehrers bei vollständig integrierten
Märkten? Was ist das unterste Niveau, das ein auf einem völlig freien
Markt ermittelter Lohn annehmen kann? Das ist der ärmste Bauer in
Afrika, der gerade überlegt, ob er nicht doch unqualifizierte Arbeit in
der Stadt annehmen sollte. Das gilt so lange, bis etwa 1,5 Milliarden
Bauern ihre Existenz verloren haben, plus etwa 1 Milliarde Bewohner
städtischer Elendsviertel einen besseren Job gefunden haben.
Die getroffenen Annahmen sind in der Realität nicht zu halten, Märkte
sind nicht völlig integriert. Dagegen stehen nicht nur staatliche
Regelungen, sondern auch andere Hindernisse, wie Transport- oder
Logistikkosten, kulturelle Probleme… Und ein österreichischer Lehrer
verdient mehr als ein Kleinstbauer im Tschad. Das Beispiel zeigt nicht
die Realität, es zeigt die schreckliche Kraft der Globalisierung, es
zeigt den Traum der Oligarchie – denn die niedrigeren Lohnkosten sind
die höheren Profite der Kapitalbesitzer. Ist unser Beispiel vereinbar
mit kapitalistischer Prosperität und Wachstum? Sicher! Wachstum, bei
dem die Inflationsgefahr nur von der Seite der Kapazitäten der
Rohstoffindustrie und der Transportsektoren kommt, nicht von Seiten der
Lohnentwicklung. Und Wachstum, dessen Nachfrageimpulse von der Seite
der Investitionsgüter und dem Luxuskonsum der Oligarchie kommt. Und
seitens der ein oder anderen Kreditblase: die relativ sinkenden
Lohnkosten halten die Inflation niedrig, ermöglichen niedrige Zinsen,
die ein um das andere Mal neue Kreditexpansion anstoßen werden.
Das erinnert an die letzten Jahre: Der Aufschwung, der bei den Menschen
nicht ankommt. Die Inflation, die ihren Ausgangspunkt im Ölpreis
findet, nicht in der steigenden Lohnquote, und die EZB, die vor
„Zweitrundeneffekten“ warnt, die verlangt, dass die höheren
Energiepreise eben ohne Lohnausgleich hingenommen werden. Die
Prosperität der deutschen Maschinenbauer, sowie der Luxuskonzerne – von
Ferrari bis zu den Schweizer Luxusuhren. Und die amerikanische (und
britische) Kreditblase, die durch die niedrigen Zinsen ermöglicht wurde.
Die globalisierte Prosperität der Oligarchie ist störungsanfällig, weil
ein Teil der Gesamtnachfrage von einer ständigen Kreditexpansion
abhängig ist, die immer wieder ins Stocken geraten wird. Die
globalisierte Prosperität ist krisenanfällig, aber möglich. Nur wären
wir gerne nicht dabei.
Der totale Freihandel geht auf Kosten der Lohnabhängigen – die
Interessen der Mehrheit gebieten eine Wirtschaft, in der völliger
Freihandel nur zwischen Ländern von sehr ähnlichem Entwicklungsstand
stattfindet. Statt völlig freiem Handel benötigen wir die freie
Weitergabe von Technologie und Wissen. In der heutigen Form dient das
Patentwesen nur den Monopolen der Großkonzerne. Statt einer
entfesselten Agrarindustrie bedarf es einer Landwirtschaftspolitik, die
sich für die Einkommen und die Entwicklung der Kleinbauern und der
Familienbetriebe einsetzt – in aller Welt. Und statt deregulierter und
globaler Finanzmärkte und zyklischer Spekulationsblasen braucht es ein
staatliches Finanzsystem, das Exzesse verhindert und in Krisenzeiten
die Finanzierung sichert und das durch entsprechende
Kapitalverkehrskontrollen abgesichert werden muss.
Das wäre ein reformistisches Minimalprogramm, die Pläne der Oligarchie
gehen freilich in die andere Richtung: Totaler Freihandel. Mehr
Patentschutz (die USA sind gerade dabei diesen auf 40 Jahre zu
erhöhen). Agrarindustrie als Antwort auf die Ernährungskrise. Offene
Finanzmärkte (im Augenblick wird hier Druck auf China ausgeübt). Diese
Forderungen kommen nicht von ungefähr, sie entsprechen den Interessen
der globalen Oligarchie. Um den oben dargestellten Alptraum zu
verhindern wird man dieser entgegentreten müssen.
Stefan Hirsch