Erklärung der AIK, 20. September 2008
Lateinamerikas politisch-soziale Veränderung zugunsten der armen Mehrheiten über gewählte Linksregierungen steht vor einem Scheideweg: die Eskalation der Gewalt durch die alten Eliten in Boliviens Osten setzt das Kabinett von Evo Morales zunehmend unter Druck. Die Reformenvorhaben sind blockiert und die REgierung kämpft seit Monaten um ihr Überleben. Gleichzeitig wächst das Unverständnis der Massen, deren soziale Lage sich kaum verändert hat, über die unbeantworteten Angriffe auf Gewerkschaften, Bauerngruppen, Regierungsanhänger und öffentliche Institutionen, obwohl „das Volk an der Macht“ ist. Der Ausgang dieses Konflikts wird entscheidend die Machtverhältnisse in Lateinamerika und die Zukunft seiner Linksregierungen beeinflussen.
Eskalationsstrategie
Nach dem Anfangs paralysierenden Schock der alten herrschenden Klassen über die historische Wahl von Evo Morales als Vertreter der Cocalero-Bewegung und erstem indigenen Präsidenten im Dezember 2005, reorganisierten sich diese Zuge der verfassungsgebenden Versammlung ab Juli 2006. Die Strategie der Rechten verband die Eroberung der territorialen Kontrolle in den von ihr verwalteten Provinzen des Ostens (Santa Cruz, Beni, Pando, Tarija, Cochabamba, Chuquisaca) mit der Lähmung der Regierungsinitiativen in der Verfassungsversammlung. Durch die Konzentration der Erdgasvorkommen sowie der fruchtbaren Ländereien im Osten stellt die unter der Losung der „Autonomie“ vorangetriebene Verdrängung der Zentralregierung eine mächtige Waffe der Rechten dar. Nachdem Evo Morales am 10. August in einem Referendum über seinen Verbleib als Präsident des Landes abstimmen ließ – gleichzeitig wurde auch über das Mandat der Provinzgouverneure votiert – und dieses mit 67 % der Stimmen gewann, war für die Rechte klar, dass keine unmittelbare Chance besteht, die Macht auf legalem Weg vor Ablauf der Regierungszeit Morales‘ zurückzuerobern. Die Präfekten wurden auch insofern geschwächt, als sie ihre Vertreter in Cochabamba und La Paz verloren. In Folge eskalierte das ultrarechte Bürgerkomitee von Santa Cruz – die führende Kraft des oppositionellen National Demokratischen Rates (CONALDE) – die Gewalt. In einem regionalen Putsch wurden staatliche Institutionen besetzt und eine brutale Verfolgung gegen Vertreter und Anhänger der Zentralregierung vom Zaun gebrochen. In der Provinz Pando griffen Rechtsradikale mit Unterstützung des Präfekten Leopoldo Fernández eine Bauerndemonstration an und hinterließen fünfzehn Toten und zahlreichen Verletzte. In Tarija wurden Öl- und Gaspipelines gesprengt.
Gelähmte Regierung
Evo Morales sah sich daraufhin gezwungen, in Pando den Ausnahmezustand auszurufen und den Präfekten zu verhaften. Gleichzeitig ordnete er die Ausweisung des US-Botschafters Phillip Goldberg an. Der Kosovo-erfahrene Diplomat gilt als aktiver Förderer der Bürgerkomitees des Ostens. Bedeutet dieser in den internationalen Medien prominent berichtete Schritt des „sozialistischen Präsidenten Evo Morales“ nun eine effektive Antwort auf die Offensive der Oligarchie? Es dürfte eher ein symbolischer Akt denn der Auftakt eines Gegenangriffs sein. Denn gleichzeitig lud Evo Morales die oppositionellen Kräfte zu einem Dialog ein und unterzeichnete am 16. September ein vorläufiges Abkommen mit der CONALDE über die Eröffnung von Verhandlungen in Cochabamba, in denen unter anderem über die neue Verfassung, die Provinzautonomie und die Verfügungsgewalt über die natürlichen Ressourcen diskutiert werden soll. Die Chancen auf eine Übereinkunft sind jedoch minimal. Die Präfekten fordern von der Regierung nichts anderes als die Legalisierung der mit Gewalt von ihnen geschaffenen wirtschaftlichen, institutionellen und politischen Abkoppelung ihre Provinzen von der Zentralregierung.
Warum also die Verhandlungen? Sie spiegeln ein prekäres Kräftegleichgewicht wieder, in dem jedoch die Initiative auf Seiten der Rechten liegt. Der Sieg von Evo Morales, der selbst in den oppositionellen Provinzen etwa 40 % der Wähler hinter sich weiß und die, wenn auch unsichere, Loyalität der Streitkräfte, die nach Erklärung des Ausnahmezustandes in Pando die Kontrolle der Regierung wieder herstellten, zeigen der Opposition, dass sie unmittelbar keinen Bürgerkrieg vom Zaun brechen kann. Eine derartige Eskalation würde und könnte wohl auch von den USA derzeit nicht unterstützt werden, wohl wissend, dass die übergroße Mehrheit der lateinamerikanischen Regierungen die „Legalität“ in Bolivien verteidigt. Evo Morales wiederum steht vor dem Dilemma, dass die versprochenen strukturellen Veränderungen seiner „demokratischen und kulturellen Revolution“ blockiert sind. Bis auf die Erhöhung der staatlichen Gewinnbeteiligung an der Erdgasförderung durch eine Neugestaltung der Verträge mit den transnationalen Unternehmen – der so genannten Nationalisierung vom Mai 2006 – konnte die MAS-Regierung keine wesentliche wirtschaftliche Veränderung durchsetzen. Zwar brachte ihr diese Maßnahme eine substantielle Erhöhung der staatlichen Einkünfte. Doch gleichzeitig ging der Rohstoffpreis-Boom einher mit einer rasanten Steigerung der Preise für Güter des täglichen Bedarfs, vor allem der Lebensmittel, die die erhöhten Mindestlöhne und staatlichen Unterstützungen aufressen. Eine Agrarreform, die die Verteilung der produktiven Länder im Osten einbeziehen würde ist in der gegenwärtigen Kräftekonstellation undenkbar. Selbst die politisch-institutionellen Veränderungen sind jenseits einiger indigener und antiimperialistischer Symbolik mehr als dürftig. Weder in der verfassungsgebenden Versammlung noch im Kabinett der MAS sind Vertreter der sozialen Bewegungen und selbst Angehörige der indigenen Mehrheit kaum vertreten. Neben Evo Morales ist einzig der Außenminister David Choquehuanca Aymara. Die Regierungsmannschaft rekrutiert sich indes mehrheitlich aus Mittelschichtangehörigen mit NGO-Hintergrund, die in dem ärmsten Land Südamerikas immer einen fruchtbaren Boden hatten.
Klasse gegen Klasse
Bolivien hat aus seiner politischen Geschichte sowie aus der bitteren Armut seines Volkes eine Vielzahl radikaler Volksorganisationen. Die Minenarbeitergewerkschaft FSTMB, die indigenen Bauerngewerkschaften der CSUTCB von Felipe Quispe oder die Gruppen aus El Alto, einstiger Vorort von La Paz und von der Migration aus den ländlichen Aymara-Gebieten zur Millionenstadt angewachsen, stellen einen organisierten Pol dar, der einem zu weitgehendem Kompromiss von links einen Riegel vorschiebt. Evo Morales ist zweifellos eine Integrationsfigur und der Grund für die noch bestehende Loyalität der Massen, vor allem in den ländlichen Gebieten, zur MAS-Regierung. Doch diese Loyalität hat ihre Grenzen. Nicht nur das Ausbleiben spürbarer Verbesserungen heizt die soziale Unzufriedenheit an, wie sie der de facto gegen die Regierung gerichtet Streik der Gewerkschaftszentrale COB für ein Pensionsgesetz im Juni zum Ausdruck brachte. Vor allem die ständigen und straflosen Provokationen und Angriffe auf Regierungsanhänger im Osten ohne entschlossene Reaktion der Regierung unterminiert die Glaubwürdigkeit der MAS. Waren die revolutionär-linken Bewegungen, die im Oktober 2003 mit dem Sturz des Präsidenten Sanchez de Lozada den Grundstein des Veränderungsprozesses legten, durch den Wahlsieg von Evo Morales ihrer führenden Rolle in der Volksbewegung vorübergehend beraubt und nicht in der Lage, eine Radikalisierung des Prozesses durchzusetzen, so kann die gegenwärtige Situation, in der die MAS auf einen Kompromiss mit der Rechten zum Erhalt ihrer Regierung setzt, den radikalen Kräften ihre Führerschaft auf der Straße wieder zurückgeben.
Neben der im Vergleich zu vielen außerparlamentarischen sozialen Bewegungen geringeren organischen Verbindung der MAS mit den verarmten Volksmassen, hat die Regierungsübernahme die Partei auch klassenmäßig nach „rechts“ verschoben, indem sie die Rolle der städtischen Mittelschichtkader gegenüber der bäuerlich-indigenen Basis stärkte. In einem Land, das durch seine extreme Klassenpolarisierung gekennzeichnet ist, führt dies rasch zu einer Entfremdung auch der politischen Perspektiven. Die Welt der fortschrittlichen Mittelschicht der Regierungsbeamten hat nicht nur sozial, sondern auch politisch-kulturell keinerlei Gemeinsamkeiten mit der Welt des ständigen Überlebenskampfes der Bergarbeiter, Hochlandbauern oder städtischen Armut. Die Radikalität der Kampfformen in Bolivien aber auch die manchmal ultralinks erscheinenden Forderungen der Volksbewegungen sind Ausdruck einer Situation, in der Hunderttausende Menschen tatsächlich immer noch „nichts zu verlieren haben als ihre Ketten“. Der Mittelschicht ist diese kompromisslose Welt fremd. Angesichts der gegenwärtigen Polarisierung von rechts ist ein möglicher Bürgerkrieg mit den Oligarchen des Ostens für einen im ständigen sozialen Krieg um das tägliche Brot lebenden Bergarbeiter eine durchaus akzeptable Aussicht. Dagegen ist sie für einen Repräsentanten der Mittelschicht Angst einflößend, schlimmer sogar als der Verzicht auf die hehren Ziele der friedlichen „demokratischen und kulturellen Revolution“ zugunsten eines Stabilitätspaktes mit der Rechtsopposition. Alles nur kein offener Krieg der Klassen.
Und hier findet sich die Mehrheit des Regierungsapparates von Evo Morales in einer ungewollten Übereinstimmung mit den USA und den transnationalen Kapitalsgruppen mit Interessen in Bolivien, deren strategisches Ziel eben auch die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, eines „investitionsfreundlichen“ Klimas ist, das durchaus mit einigen sozialen Reformen zugunsten der Armen leben kann, nicht jedoch mit der Stimme aus der Welt der Bergarbeiter oder armen Bauern am Verhandlungstisch. Für den Imperialismus ist eine Selbstbefriedung von Evo Morales über einen Kompromiss mit der Oligarchie des Ostens ein unvergleichlich größerer Sieg als ein brutaler Bürgerkrieg mit hunderten Toten und ein offen pro-imperialistisches Gewaltregime der Oligarchen und Grundbesitzer des Ostens. Denn ein Kompromiss gegen den Extremismus, eine politisch-soziale Befriedung zugunsten eines wenig reformierten Status Quo, der mit einer Zentralfigur des Wandels in Lateinamerika wie Evo Morales ausgehandelt wurde, wäre ein wesentlich wirkungsvollerer Schlag gegen den Linkstrend des Kontinents als eine Beseitigung der MAS-Regierung unter den Bajonetten der alten Reaktionäre.
Zeitenwechsel
So wie die dogmatische Realitätsverweigerung anzuklagen war, die gegenüber den Wahlerfolgen der lateinamerikanischen Linken auf der Ausschließlichkeit des bewaffneten Kampfes als Form der Revolution beharrten, so gilt selbiges für jene, die mit den Wahlsiegen bereits die wesentliche Etappe der Veränderung erfüllt sehen. Die Überwindung der imperialistischen Abhängigkeit und der kapitalistisch-neoliberalen Unter- und Fehlentwicklung der lateinamerikanischen Nationen – die, wie der peruanische Marxist Mariategui bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts unterstrichen hatte, nur gemeinsam erreicht werden können – sind ein längerer Prozess, in dem die Kampfformen sich immer wieder verändern werden. Entscheidend ist, eine größtmögliche Stärkung der revolutionären Volkskräfte aus den wechselnden Momenten mitzunehmen. Die bolivianische Situation ist von diesem Standpunkt her auf einem Scheidepunkt. Denn der Sieg von Evo Morales hat die arme Mehrheit zwar in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt. Doch dieses neue Selbstbewusstsein des Volkes hat keine entsprechende Selbstorganisation bekommen – wie sie 1972 unter der Linksregierung von General Torres in Form der „Asamblea Popular“ entstanden war -, geschweige denn eine Übernahme der staatlichen Entscheidungsgewalt. Unter dem gegenwärtigen konterrevolutionären Ansturm der alten Eliten kann das Volk in Verteidigung „seiner Regierung“ vielleicht diesen Sprung zum eigenständigen politischen Protagonisten der weiteren Entwicklung noch machen. Doch genauso kann die Regierung, von der Angst des Bürgerkrieges getrieben, auf die Demobilisierung hinwirken, die radikalen Kräfte zurückdrängen (was leider im August 2008 während einer Straßenblockade von Bergarbeitern in Oruro auch bereits mit Polizeigewalt passierte) und das Volk wieder in Enttäuschung und Lethargie zurückwerfen, angesichts der mit Zutun der eigenen verbündeten gescheiterten Hoffnungen.
Die Verteidigung der antiimperialistischen Regierung Evo Morales in Bolivien wird in der nächsten Periode die Achillesferse des Kampfes in Lateinamerika, insbesondere für die Zukunft der Linksregierungen in Venezuela, Ekuador und Paraguay. Aber diese Verteidigung hängt im Sinne Mariateguis immer deutlicher von der regierungs-unabhängigen Kraft der revolutionär-antikapitalistischen Volksorganisationen ab. Und auch deren, hoffentlich machtvolle und erfolgreiche, Rückkehr an die Spitze des Kampfes um nationale und soziale Befreiung wie im Oktober 2003 würde die lateinamerikanische Konjunktur in eine neue, post-elektorale Etappe bringen.