Thesen zur Finanzkrise
1. Die Finanzkrise ist in den letzten Wochen außer Kontrolle geraten. Zentrales Indiz ist das Anziehen des Dollarkurses: Hat der Dollar in den letzten Jahren auf Grund der Schwierigkeiten der US-Wirtschaft laufend abgewertet, schießt er im Augenblick in die Höhe: Eine Flucht aus jedem Risiko in Richtung halbwegs sicherer amerikanische Staatsanleihen hat eingesetzt. Die totale Panik.
Die individualistische Marktwirtschaft funktioniert aber nicht, wenn niemand mehr Risiko eingehen möchte: Der Markt für Unternehmensanleihen ist praktisch zusammengebrochen. Die Geldmärkte der „Schwellenländer“ sind komplett ausgetrocknet, die Kapitalflucht lässt von der Ukraine bis nach Brasilien die Währungen verfallen. Die Kreditexzesse der letzten Jahre sollen alle auf einmal zurückgenommen werden – nur: wenn alle auf einmal ihr Geld zurück wollen, dann bekommt keiner was, weil Zahlungsunfähigkeit eintritt. Wenn ein Unternehmen kein frisches Geld erhält, zu dem Zeitpunkt, zu dem die alten Kredite auslaufen, dann ist es kaputt und kann gar nicht mehr zahlen. Willkommen in der Schuldendeflation, willkommen in der Katastrophe der globalen Marktwirtschaft: Jeder versucht verzweifelt, Schulden abzubauen – individuell vernünftig, kollektiv zum Scheitern verurteilt.
Wir können uns also nach den US-amerikanischen Hypothekardarlehen auf weitere Wellen der Kreditausfälle gefasst machen: osteuropäische Staatanleihen, südamerikanische Privatkredite, Unternehmenszusammenbrüche … Wenn sich die Finanzkrise in diesem Tempo weiter zuspitzt, ist auch ein Auseinenderbrechen der Eurozone nicht ausgeschlossen. Wegen Staatsbankrott am Mittelmeer, oder sogar in Österreich.
Zeit, sich an Karl Marx zu erinnern: Der Widerspruch zwischen globaler, kollektiver Produktion und privater, individueller Aneignung wird kaum jemals so deutlich wie in einer Kreditpanik.
2. Angela Merkel hatte gemeint, die Kreditkrise könne Deutschland nichts anhaben, die tollen Strukturreformen der letzten Jahre hätten es immunisiert. Die österreichische Bundesregierung war der Überzeugung, dass Österreich nichts passieren kann – „unsere“ Banken seien sehr vorsichtig gewesen und am amerikanischen Hypothekenmarkt kaum engagiert, weil sie so damit beschäftigt waren, in Osteuropa Geld zu verdienen.
Beruhigend: Die deutsche Industrie hat die Schwerpunkte Maschinenbau und Automobil – äußerst günstig in einer globalen Rezession, wo langlebige Konsumgüter wie Autos kaum gekauft werden (weil keiner so viel ausgeben mag) und Maschinen gar nicht (weil man nicht investieren muss, wenn die Nachfrage nachlässt). Und die vorsichtigen österreichischen Banken haben bei ihren imperialistischen Osteuropa-Abenteuern knapp Hundert Milliarden Kredite vergeben – in Länder, die wegen hoher Leistungsbilanzdefizite jährlich zwischen 5 und 20 Prozent des BIP an neuen Krediten benötigen und wegen der Finanzkrise keine mehr bekommen (weswegen dann die Währung verfällt und die Zahlungsunfähigkeit droht – siehe Ungarn). Man kann davon ausgehen, dass in so mancher österreichischen Bankenführung die große Reue auftritt: Hätte man doch bei amerikanischen Subprime-Krediten beherzt zugegriffen, da bekommt man wahrscheinlich noch 40 Prozent zurück, aus Island gibt es nur mehr 10 Cent für den Euro. Und man kann davon ausgehen, dass sich die Manager aus dem Staub machen werden und die Allgemeinheit ihre Schulden bezahlt (oder auch nicht bezahlt).
3. Wahrscheinlichkeiten: Offen gesagt, wir haben eine solche Entwicklung für wenig wahrscheinlich gehalten (wenn auch für möglich). Wir haben geglaubt, dass die Elemente kapitalistischer Stabilität (die auch heute noch vorhanden sind) eine solche Panik verhindern würden. Die Wahrscheinlichkeiten haben gedreht. Kann sein, dass ein globaler Kraftakt der imperialen Eliten den Kreditkreislauf wieder in Schwung bringt und die vorhandenen weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte halbwegs geordnet abgewickelt werden. Aber es ist tatsächlich gut möglich, dass der ganze Laden auseinander fliegt. Abgesehen davon, dass für die Mehrheit der Menschheit der vorherige Zustand schon unerträglich war und eine Rückkehr zum Status quo daher kaum eine Erlösung darstellt. Kurz gesagt: Es ist Zeit, den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung aus der Welt zu schaffen.
Natürlich sind auch die kapitalistischen Eliten bemüht, die Krise zu bewältigen und ihr System zu stabilisieren. Sie verwerfen dabei die geheiligsten Dogmen ihrer wirtschaftliberalen Religion, nach der der Staat in das freie Spiel der Märkte nicht eingreifen dürfe. De facto meinen sie damit, dass der Staat nicht ausgleichend, die soziale Ungleichheit eindämmend, wirken dürfe. Zur Rettung der Oligarchie darf er aber sehr wohl eingreifen und Billionen dem Großkapital in den Rachen werfen. Für diverse Sozialleistungen im Promillebereich dieser Summen hieß es und heißt es weiterhin es gäbe kein Geld. Der Staat rettet die Spekulanten und wir zahlen mit Sparpaketen und Massenarbeitslosigkeit.
Die globale Oligarchie versucht also mit Hilfe der öffentlichen Verschuldung die Liquidität der Kreditmärkte wiederherzustellen, die großen Unternehmen zahlungsfähig zu halten und die zusammenbrechende Nachfrage abzufangen. Dafür zahlen müssen die Unter- und Mittelklassen und insbesondere die Länder der kapitalistischen Peripherie. Wie man am Beispiel Ungarns sieht, wird dort mit vom IWF diktierten hohen Zinsen die kapitalistische Wirtschaft erdrosselt und gleichzeitig die bekannten Austeritätsprogramme verordnet. Schluss mit Ostfantasien. Doch die Rezension wird auch so nicht aufzuhalten sein.
Die USA könnten als übernächsten Schritt die Entwertung des Dollars und damit auch ihrer Schulden auf Kosten des Rests der Welt betreiben. Doch mit dem möglichen Ende der Politik der Geldwertstabilität wäre auch das Modell des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, auch Neoliberalismus genannt, am Ende – nur um etwas schlimmerem Platz zu machen.
Was ist die Alternative? Tatsächlich bedarf es des massiven Eingreifens des Staates, aber genau in die entgegengesetzte Richtung, nämlich zugunsten der Unter- und Mittelklassen und vor allem der Massen der Dritten Welt. Die Banken, die großen Industrien, der Transport, die Handelsoligopole müssen unter Kontrolle genommen werden. So könnte der Kreditfluss unmittelbar wieder in Gang gesetzt und die Spirale des kapitalistischen Abschwungs unterbrochen, aber nicht mehr im Interesse des Profits der kapitalistischen Oligarchie, sondern zunehmend überzuordnenden Interessen der globalen Mehrheit folgend. Der Staat muss im Sinne dieser Mehrheit die Wirtschaft lenken, dass heißt Investitionen als auch Verteilung politisch bestimmen.
Bei den vorgeschlagenen Maßnahmen handelt es sich um ein Programm der akuten Notwehr, das noch keine Festlegung auf ein alternatives Gesellschaftsmodell darstellt. Es zeigt lediglich eine Bewegungsrichtung an. So schlagen wir keineswegs die Rückkehr zum gescheiterten Modell des realen Sozialismus vor. Staatliche Kontrolle des zentralen Wirtschaftsapparates heißt noch keineswegs automatisch bürokratisch-zentralistische Planwirtschaft. Aber es heißt, dass jene, die den Reichtum schaffen auch über ihn verfügen sollen – und nicht eine winzige elitäre Oligarchie sich diesen Reichtum aneignet mit dem Verweis, dass der blinde Markt letztlich die Allgemeininteressen am besten bediene. Wir sind der Ansicht, dass die Demokratie nur als soziale Demokratie möglich ist, dass heißt die Menschen ihr Leben und damit auch ihr Wirtschaften unter Erhalt größtmöglicher Diversität selbst gestalten. Wie das im Detail funktionieren kann, ist angesichts der historischen Erfahrungen neu zu entwickeln.
Nur mit einem solchen massiven Eingriff in die Weltwirtschaft kann der Lebensstandard der großen Mehrheit der Weltbevölkerung gehoben und jener der westlichen Mittelschichten zumindest teilweise gehalten werden.
Solche Maßnahmen sind mit dem Staat, wie er heute mit der kapitalistischen Oligarchie verschmolzen ist, nicht durchführbar. Dazu müssen die Eliten vom Thron gestürzt werden und ein neuer Staat, gestützt auf die aktive Organisation und Beteiligung der Volksmassen gebildet werden. Demokratie von unten ist die wichtigste Voraussetzung dafür, nach der Zerschlagung der Elitendiktatur eine Gesellschaftsordnung jenseits des Kapitalismus dauerhaft zu stabilisieren.
31.Oktober 2008
AIK