von Initiativ e.V., 10. Dezember 2008
Die Aufstände in Griechenland sind nicht einzig auf die Ermordung von Alexis Grigoropoulos zurückzuführen. Was viele Kommentatoren nicht verstehen bzw. nicht eingestehen, ist, dass sich die massiven Proteste
gegen das griechische System des Neoliberalismus an sich richten. 2,5 Millionen der Lohnabhängigen (das entspricht einer Quote von über 50 %) müssen mit dem Mindestlohn von 704 Euro im Monat zurechtkommen. Die Verschuldung der privaten Haushalte hat sich in den letzten sieben Jahren von 17 auf 93 Milliarden Euro mehr als verfünffacht. Extrem hoch ist die Arbeitslosenquote der unter 25-Jährigen (21,8 Prozent) und der
Frauen (12,2 Prozent). Im europäischen Vergleich ist die Arbeitslosenquote dieser beiden Bevölkerungsgruppen in Griechenland die höchste innerhalb der EU.(1) Im März 2008 hat die Regierung mehrere Generalstreiks ignoriert und eine antisoziale Rentenreform beschlossen, die eine Erhöhung des
Eintrittsalters bei gleichzeitiger Verringerung der Bezüge zur Folge hat. Frauen werden in bestimmten Fällen fünf Jahre länger arbeiten müssen, bis sie das Renteneintrittsalter erreichen (2). Neben ihrer Umverteilungspolitik strebt die Athener Regierung großangelegte Privatisierungsmaßnahmen an. So ist geplant, den halbstaatlichen Energiekonzern DIE, der 90 % des in Griechenland verbrauchten Stroms erzeugt, an den deutschen Energieriesen RWE zu verscherbeln. Die Häfen Piräus und Thessaloniki, noch zu 75 % in Staatsbesitz, sollen ebenfalls an ausländische Kartelle verkauft werden.Auch die weltweite Finanzkrise ist nicht spurlos an Griechenland vorbeigegangen. Die Banken haben alle neue Darlehen und Dispokredite eingefroren und eine drastische Zinserhöhung durchgeführt, die den Menschen die Luft abschneidet. Die Regierung schaut dabei tatenlos zu. Ihre jüngst beschlossene Finanzspritze (Volumen 28 Milliarden Euro) ist mit keinen ernsthaften Auflagen für die Banken verbunden.
Kontinuität der Ausbeutung
Zwar richtet sich die Aufstandswelle in Griechenland gegen die amtierende konservative Regierung, doch zugleich hat sie auch einen antisystemischen Kern. Fast niemand gibt sich noch irgendwelchen Illusionen hin, dass eine sozialdemokratische Regierung eine wirkliche Alternative wäre. Die Menschen haben nicht vergessen, dass die bis 2004 regierende sozialdemokratische PASOK die Teil- und Komplett-Privatisierung staatlicher Unternehmen eingeleitet hat. Um die Staatsbetriebe zu „flexibilisieren“, übernahm die PASOK die jeweils liberalsten Konzepte, die sie weltweit finden konnte: Aus Holland wurden die Teilzeitarbeit, aus den USA das Modell individueller statt kollektiver Arbeitsverträge und aus Großbritannien der „flexible Acht-Stunden-Tag“ übernommen, aus dem man in Griechenland aber gleich einen Neun-Stunden-Tag machte. Die wöchentliche Arbeitszeit kann seitdem bis zu 48 Stunden betragen. Auch außenpolitisch gibt es eine parteiübergreifende Kontinuität, die sich in einem klaren Bekenntnis zu EU und NATO äußert, entgegen des teils massiven Widerstands der Bevölkerung. 1999 stimmte die PASOK-Regierung — trotz verbalen Jammerns — dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu, 2001 votierte sie für die EU-Terrorliste. Die konservative Regierung hat 2008 gleich zwei Mal ihren proamerikanischen Standpunkt unterstrichen: Beim rumänischen NATO-Gipfel im April 2008 wurde der Aufbau eines Systems zur Abwehr von Kurzstreckenwaffen „aus Ländern des Nahen Ostens“ beschlossen, das neben Griechenland, Rumänien und Bulgarien auch die Türkei umfassen soll (3). Im Juni 2008 fand ein israelisch-griechisches Luftmanöver statt, an dem mehr als hundert Kampfflugzeuge der US-amerikanischen Typen F-15 und F-16 beteiligt waren.
1941 bis 2008: Eine Widerstandsgeschichte
Das politische und geografische Zentrum der Revolte ist der Athener Stadtteil Exarcheia, der heute von Organisationen wie der AK (Antiexousiastiki Kinisi – Antiautoritäre Bewegung) dominiert wird. Exarcheia ist ein historisches Symbol des Widerstands. Von dort aus wurde im November 1973 die Militärdiktatur mit massiven Protesten herausgefordert und die Niederlage der Obristen eingeleitet — was unter den Studenten einen hohen Blutzoll einforderte. Bereits im zweiten Weltkrieg war Exarcheia ein Zentrum des Widerstands,
damals gegen die Nazi-Besatzung (1941-1944). Auf dem zwischen Exarcheia und Gyzi, einem angrenzenden Viertel, gelegenen Boulevard Alexandras liefen die deutschen Militärlastwagen ständig Gefahr, in Hinterhalte der Guerilla zu geraten. Nach der Befreiung Griechenlands folgte der Bürgerkrieg (1944-1949). Exarcheia war eines der Lagezentren der Volksbefreiungsarmee (ELAS), wo etwa Grigoris Farakos, später Generalsekretär der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), als einer der ELAS-Befehlshaber residierte. Es gilt als sicher, dass ohne die massiven Interventionen von Briten und Amerikanern die Kommunisten den griechischen Bürgerkrieg gewonnen hätten. Die heutige KKE knüpft jedoch nicht mehr an die kämpferischen
Traditionen der Vergangenheit an. Aleka Papariga, seit 17 Jahren Generalsekretärin, hat sich am 8. Dezember 2008 von Militanten distanziert und „Selbstjustiz“ und „blinde Gewalt“ verurteilt (4). Man fragt sich, welcher Teufel die KKE reitet, ausgerechnet in diesem Augenblick lautstark die Klasse definieren zu müssen und eine Trennlinie zwischen organisierter Revolte und der antisystemischen Grundstimmung in der Bevölkerung aufzubauen. Diese Keileintreibung wird vornehmlich von den Systemparteien begrüßt und dürfte der KKE in Zukunft teuer zu stehen kommen.
Die griechische Rebellion ist imponierend und zweifelsohne von internationaler Bedeutung. Weltweit wird wahrgenommen, dass sich auch in den kapitalistischen Zentren Widerstand gegen die herrschende Weltordnung regen kann. Dabei handelt es sich um keinen punktuellen Widerstand à la Seattle, Genua oder Heiligendamm. Die griechische Jugend ist landesweit aufgestanden und genießt die Sympathie erheblicher Teile der Bevölkerung. Die Eliten sind ratlos und verunsichert wie seit Jahrzenten nicht mehr. Wir sprechen der griechischen Bewegung unsere Bewunderung aus und hoffen auf Nachahmer, in Europa, in der Welt.
Unterstützen wir alle die Rebellion gegen die internationale Oligarchie! In Gedenken an Alexi.
Initiativ e.V.
10. Dezember 2008
1http://www.ba-auslandsvermittlung.de/lang_de/nn_6888/DE/LaenderEU/Griechenland/Arbeiten/arbeiten-knoten.html__nnn=true#doc6892bodyText1
2 http://www.jungewelt.de/2008/02-14/018.php?sstr=griechenland
3 http://www.jungewelt.de/2008/04-21/017.php?sstr=griechenland
4 http://www.kke.gr/arcti.php?myid=854