Die Krise als Chance, aus Intifada Nr. 27
Über Jahrzehnte erklärten uns die Prediger des Marktes, dass das Eingreifen des Staates dem Gemeinwohl abträglich sei. Nun holen sie sich von demselben Staat Milliarden – selbstverständlich abermals im Dienste der Allgemeinheit. Tatsächlich ist es schlüssig, dass die Krise des Kapitalismus nur durch massive staatliche Unterstützung des Kapitals überwunden werden kann. Selbst die historische Linke ist daher geneigt, angesichts des zu erwartenden sozialen Niedergangs der Subalternen, den Krisenpaketen mehr oder weniger zähneknirschend zuzustimmen. Gibt es denn wirklich keine Alternative?
Ende des Casino-Kapitalismus
Die Expansion des globalen Kapitalismus nach 1989/91 war eine der längsten Aufstiegsphasen des Kapitalismus überhaupt. Seine politische Sogwirkung versetzte der darniederliegenden Arbeiterbewegung nicht nur den letzten Stoß, sondern ließ neben sich auch keinerlei ideologischen Platz für eine Alternative. Nur an der Peripherie überlebte der Widerstand, der dennoch über ein Jahrzehnt brauchte, um sich wieder als Massenbewegungen zu formieren – zudem in einer partikularistisch-kulturalistischen Form.
Im Westen blieb es im Wesentlichen ruhig, so ruhig wie kaum jemals zuvor seit Entstehung des Kapitalismus. Die „freie Marktwirtschaft“ versprach in beispielloser Weise Reichtum ohne Arbeit. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es noch die kleine Elite der verpönten Couponschneider an der Börse gewesen, die von Kapitalrenditen zu leben vermochte. Niemand hatte sie in ihrer Dekadenz besser dargestellt als der Karikaturist George Grosz. Doch die liberale Spaßgesellschaft entkleidete den Kapitalertrag und die Spekulation ihrer Anrüchigkeit. Sie wurden dem breiten Mittelstand zum festen Stand- oder zumindest Spielbein und mittels der Pensionsfonds selbst den Arbeitern verkauft. Die dominanten Mittelschichten des Westens und vor allem der USA verfielen in einen nicht enden wollenden Konsumrausch, während bedeutende Teile der kapitalistischen Peripherie ihre Hoffnung darauf setzten, die dazu notwendigen Waren produzieren zu können (Phänomen China). Der Milliarden zählende Rest durfte getrost mit dem Hinweis krepieren, dass der Freihandel sie nach einer gewissen Zeit schon mit hinauf zöge.
Die Blase ist unerwartet geplatzt. Ungläubig muss man feststellen, dass der Drogenrausch wider allen Versprechungen weder gratis noch frei von Nebenwirkungen ist. Die alte Regel, dass der Kater auf den Fuß folgt, erweist sich als stärker als der Glaube an den heilsbringenden Endsieg des Kapitalismus. Noch schwadronieren diverse Zweckoptimisten, Analysten und Propagandisten von einer vorübergehenden Anpassung und anschließenden baldigen Erholung, doch ihre Argumente wirken schal. Sie zehren vom politischen Kredit des vergangenen Booms. Selbst die Eliten vermögen ihre Skepsis nicht mehr zu verbergen und getrauen sich einen historisch tiefen Fall nicht mehr auszuschließen. Welch Katzenjammer nach nicht einmal zwanzig Jahren des Endes der Geschichte.
Es ist nicht nur so, dass die als überwunden deklarierte Zyklizität des Kapitalismus wieder einmal zuschlägt. In der zyklischen Abwärtsbewegung drückt sich auch ein altes strukturelles Problem des Kapitalismus aus, wie es die marxistische Bewegung immer wieder konstatiert hat. Der zur Aufrechterhaltung der Entwicklungsdynamik notwendige Konsum hält mit der Ausweitung der Produktivkapazitäten nicht Schritt. Oder anders gesagt, die systemimmanente Konzentration des Reichtums erdrosselt den Massenkonsum. Es bestätigt sich an der Realität, was der sozialistischen Opposition seit Einsatz des Kapitalismus über weite Strecken Gewissheit war. Der Kapitalismus schafft keine homogene Entwicklung sondern verschärft Ungleichheiten und Widersprüche, die letztlich nur in kriegerischen Katastrophen aufgelöst werden können.
Aber so weit ist das Massenbewusstsein noch nicht. Noch stehen wir am Anfang der Krise und man wartet die Wirkung der Krisenpakete ab. Greifen sie nicht – eine Annahme, für die es starke Indizien gibt -, dann könnte die jahrzehntelange politische Stabilität der kapitalistischen Zentren brüchig werden.
Rettungspakete ablehnen!
Schlägt die Krise in aller Härte zu, dann sind die Opfer die Unter- und Mittelschichten. Die Eliten werden alles daran setzen, die Krise auf dem Rücken der Mehrheit zu lösen. Das ist nicht nur Bösartigkeit, es folgt der inneren Logik des Systems. Es gibt genügend historische Präzedenzfälle, die das zu belegen vermögen.
Unsere Aufgabe besteht darin, genau diese Krisenlösung auf dem Rücken der Mehrheit zu verhindern, dagegen anzukämpfen. Dabei stößt man aber auf Schritt und Tritt gegen die Logik des Systems. Um den wirtschaftlichen Zyklus wieder in Gang zu setzen, braucht das Kapital zusätzliche Mittel, die es vom Staat fordert, der es wiederum von der Mittel- und Unterschicht nimmt, nur von dort nehmen kann. Mag das Kapital staatliche Programme zur Förderung des Konsums mittels Staatsschuld heute noch befürworten, so führen letztlich alle Maßnahmen zur Umverteilung zugunsten des Kapitals (wenn auch zeitversetzt) zur Kontraktion des Massenkonsums. Denn die Schulden müssen bedient und schließlich auch getilgt werden. So verschieden die Rezepte dafür sein mögen, alle bedeuten sie letztlich Schweiß und Tränen für die Subalternen.
Wir müssen den Mut haben, nein zu sagen. Keine Geschenke an die Eliten, die die volle Verantwortung für die Krise tragen! Die Botschaft muss sein: Wenn die Oligarchie nicht fähig ist, die Krise im Interesse der Mehrheit zu lösen, dann muss sie die Zügel abgeben. Die einzige Lösung liegt im Bruch mit der Logik des Kapitals. Rettungspakete ja, aber die Verfügungsgewalt über Finanz- und Industriekapital muss jenen übertragen werden, die dieses erhalten, nämlich die arbeitende Mehrheit.
Interessen der Mehrheit?
Zugegebenermaßen gibt es ein Problem mit dem Begriff „Interessen der Mehrheit“, der bereits eine bewusste Abschlankung zu prätentiösen Kategorien wie „Arbeiterklasse“ darstellt, denn es gibt eine sehr starke Strömung, die die Interessen der Mehrheit in der Verwirklichung des Konsum- und Lebensmodells der US-Mittelschicht sieht. Aber dazu sagen wir nein! Das sind nicht die Interessen, für die wir kämpfen. Die Krise muss auch dazu genutzt werden nicht nur die Unmöglichkeit dieses Modells zu zeigen, sondern auch mit der Idiotie des Konsumismus zu brechen. Denn Herz jedes gerechten Systems ist der soziale Ausgleich nicht nur innerhalb einer Nation, sondern vor allem zwischen Zentrum und Peripherie, der vom Westen jedenfalls Einschränkungen fordert.
Wir müssen die Krise als Chance nutzen, denn eines ist klar: Ohne eine alles erschütternde Krise kann das herrschende System des kapitalistischen Imperialismus nicht gestürzt werden. Da geht es nicht nur um die Erschütterung der Macht der Oligarchie, sondern vor allem auch um die Transformation der Interessen der Mehrheit. Marx fasste das in der Idee zusammen, dass die Revolution nicht nur zum Sturz der herrschenden Klasse diene, sondern auch zur Befähigung der unterdrückten Klasse, sich zur Herrschaft aufzuschwingen. Man muss die Krise als notwendige Katharsis verstehen und die in ihr liegenden politischen Chancen zur Vorbereitung einer emanzipierten Gesellschaft nutzen.
Ultima ratio Neokeynesianismus?
Wie reagieren nun die Eliten? Urplötzlich handeln sie ihrer eigenen marktradikalen Ideologie zuwider, schwadronieren von der sozialen Marktwirtschaft und genieren sich dabei nicht, hunderte wenn nicht tausende Milliarden an Geschenken vom Staat einzustreifen. Diese sogenannten Hilfspakete werden natürlich im Namen des Gemeinwohls in Anspruch genommen, während zuvor Bruchteile von Milliarden für Sozialausgaben für die Unter- und Mittelschichten als ruinös etc. wütend bekämpft wurden.
Das bestätigt ein weiteres Mal unsere Einschätzung, dass es bei der Marktreligion nicht darum ging den Staat an sich zu schwächen, sondern nur jeglicher Form des sozialen Ausgleichs einen Riegel vorzuschieben. Wenn behauptet wurde, die globalisierte Ökonomie sei zum Selbstläufer geworden, die der Staat nicht zähmen könne, so war das nur Teil der Wahrheit, vielmehr im Kern eine Lüge. Tatsächlich wurden die kleinen Staaten und vor allem jene der Peripherie vom Zentrum entmachtet, aber das Zentrum, allen voran die USA und ihr globales Bündnissystem, behielt die Zügel fest im Griff. Allein der permanente Präventivkrieg der USA nach 9/11 sollte das belegt haben.
Die Milliardenhilfen an die Oligarchie, das massive Eingreifen des Staates kann man im Sinne des Kapitalismus als durchaus vernünftig bezeichnen. Es gibt allerdings ein ideologisches Problem, nämlich die Abruptheit der Kehrtwende. Diese eröffnet die Chance, die Verlogenheit der Eliten zu zeigen. Zudem drängt sich die Frage auf: Wenn nun politisch-staatliches Eingreifen wieder möglich wird, warum darf das dann nur im Sinne des Kapitals geschehen? Der Nebelwerfer „Sachzwang Markt“ verliert seine Kraft.
Indes können sich die Reste der historischen Linken – sowohl in ihrer institutionellen als auch in ihrer außerparlamentarischen Form – bestätigt fühlen. Seit Jahrzehnten predigen sie die Rückkehr zum Keynesianismus. Der einzige Unterschied zum Mainstream besteht daran, dass sie einfordern, dass nicht nur das Kapital Geschenke erhält, sondern dass auch die Massenkaufkraft gestärkt wird – was von den Eliten in der gegenwärtigen Phase nicht grundsätzlich abgelehnt wird. Es geht im Wesentlichen um Ausmaß und Gewichtung. Für beide geht es darum, den kapitalistischen Zyklus von den sich gegenseitig aufschaukelnden Momenten Angebot und Nachfrage wieder in Gang zu bringen, die einen mehr auf der einen, die anderen mehr auf der anderen Seite.
Deglobalisierung
Viel wichtiger als diese scheinbare Unterscheidung zwischen links und rechts im Rahmen des Kapitalismus ist ein Konflikt, der noch nicht an die Oberfläche gedrungen ist. Solange es um direkte Geldgeschenke oder Garantien für Banken und Unternehmen geht, können diese noch national treffsicher durchgeführt werden. (Bei Opel kündigt sich aber schon das Problem an, dass das Geld direkt zur Konzernmutter in die USA wandert.) Es ist dem wirtschaftpolitischen Mainstream aber klar, dass auch Nachfragestimuli benötigt werden. In der globalisierten Wirtschaft versickern diese jedoch, sofern es sich um nationalstaatliche Maßnahmen handelt (für andere gibt es eigentlich keinen institutionellen Rahmen) am Weltmarkt und haben sozial und letztlich damit auch politisch auf die Nation, die sie durchführt, kaum Wirkung. Früher oder später wird sich daher die Frage stellen, ob die Globalisierung in Form des Freihandelsregimes zu halten ist. Die USA zeigen es teilweise vor, dass die Liberalisierung in erster Linie einmal für die anderen gilt.
Aber hier besteht auch eine große Chance für die antisystemischen Kräfte. Der Nationalstaat bietet am ehesten den Rahmen, in dem die Souveränität des Volkes auch über die Wirtschaft eingefordert werden kann. Jedenfalls ist der Weltmarkt eine viel blindere Macht als der Nationalstaat. Die demokratische Kontrolle der Nationalstaaten sind der Ansatzpunkt, um die Wirtschaft – und damit auch die Weltwirtschaft – nach den Interessen der Mehrheit zu gestalten.
Systemalternative
Wie lautet nun unser Vorschlag einer Systemalternative? Eine Sache ist überdeutlich geworden: Der Markt als fremdes, den Menschen äußerliches Wesen, quasi als moderner Gottesersatz, hat als Regulationsprinzip versagt. (Ganz abgesehen davon, dass hinter dem Markt sich dennoch Interessen von Menschen verstecken, nämlich der kapitalistischen Eliten, die sich mittels der Marktmystik gegen den politischen Eingriff der Massen zu panzern versuchen.) Politik als bewusstes Eingreifen der Menschen zur Gestaltung der Gesellschaft einschließlich der Wirtschaft muss rehabilitiert werden. Das heißt, der Staat als politische Organisation der Gesellschaft ist aufgerufen zu handeln. Doch damit ist noch keineswegs geklärt, was soll er tun soll und in wessen Interesse?
Die Krise des Kapitalismus ist zuerst im Finanzsystem virulent geworden. Ein Eingreifen bei den Banken um die Kreditvergabe, oder allgemeiner ausgedrückt, die Ressourcenallokation, im Fluss zu halten, muss schlicht bedeuten, dass der Staat die Verfügungsgewalt über das Finanzwesen etabliert. Die Banken gehören in die Hand des Staates, sie müssen im Allgemeininteresse handeln.
Das Bankensystem sind die Blutgefäße, der Kredit das Blut des Kapitalismus. Sie müssen als Hebel zur Umgestaltung im Sinne der Interessen der Mehrheit benutzt werden. Kredite müssen so vergeben werden, dass damit für die Mehrheit sinnvolle Leistungen erbracht werden. Also beispielsweise keine Rettung der Autoindustrie, sondern Umgestaltung der Mobilitätsstruktur vom Auto auf den öffentlichen Verkehr. Nach diesem Modell soll die Wirtschaft in Richtung (globaler) sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit umgestaltet werden. Letztendlich geht es um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung für die Mehrheit.
Die Konsequenzen eines solchen Schrittes können größer gar nicht sein, denn Finanzkapital ist Industriekapital und umgekehrt. Es sind kommunizierende Gefäße, zwei Seiten derselben Medaille. Auch die großen Industrieunternehmen müssen im Dienste der Mehrheit gelenkt werden. All das bedeutet letztendlich das geheiligte Eigentumsrecht außer Kraft zu setzen, namentlich die globale Elite zu enteignen.
Es geht nicht darum, das Privateigentum als Ganzes abzuschaffen, sondern es geht darum, die Verfügungsgewalt über die Kernbereiche des Wirtschaftsapparats, die in Jahrhunderten von der arbeitenden Menschheit geschaffen wurden, auch in deren Hände zu legen.
All das bedeutet, das treibende Prinzip der Wirtschaft zu ändern. Nicht mehr der Profit für eine winzige Elite darf das Movens sein, sondern die politisch vereinbarten Interessen der Mehrheit. Damit wird allerdings keine genaue Ausgestaltung eines Wirtschaftssystems präjudiziert, auch nicht das Wirken des Marktes grundsätzlich ausgeschlossen. (Da ist die Diskussion neu zu eröffnen; Teil davon muss die Verarbeitung des Scheiterns des Realsozialismus sein.)
Es wird lediglich die materielle Voraussetzung für die wirkliche Demokratie, die Herrschaft des Volkes – das heißt der Mehrheit – gelegt: das Zentrum des produktiven Apparates der Menschheit wird deren politischen Willen unterworfen. Die kapitalistische Demokratie war und ist eine Farce, denn die Wirtschaft bleibt von der Herrschaft des Volkes ausgenommen.
Ein anderer Staat
Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt, der Umwandlung des Staates. Die gegenwärtigen Staaten im Herzen des Kapitalismus werden allesamt von der globalen Oligarchie verwaltet oder sind deren Instrumente. Von ihnen ist keine Politik im Sinne der Mehrheit zu erwarten. Das zu erwarten wäre naiv und töricht.
Vielmehr muss das Volk, die Mehrheit, die kapitalistische Elite stürzen und enteignen und damit auch den Staat in seine Hände nehmen. Doch diese Idee bleibt abstrakt, solange es im Westen keine gesellschaftlich relevanten Kräfte gibt, die diese Forderung artikulieren würden.
Wilhelm Langthaler
Dezember 2008