Überlegungen über Chancen und Wegen zu einem linken Projekt in Österreich, aus Intifada Nr. 27
Anhand des Wahlergebnisses der Linken (KPÖ, Die Linke) bei den Nationalratswahlen vom Herbst 2008 wäre die Frage der Chancen linker Kräfte in Österreich schnell beantwortet: 0,81 % sprechen eine klare Sprache – keine Möglichkeit vorhanden. Mit insgesamt nur 6,1 % der Wählerstimmen blieb für die Gesamtheit der außerparlamentarischen Kräfte der Sprung in die institutionelle Politik unerreichbar, trotz prominenter Figuren wie Heide Schmidt und Fritz Dinkhauser.
Alternative notwendig aber unerwünscht
Vor diesem Ergebnis, wo selbst medial bekanntere und durchaus ins Establishment passende Listen scheiterten, muss sich umso mehr eine revolutionäre Option die Frage stellen, ob sie im gegenwärtigen gesellschaftlichen Panorama Österreichs Platz hat. Machen wir zu diesem Zweck eine Momentaufnahme der Situation: Die internationale Lage ist mit zahlreichen ungelösten Konflikten in der „Dritten Welt“ (Irak, Afghanistan, Palästina, Libanon, Sudan, Bolivien, Venezuela, um nur die wichtigsten zu nennen) sowie dem verstärkten Ost-West Dissens (Russland vs. USA/NATO in Georgien und der Ukraine) angespannt. Das Ende des Sozialstaats bedeutete die Rückkehr zu einem „normalen“ Kapitalismus, in dem Mensch und Natur uneingeschränkt ausgebeutet werden. Die Globalisierung des westlichen Produktions- und Konsummodells bringt apokalyptische Krisenszenarien wie Klimawandel, Wasserknappheit oder endende Energiereserven mit sich, ohne dass das System zur notwendigen radikalen Umkehr in der Lage wäre. Statt rationaler Nutzung drängt das Profitsystem zum beschleunigten privaten Raubbau. Die durch die Finanzkrise ausgelöste weltweite Rezession wird nicht zu einer tiefgreifende Korrektur des Entwicklungsmodells, sondern vielmehr zu einem Verelendungsschub auch in den westlichen Zentren führen. Und die demokratischen Gestaltungsspielräume fallen den wirtschaftlichen Sachzwängen und der antiterroristischen Panzerung gegen die „Dritte Welt“ zum Opfer.
All das würde nahe legen, dass die Gesellschaft sich nach einer Alternative zu den kapitalistischen Verhältnissen umsehe. Denn ohne Perspektive der sozialen Prosperität und demokratischen Mitbestimmung würde man erwarten, dass das System seine Hegemonie rasch einbüße. Was sich jedoch aus der objektiven Situation aufdrängen würde, findet subjektiv nicht statt. Die westliche Gesellschaft bleibt weitgehend passiv und damit ist die Basis für eine linke Neuformierung beschränkt.
Objektive und subjektive Krise
Es scheint, dass immer noch jene doppelte Krise, die der italienische Philosoph Costanzo Preve als „Krise des Subjekts und Krise der Perspektive“ definierte, die Entwicklung einer politischen Alternative blockiert. „Krise des Subjekts“ wird in Hinkunft zwar immer weniger jene sozialstaatliche Integration der Arbeiterklasse in die Gemeinschaft gleicher Konsumenten bedeuten. Doch die neuen Unterschichten sind trotz abhanden gekommener sozialer Aufstiegschancen antikollektivistisch, konsumorientiert und inaktiv. Eben ein Produkt des Kapitalismus amerikanischer Prägung und nicht seine Verweigerung. „Krise der Perspektive“ meint das ganz offensichtliche Fehlen eines attraktiven gesellschaftlichen Alternativmodells der sozialen und demokratischen Emanzipation, wie es der Sozialismus war. Der erhoffte Ausweg eines machbaren, menschlichen Paradieses auf Erden, den der Marxismus weisen sollte, hat nicht nur massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt, er ist auch tatsächlich an seiner Umsetzung gescheitert. Zwischen diesen beiden Polen, dem Fehlen des spontanen Protestes der Unterklassen und der nicht vorhandenen langfristigen Perspektive, für die es zu kämpfen lohnt, könnte man als Verbindungsglied noch eine Krise der revolutionären Tagespolitik einfügen. Denn tiefere Ideen über Formen revolutionären Handelns in Zeiten der Nicht-Aktualität der Revolution jenseits des einfachen Gegensatzpaars Reform-Revolution hat der westliche Marxismus interessanterweise nie entwickelt. Und das, obwohl zumindest seit 1950 der stabile westliche Kapitalismus das Paradigma „Revolution = Vorbereitung und Durchführung des Sturms auf das Winterpalais“ als Kompass für antagonistische Politik wenig nützlich machte. Die Untergrabung von Betrieb und Gewerkschaft als soziales Rückzugsgebiet der Linken durch die neoliberale Deregulierung führte unweigerlich in die gesellschaftliche Marginalisierung. Zwischen Minderheitendemonstration und Träumereien einer gewerkschaftlichen Erneuerung hat die Linke keinerlei Antwort auf diese Krise ihres tagespolitischen Handelns.
Überleben – wie lange noch?
Was für eine Schlussfolgerung ergibt sich aus diesem Drama objektiver Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns und seiner subjektiven Unerreichbarkeit? Resignation, Rückzug auf die Theorie, Kleingruppenwesen, Hoffen auf die breite Front mit Teilen des ÖGB, Grünen und SPÖ und einem österreichischen Lafontaine in der Person von Ernest Kaltenegger? All das sind Tendenzen, die sich in der Linken finden. Sie verdienen daher eine kurze Prüfung.
Kommt es zu einer raschen Stabilisierung des Kapitalismus nach der Finanzkrise und einer ausreichenden Kurskorrektur, um den herrschenden Block aus wirtschaftlicher und politischer Elite, Mittelschicht bis hin zu den einigermaßen abgesicherten Werktätigen beisammen zu halten, wird die Resignation innerhalb der Linken der vorherrschende Trend sein. Dank fortbestehender Aus- und Aufstiegsperspektiven aus der Jugendmilitanz der Mittelschicht ins Establishment würde die radikale Opposition weiter erodieren. Als seelisch verkraftbare Ausstiegsszenarien bieten sich die abstrakte Theoriebildung, die die Illusion der Radikalität bewahrt, da Papier geduldig ist, oder das Wechseln in den Markt der NGO-Engagierten, der dem sozialen Gewissen gut tut. Die Unbelehrbaren können im Kleingruppenwesen ein trauriges Dasein als sektengleiches Kuriosum am Rande der Gesellschaft bis zum jüngsten Tag führen. Eine Erneuerung der sozialen Stabilität und das weitere Funktionieren der geopolitischen Architektur (des geeinten westlichen Imperialismus unter US-Dominanz) wären für die westliche Linke kaum zu überleben. Zwei Jahrzehnte, in denen beinahe ausschließlich der antiimperialistische Widerstand des Südens der Sauerstoff zum Überleben einer Systemopposition im Westen war, haben bereits schwer an den lebendigen Kräften in den imperialistischen Zentren gezehrt. Weitere Jahre der totalen „Subjektkrise“ im Westen würden die kleinen bestehenden Organisationsansätze weitgehend auflösen. Das wäre gleichzeitig der Durchbruch eines weitgehend kulturalistischen, anti-universalistischen Kampfes des armen Südens gegen den westlichen Block als vorherrschende Tendenz der nächsten Periode.
Nun baut unsere Hoffnung jedoch auf eine durch den Finanzcrash und die globalen Bruchlinien eintretende Übergangskrise des kapitalistischen Systems bei seiner Suche nach einer Nachfolgeordnung der neoliberalen Globalisierung unter US-Dominanz. Krise deshalb, da die Eliten selbst weder wissen, wohin noch wie diese Veränderung möglichst reibungslos zu bewerkstelligen wäre. Da sie den eisernen Griff um die „Dritte Welt“ nicht lösen wollen und eine Krisenbewältigung vor allem als breit angelegten sozialen Angriff auf die unteren Schichten auch im Westen sehen, werden sie den Konsens mit dem herrschenden Block erodieren ohne eine glaubwürdige Perspektive entwerfen zu können.
Dieses Krisenszenario ist jedoch keine „Katharsis“ des Systemzusammenbruches, wo eskalierende Kämpfe Schritt für Schritt zur revolutionären Machtablöse der alten Eliten führen. Keine Systemkrise wie jene nach den Völkerschlachten des Ersten und Zweiten Weltkrieges, wo eine rasche revolutionäre Erneuerung als Massenperspektive sich schon allein aus dem hinterlassenen Trümmerhaufen der Kriege aufdrängte. Unsere Annahme ist, dass sich aus dem Konsensverlust der liberalen Eliten zwei politische Räume zulasten des neoliberalen Zentrums auftun werden: jener des rechten Populismus und jener eines neuen Reformismus.
Rechtspopulismus und Neoreformismus
Die sozialpopulistische nationale Rechte hat angesichts der Krise von Globalisierung und Liberalismus ein leichtes Spiel. Hat sie nicht immer schon die Nation hochgehalten, den Schutz des Klein- und Mittelkapitals eingefordert und für staatliche soziale Absicherung für das nationale Kollektiv plädiert? Die internationale imperialistische Arbeitsteilung wird die sozialen Unterschiede zwischen Zentren und Peripherie bestehen lassen. Auch bei zunehmender Verarmung im Westen wird daher der Sozialchauvinismus in den Unterschichten als Nährboden für eine rechtsnationale Antwort auf die Krise fortbestehen.
Eine zweite „organische“ Antwort auf die Krise wird der Neoreformismus sein. Das deutsche Phänomen der Linkspartei ist ein Indikator für einen solchen Bruch von links mit der Sozialdemokratie, die sich als Zentrumspartei ganz dem Liberalismus und der Globalisierung verschrieben hat. Mit der Krise brauchen Sozialstaat, Massenkaufkraft, soziale und politische Partizipationschancen der Unterschichten einen Anwalt, den die etablierten politischen Kräfte nicht bieten können. Die zugunsten des Kapitals verschobenen Kräfteverhältnisse erfordern dafür auch ein bestimmtes Maß an Konfrontationsbereitschaft. Die Definition als Neoreformismus scheint insofern griffig, als im Mittelpunkt einer gesellschaftlich gewünschten Linkspolitik die Umverteilung zur Sicherung der Lebens- und Konsumperspektiven der Menschen steht, die Wiederherstellung einer Perspektive für die Unterschichten in einem sozialstaatlich reformierten System, nicht jedoch der Bruch mit dem System.
Der Einwand gegen eine solche negativ besetzte Definition als Reformismus liegt nahe: Die Globalisierungsverlierer wollen keine revolutionären Heilsversprechungen, sondern eine konkrete Politik mit Aussicht auf soziale Verbesserung. Alles andere würde nur die Isolation der Linken verstärken. Tatsächlich scheinen die Chancen politischer Verankerung über radikale Heilsversprechung im Westen marginal – ganz im Gegensatz etwa zur eindrucksvollen Verbreiterung der islamischen Heilsidee unter einer Millionenanhängerschaft von Perspektivlosen in zahlreichen Ländern des Südens.
Kein Platz für die revolutionäre Opposition?
Nun werden die Leser unseres Kommentars berechtigt fragen: Und wo bleibt der Raum für die revolutionäre Opposition? Die revolutionäre Perspektive kann in absehbarer Zukunft nicht auf eine „organische“ Entstehung aus den gesellschaftlichen Verhältnissen rechnen, wie es für die rechtspopulistische und neosozialdemokratische Option zutrifft, die mit dem Sozialchauvinismus und der Konsumsicherung auf angelegte Strömungen im Massenbewusstsein setzen können, die sich durch die soziale Krise verstärken werden. Die Option des revolutionären Neubeginns kann zwar einigermaßen rational aus Krisenszenarien entwickelt werden, die innerhalb der kapitalistischen Profitlogik schwer zu bewältigen sind, und sie kann sich auch als sozial und demokratisch bestmöglichen Ausweg präsentieren. Ihr haftet aber unausweichlich und immer das „Prinzip Hoffnung“ an, ein Rest eines nicht vollständig rational begründbaren Wunsches wie er jeder systemtranszendierenden Idee innewohnt. Damit sind die politischen Möglichkeiten revolutionärer Strömungen – außer in den kurzen Momenten totaler Systemkrisen – wesentlich mehr von den subjektiven Fähigkeiten ihrer Träger und der Überzeugungskraft ihrer Vorschläge abhängig.
Uns erscheinen zwei Milieus als künftige Arbeitsgebiete der revolutionären Opposition. Ein erstes Milieu sind die Versuche linker Neuformierung jenseits der Sozialdemokratien. Es ist zwar zu erwarten, dass hier die „gewerkschaftliche Linie“ des Neoreformismus dominieren wird, die trotz akzentuierter „Klassenrhetorik“ am stärksten an das konsumistische Systembewusstsein der westlichen Arbeitermittelschicht gebunden ist. Doch zwingt die politische Realität zu einer Auseinandersetzung, die über das eng Sozialstaatliche hinausgeht und Bereiche anspricht, die umfassende Alternativen benötigen: Auswirkungen der internationalen Politik, Folgen des umweltvernichtenden Produktivismus, Bedeutung der Souveränität, Möglichkeiten der Deglobalisierung. Dies sind nur einige Beispiele aktueller gesellschaftsrelevanter Problemstellungen, die mehr als soziale Umverteilung erfordern und vor deren Hintergrund sich eine antikapitalistische Systemkritik und umfassende Alternativen nachvollziehbar formulieren lassen.
Koexistenzprobleme mit den Neoreformisten
Neben der weitgehend fehlenden Kreativität der revolutionären Linken, zu solchen gesamtgesellschaftliche Themen Perspektiven und Vorschläge im Sinne der Systemüberwindung zu entwickeln, sind auf zwei Ebenen Koexistenzprobleme innerhalb der linken Neuformierung zu befürchten: 1) die Haltung zum antiimperialistischen Widerstand und 2) die Politik angesichts der nationalistischen Antiglobalisierungsrechten. Der antiimperialistische Widerstand nimmt das extremistische Moment des Klassenkampfes der „Verdammten der Erde“ vorweg, wo es nur totalen Sieg oder totale Niederlage gibt. Jenseits aller anlassbezogenen Formen politischer Kampagnen zur internationalen Politik, in denen sich immer Fragen der politischen Vermittlung für das westliche Milieu stellen, bleibt dahinter eine Grundhaltung von Identifikation oder Nichtidentifikation mit diesen kompromisslosen Kämpfen der Ärmsten der Armen. Wenn auch vorerst jenseits der österreichischen Landesgrenzen, die französischen Banlieues und die griechischen Straßenschlachten haben einen Hauch sozialer Rebellion auch nach Europa gebracht – und mit ihr die politischen Schwierigkeiten von „Angemessenheit“, Vermittlung und organisierter Kontinuität des Kampfes radikaler Minderheiten. Lösbare Probleme? Möglicherweise, jedoch vorausgesetzt eine spontane Identifikation mit dem Feind des Feindes – einerlei ob nun afghanischer Taliban-Kämpfer oder Vorstadtjugendlicher.
Die zweite Schwierigkeit, die wir für eine revolutionäre Dynamik innerhalb der linken Neuformierungen befürchten, geht von einem falsch verstandenen Antifaschismus gegenüber dem rechtsnationalistischen politisch-soziale Milieu aus. Nicht, dass wir Möglichkeiten und auch Sinn in Bündnissen mit rechtspopulistischen Kräften sehen, mit denen wir um die Verankerung in den Schichten der Globalisierungsverlierer konkurrieren. Auch gehen wir nicht von einer einfachen Überwindung des tief sitzenden Rassismus und Chauvinismus in den westlichen Unterschichten aus, wohl wissend dass unser Verständnis der Migrant/innen als Teil des nationalen Proletariats uns von wichtigen Sektoren der heimischen Unterschicht entfernt. Die Befürchtung begründet sich vielmehr darin, dass auch eine linke Neuformierung jenseits der Sozialdemokratie angesichts einer in der Krise erstarkenden Rechten ihr Heil in einem „Bündnis der Demokraten“ sieht und so ins gemeinsame Boot des Establishments zurückkehrt. Es wäre nichts Neues und Verwunderliches. Auch in der internationalen Politik (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Iran, Palästina, Sudan, Libanon) reichte die liberale Querfront der „Menschenrechts- und Demokratieimperialisten“ von US-Neokonservativen bis hin zu linken Pseudo-Antifaschisten. Eine Allianz der Linken mit den „demokratischen“ Kräften der Globalisierung, den Repräsentanten jener neoliberalen Ordnung, die mit der Finanzkrise gerade dabei ist ihr Gesicht zu verlieren, gegen die populistische Rechte wäre fatal. Sie wäre der sichere Verlust jeglicher oppositioneller Glaubwürdigkeit und damit die Niederlage im Kampf mit dem Rechtspopulismus um die „Herzen und Hirne“ der Unterschichten.
Trotz dieser Gefahren sind die linken Neuformierungsbewegungen ein Kampfplatz um revolutionäre Ideen innerhalb der noch vorhandenen politisch interessierten und engagierten Zivilgesellschaft, eine Arena, wo sich ein erneuerter Marxismus politisch bewähren muss und kann, wenn er in der Lage ist, Perspektiven und Alternativen zu entwickeln.
Strategisch wichtig: ein Weg zu den Unterprivilegierten
Der zweite, möglicherweise noch schwierigere und im zeitlichen Horizont entfernter liegende Arbeitsbereich ist die direkte soziale Verankerung in der neuen Armut. Griechenland und die französischen Banlieues waren erste Zeichen dafür, dass die Rebellion der Armen sozial – nicht jedoch politisch – ebenfalls als organisches Produkt eines Kapitalismus entsteht, der den sozialstaatlichen Klassenkompromiss aufgekündigt hat. In der Rebellion liegt die Herausforderung nicht nur in der fehlenden inhaltlich-politischen Perspektive ihrer Träger, sondern zusätzlich in den organisatorischen Formen, um ihr Kontinuität zu geben. Welche Strukturen sind an ein Subjekt angepasst, das aus einer deregulierten, atomisierten und amerikanisierten Gesellschaft entsteht? Die alte Arbeiterbewegung verdankte ihre politische Stabilität auch einem politisierten Alltagsleben in Gemeindebau, Arbeiterviertel oder Fabrik. Diese Orte sozialer Basis sind im sozialstaatlichen Individualismus zerronnen. Formen neuer sozialer Räume, die gegenkulturelle Präsenz einer politischen Opposition erlauben, sind noch schwer vorherzusehen.
Wir denken, dass der lateinamerikanische Begriff des „Poder Popular“ im Sinne von Gegenmacht ein sinnvoller Rahmen für Überlegungen zu neuen sozialen Räumen ist. Territoriale Kontrolle, politische, soziale und kulturelle Abkoppelung – nicht aus der Mittelschichtsperspektive der Selbstbefreiung im System, sondern der Kräfteakkumulation. Doch auch die „Kräfteakkumulation“ darf nicht von einem raschen Zusteuern auf eine entscheidende Konfrontation ausgehen, sondern muss mit einer langen Periode der sozialen Krise und Polarisierung ohne revolutionäre Möglichkeiten rechnen.
Gesucht: Revolutionäre Politik für schlechte, aber nicht-revolutionäre Zeiten
Also, was tun, wenn die Vorbereitung der Revolution keine tagespolitische Aufgabe ist? Abwarten, theoretisieren, Karatetraining oder doch Gewerkschaftspolitik? Wir möchten die Frage so stellen: Ist die Real- und Reformpolitik einer revolutionären Opposition innerhalb des Kapitalismus durch eine unüberwindliche Mauer von ihren sozialistisch-antikapitalistischen Inhalten und Vorschlägen für die goldenen Zeiten nach der ersehnten Übernahme der Staatsmacht getrennt? Gibt es vor der Revolution keine politische Möglichkeit zwischen den Extremen pragmatischer gewerkschaftlicher Umverteilungspolitik und dogmatischem linksradikalem Glaubensbekenntnis?
Wir denken, dass eine mögliche Antwort in jenem Konzept liegt, das Antonio Gramsci für die westlichen Kommunisten nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt hat. Gramsci meinte, dass mit der Stabilisierung des Kapitalismus in den 1920er Jahren des letzten Jahrhunderts die russische Revolution der letzte „Ansturm auf die Macht“, der letzte Bewegungskrieg, war. Es sollte eine Zeit der „Stellungskriege“ folgen, in der dem Antireformisten und Kommunisten Gramsci als strategisches Konzept der Aufbau von Gegenhegemonie vorschwebte. Er hatte sich im Bezug auf die nachhaltige Stabilität des Systems in seiner Zeit getäuscht, die schon auf das nächste Schlachten im Zweiten Weltkrieg hinsteuerte. Die Nachkriegsphase war im Westen dann weder Bewegungs- noch Stellungskrieg, sondern schlicht und einfach Friedensschluss der Klassen. Nach der einseitigen Aufkündigung des Friedens durch den Neoliberalismus und einer langsamen sozialen Neuformierung einer unterprivilegierten Klasse im Westen bekommen Gramscis Konzepte des Stellungskriegs und der Gegenhegemonie vielleicht erstmals politische Aktualität. Was notwendig wäre, sind Antworten für deren Konkretisierung. Um sie in einem revolutionären Sinne zu entwickeln, braucht es zumindest zweierlei: Identifikation mit all jenen, deren Lage sie in oft blindem Hass zum Kampf gegen das System treibt und ausreichend kritisches und kreatives Denken, um zu begreifen, dass wir es mit einer neuen Periode zu tun haben, die neue revolutionäre Paradigmen und Vorschläge erfordert. Unter diesen Voraussetzungen sind wir optimistisch, dass die verstreuten Revolutionär/innen im Westen die Herausforderungen dieser Periode intellektuell und praktisch meistern werden. Oder liegt für Österreich gerade hier der Grund für einen berechtigten Pessimismus?
Gernot Bodner
20. Dezember 2008