von Felix Taal
Es gehört zum guten Ton in fast allen Teilen der Linken, sich mit den Opfern des „Antiterrorkrieges“ zu solidarisieren – sobald sie von den Bombern ermordet oder zerfetzt in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Anders sieht es aus, wenn es ihnen im Irak gelingt, der tödlichen Kugel eines US-Soldaten zuvorzukommen und in den Untergrund zu gehen. Oder wenn sie, wie in Gaza, die „falsche“ Partei wählen. Dann werden immer drei grundlegende Argumente genannt, mit denen erklärt wird, warum der politische Islam „schlecht“ (bei einigen „noch schlechter als“ der US-Imperialismus, bei anderen „fast so schlecht wie“ der US-Imperialismus) ist:
(1) Die Islamisten sind reaktionär: Sie leugnen, dass Religion „Opium des Volkes“ ist. Statt Klassenkampf predigen sie Glaubenskrieg, statt Frauenbefreiung fordern sie den Schleier.
(2) Es gibt weder positive Beispiele für die Zusammenarbeit mit der Linken in der Geschichte noch gibt es ein positives Beispiel für einen islamischen Staat.
(3) Antiimperialismus leugnet die Klassengegensätze in den imperialistischen und in den angegriffenen Staaten; US Soldaten sind z.B. selbst „ausgebeutete Arbeiter“, während viele Widerstandsorganisationen die Herrschaft der „lokalen Ausbeuter“ wiederherstellen wollen und daher nur sehr bedingt unterstützt werden dürfen.
Die Linke und der Imperialismus
Es ist zu begrüßen, dass es inzwischen überhaupt zu solch einer Auseinandersetzung kommt. Die Linke ist recht hilflos im 21. Jahrhundert angekommen: Gegen den Angriff auf den Irak ist man, aber auch gegen Saddam, wie auch gegen den (nicht baathistischen, bewaffneten) Widerstand im Irak. Im Freiheitskrieg um Palästina hofft man auf eine sich „verbrüdernde Arbeiterklasse“ auf beiden Seiten, während die eine ‚Arbeiterklasse‘ der Anderen Phosphorbomben auf ihre dicht besiedelten Wohngebiete bombt. Es ist offensichtlich, wie viel Unsicherheit und Wunschdenken sich ausgebreitet hat nachdem die alte Weltordnung von einer Neuen abgelöst worden ist, in der ausgerechnet eine religiös gefärbte Bewegung den alten, nun noch gewachsenen Feind, den westlichen kapitalistischen Imperialismus, konfrontiert. Einige Kommunisten sind konsequent Muslime geworden, die meisten aber konzentrieren sich jetzt lieber auf Lateinamerika: Dort gibt es Kuba, die Zapatisten und Chavez, linke Projekte also, mit denen man sich identifizieren kann.
Dort sendet Subcomandante Marcos von der EZLN den Menschen in Gaza (die ‚Antisemiten‘ also, welche die HAMAS wählten), seine Grüße, Chavez trifft den Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, während Bolivien den israelischen Botschafter des Landes verweist.
Darüber hinaus herrscht kein offener Krieg in der Region, es gibt – trotz der inspirierenden Aufbrüche – kein die Existenz des Imperialismus gefährdendes Projekt wie im Nahen Osten, wo die USA mit den hinter ihrer geballten militärischen Macht stehenden Interessen direkter Konfrontation ausgesetzt sind: In Afghanistan, im Irak, im Libanon, in Palästina. Schon 1967 schrieb Chà© Guevara, Monate vor seiner Hinrichtung in Bolivien: „Man muss endlich berücksichtigen, dass der Imperialismus ein Weltsystem, die letzte Stufe des Kapitalismus ist. Er muss in einer großen, weltweiten Auseinandersetzung besiegt werden.“ (1)
Auch für die Kubafreunde und Venezuela-Begeisterten ist der Nahe Osten also von Interesse; nicht nur, weil ihre Symbolfiguren sich zu den Ereignissen äußern, sondern eben weil der Imperialismus als Weltsystem entweder geschlagen wird oder gestärkt aus einer Auseinandersetzung hervorgeht und damit alle, zuallererst auch die linken Befreiungsprojekte bedroht. Es ist keine Übertreibung, wenn behauptet wird, dass ohne die Niederlagen im Irak, Libanon, Palästina und Afghanistan der Druck auf Lateinamerika wesentlich höher sein würde und eventuell militärische Aggressionen oder Putschversuche unternommen würden (2). Spätestens hier wird klar: Die von alten Stalino-Gruppen bis hin zu trotzkistischen Jugendorganisationen verbreiteten und eingangs zusammengefassten Argumentationsmuster sind sehr problematisch.
Informationsmangel und Missverständnisse
Was also bewegt die Linke dazu, sich so ablehnend gegenüber der stärksten Bedrohung des Imperialismus seit dem Aufbruch um 1968 zu verhalten? Es dürften mehrere Gründe zusammentreffen:
Ein fehlendes Verständnis für die arabische Kultur und islamische Religion, deren Unterschiede zum Westen wesentlich größter sind als die der lateinamerikanischen Länder;
der Universal-Anspruch der kommunistischen Lehre wird durch den Islamismus in Frage gestellt, weil dieser plötzlich traditionell „linke Themen“ (Soziale Gerechtigkeit, Antirepressionsarbeit, nationale Souveränität, Befreiungskampf) besetzt;
und schließlich werden gerne die „Klassiker“ zitiert, zu deren Zeiten keine vergleichbare Bewegung keiner vergleichbaren Bedrohung gegenüberstand. Hinzu kommt, dass es nur wenige seriöse Informationsquellen über die islamische Bewegung gibt. Die Massenmedien arbeiten professionell am neuen „Feindbild Islam“ (3).
Antiimperialismus und Befreiung
Der Imperialismus ist heute die Grundlage nicht nur für die multinationalen Konzerne und die Finanzoligarchie, sondern auch notwendig für den verschwenderischen, rücksichtslosen Lebensstil, der im Westen propagiert wird und die dortige Arbeiterklasse weitgehend integriert und befriedigt.
Ohne die Zerschlagung des Imperialismus gibt es keine Möglichkeit für einen Aufbruch. Seit 1945 führten die Vereinigten Staaten in mehr als 70 Ländern „äußerst ernstzunehmende Interventionen durch.“ (4) Der Grund all dieser Einmischungen ist zumeist wirtschaftlicher und strategischer Natur. Die Vorraussetzung für Befreiung und eine sozial gerechte Gesellschaft ist also die Niederlage des Militärisch-Industriellen Komplexes und Zerstörung des Mythos von der Unbesiegbarkeit der letzten Supermacht. Und damit kommen wir zu den Trägern dieser Auseinandersetzung: Im Nahen Osten, dem heutigen Hauptbrennpunkt des Kampfes, ist dies zweifellos in erster Linie eine religiös geprägte Bewegung.
Die Frauenfrage
Die Vielfalt der islamischen Bewegung bringt ein weit gefächertes Rollenbild der Frau mit sich. Im Irak sind Frauen Teil des bewaffneten Widerstandes (5), in Palästina hat die HAMAS eine feste Basis bei den Frauen, und die Hisbollah im Libanon betreibt sogar explizit Programme zur Förderung der Frau (6). Zugleich sei auf einfache Zahlen aus Deutschland verwiesen: Der jährliche Umsatz mit Kosmetikartikeln beträgt elf Milliarden Euro, im selben Zeitraum finden eine Million Schönheitsoperationen statt. Es ist zumindest fraglich, inwieweit dieser Körperkult, der offensichtlich auch emanzipierte Frauen nicht glücklich macht, der islamischen Betrachtung überlegen sein soll, der zufolge die Frau ihren Körper als von Gott geschaffen akzeptiert und ihre Reize bewusst nicht zur Schau stellt.
Glaubenskrieg und Jihad
Fanatisch, Rachsüchtig und brutal – so wird der Krieg im Islam von vielen wahrgenommen, und entsprechend unsympathisch werden die „Terroristen“ gern zur Kehrseite des westlichen Kreuzzugs stilisiert.
Der Jihad ist aber an Regeln und Ziele gebunden. Zu den Regeln gehört nicht nur das Gebot, keine Unschuldigen zu töten, sondern auch, maßvoll im Vergelten zu bleiben und auf jedes Friedensangebot einzugehen. „Wichtigstes Ziel des Jihad (Widerstandes) ist die Hilfe für die Unterdrückten und die Ermöglichung einer guten Zukunft für sie“, wie es die „Islamische Armee im Irak“ ausdrückt (7). Ein „islamischer Staat“ würde den Schutz von Minderheiten, besonders Juden und Christen, ebenso beinhalten wie soziale Gerechtigkeit, Schutz der Umwelt und Förderung der Bildung. Es gibt – ganz wie bei den Kommunisten – immer wieder Differenzen zwischen dem Anspruch und der Realität; dennoch ist das weit verbreitete assoziieren von einer „islamischen Gesellschaft“ mit den halb-seriösen Berichten aus einem kulturell völlig verschiedenen, unterentwickelten Afghanistan nur sehr bedingt hilfreich, wenn man diesen Entwurf islamischer Widerstandsbewegungen – wie auch immer – bewerten will.
Der Islam als Zivilisation
Um den Islam besser zu begreifen, müssen gerade Linke verstehen, dass der Islam kein bloßer Glaube ist, sondern konkrete Vorschriften und Werte für eine Gesellschaft fordert. Das ist auch ein wichtiger Unterschied zum traditionellen Christentum: Statt die Gläubigen aufs Jenseits zu vertrösten, fordert der Islam eindeutig auf, im Hier und Jetzt aktiv gegen Unrecht und verschiedene Missstände aufzubegehren. Auch im Zinsverbot und der Verpflichtung für jeden Muslim, jährlich mindestens 2,5 Prozent seines Besitzes an Arme und Bedürftige zu spenden, stehen Vorschriften der Ideologie des freien Marktes entgegen. „Religiöse Menschen glauben an die Propheten, Bush glaubt an die Profite“, brachte es Galloway in einer seiner Reden auf den Punkt. (8)
Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, mit welchen Problemen der politische Islam zu kämpfen hat. Ähnlich dem europäischen traditionellen Kommunismus versteht er sich als universal und ist zugleich tief gespalten, nicht nur in sunnitische und schiitische Flügel. (9)
Linke und Muslime: Traditionelle Feinde
Spätestens an diesem Punkt greifen Linke auf ihre beiden letzten Argumente zurück. Das Eine besagt, dass die Muslime nie eine solche Gesellschaft, wie sie gefordert wird, errichtet haben. Abgesehen aber davon, dass Muslime dasselbe von den Sozialisten behaupten könnten, sind natürlich alle Gesellschaftsmodelle durch menschliche Fehler und äußere Feinde bedroh -und zerstörbar.
Das andere Argument ist stichhaltiger: Im Iran wurden nach der Revolution von 1979 zahlreiche Kommunisten von der islamischen Regierung als Sowjet-Spione hingerichtet und verfolgt. Auch in Algerien, Palästina und Ägypten gibt es Beispiele für teils tödliche Auseinandersetzungen, vor allem aus den 70er und 80er Jahren.
Zwei Dingen müssen hier beachtet werden. Erstens war die Hoffnung einer Mehrheit der Linken damals auf die UdSSR gerichtet, die von den islamischen Kräften nur als Gegenseite des US-Imperialismus wahrgenommen wurde. Und zweitens hat die Linke sich geweigert, Religion irgendeine positive Rolle zuzuschreiben. Ein marrokanischer Islamist, der sich mit Mao beschäftigte, fragte in den 70er Jahre: „Lehnen wir die Kommunisten ab wegen der sozialen Gerechtigkeit, die sie anstreben, oder wegen ihrer Verspottung der Propheten?“ – die Antwort war selbstverständlich letzteres.
Heute gibt es sowohl positive als auch negative Erfahrungen in solch einer Zusammenarbeit; zu den erfolgreichen gehört die Zusammenarbeit der Hisbollah mit der KP Libanons, die Zusammenarbeit von HAMAS und PFLP sowie verschiedene Allianzen in Europa, wie etwa das Bündnis RESPECT in Großbritannien. Es kommt vor allem darauf an, welche Islamisten mit welchen Linken zusammen arbeiten und wieweit die gemeinsamen Interessen reichen.
Und genau darum geht es heute: Die Interessen der Muslime und der Linken zu betrachten. Hauptopfer der US Aggressionen sind die islamischen Länder, die bei ihrem Freiheitskampf auf eine Religion zurückgreifen, die über Jahrhunderte ihre Kultur und Gesellschaft prägte. Ähnliche Phänomenen gab es immer wieder in der Geschichte, und sie müssen nicht im Widerspruch zum Ziel einer sozial gerechten Gesellschaft stehen. Selbst wenn sich z.B. die von Linken gerne zitierte Lage der irakischen Frauen kurzfristig verschlechtert, so werden durch den Befreiungskrieg langfristig die Grundlagen für ihre selbstverständlich legitimen Kämpfe gelegt: Indem das Bomben und Foltern der Amerikaner ein Ende hat, gewinnen die Iraker die Möglichkeit, die Gestaltung ihrer Gesellschaft neu zu bestimmen. Zu meinen, die arabische Frau sei in einer solchen Situation nicht in der Lage, ihre Rechte einzufordern, ist purer Rassismus, umso mehr, als der Prophet der Muslime grundlegende Menschen- und Frauenrechte über ein Jahrtausend vor den Anfängen der europäischen Frauenbewegung formulierte.
Solange es eine ungerechte und barbarische Wirtschaftsordnung gibt, wird es Alternativvorschläge geben, und solange die Armeen der USA und NATO andere Länder besetzen, damit die Konzerne die Ressourcen plündern können wird es bewaffneten Widerstand dagegen geben.
Die Frage ist, auf welcher Seite die Linke hierbei stehen wird. Dazu gehören vor allem seriöse Informationen über die Widerstandsbewegungen, über den Islam und über die arabische Kultur; ferner die Fähigkeit zur Selbstkritik und Fairness. Ein katholischer Chavà©z ist wenigen Linken ein Problem; ein schiitischer Nasrallah schon. In Wirklichkeit geht es dabei nicht um das festhalten an irgendwelchen „emanzipatorischen Werten“, sondern um den Erfolg islamophober Hetze, die irreale Ängste schürt und jenen Linken, die sich nicht überzeugend von ihr distanzieren, als Vertreter von Veränderung und Verbündete der Unterdrückten disqualifiziert.
Felix Taal
(1) http://antiimp.wordpress.com/2009/02/11/che-1967
(2) Lateinamerika wesentlich höher sein würde und eventuell militärische Aggressionen oder Putschversuche unternommen würden
(3) Ein guter Artikel zu dem Thema Islam und Medien:
http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Islam/schiffer-diss.html
(4) Iraq’s Resistance Fighters; Part 3: Women Fighters http://www.youtube.com/watch?v=DQE6grECSL0
(5) http://www.anarchie.de/main-15220.html
(6) „Vor allem auf dem Land glauben viele Familien, es sei überflüssig, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Die Regierung tut nichts dagegen. Deshalb ist die Hisbollah in die Dörfer gegangen, um das traditionelle Frauenbild zu verändern und die Frauen und Mädchen zu unterrichten, damit sie auf eigenen Beinen stehen können.“ http://antiimp.wordpress.com/2009/02/12/hisbollah-women/
Siehe auch http://www.youtube.com/watch?v=vFCOFt24LLE
(7) http://antiimpmedia.wordpress.com/2009/02/03/iairules/
(8) http://en.wikiquote.org/wiki/George_Galloway
(9) Die Probleme des politischen Islam ähneln im Allgemeinen allen Ideologien: Verallgemeinerungen, Dogmen, fragwürdig angewandte Autoritäten, Vision und Realität, usw. – gerade deshalb könnte ein Dialog linker und islamischer Bewegungen für beide Seiten von Vorteil sein, wenn beide Seiten zu Selbstkritik bereit sind.