Die Antwort der "Ent-Täuschten" auf diese tiefgreifende Krise mag auf sich warten lassen. Kommen wird sie indes auf jeden Fall. Erste Vorboten zeigen sich schon in den gegenwärtigen Entwicklungen, wie der griechischen Revolte oder der Gründung der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich. Das Laboratorium für die Herausbildung einer antikapitalistische Opposition ist also eröffnet. Es wird Zeit, dass wir auch in Österreich initiativ werden. Denn auch andere scharren schon in den Startlöchern, wie der Aufstieg des ungarischen Nationalismus zeigt.
Österreich hielt sich im vergangenen halben Jahrhundert nicht ganz zu unrecht für eine Insel der Seligen. Der Kapitalismus – sozialdemokratisch gezähmt – brachte für die breiten Massen einen enormen sozialen Aufstieg und verlieh so seinen politischen Institutionen eine besondere Stabilität.
Um so tiefer und unglaublicher muss nun der Fall erscheinen, den man nach wie vor nicht so richtig wahrhaben will. Auf einmal soll sich die Renditenbonanza, an dem sich selbst der einfache Arbeiter mit seinen bescheidenden Ersparnissen beteiligen konnte, in ein Milliardengrab verwandeln?! Die Banken und selbst der Staat treiben auf den Bankrott zu – unfassbar.
Die erste Reaktion in guter österreichischer Spießertradition ist es, sich einmal hinter der Großen Koalition zu versammeln. So unerhört die Milliardengeschenke an die Banken erscheinen mögen, auch angesichts der davorliegenden unerbittlichen Sparprogramme, so sehr werden sie als notwendig zur Rettung des Systems akzeptiert. Die außergewöhnliche Krise lässt im ersten Schritt auf Gewohntes, auf Altbewährtes zurückgreifen. Der politische Kredit des Systems ruht auf einem halben Jahrhundert des Aufstiegs und Fortschritts, könnte also größer nicht sein.
Noch wollen die Menschen einfach glauben, dass die Rettungspakete greifen und die Rezession innerhalb weniger Quartale überwunden sein wird. Der von den Banken und den Regimemedien verbreitete Zweckoptimismus entspricht den Wünschen der Mehrheit (anders als in vielen anderen europäischen Ländern, die mit dem Neoliberalismus viel bitterere Erfahrungen machen mussten). Doch auch hierzulande kommen Zweifel auf. Sollten sich die optimistischen Prognosen der Hohepriester des Systems in einigen Quartalen in Nichts auflösen – wovon wir mit guten Gründen ausgehen –, können sich die politische Situation und die Stimmung der Massen schlagartig verändern.
Zumal sind die sozialen Folgen der Krise hierzulande noch wenig spürbar und werden durch staatliche Intervention (wie beispielsweise massive Subventionierung der Kurzarbeit) hinausgezögert. Ebenso versucht man die Austeritätsprogramme zum Abbau der nun angehäuften Staatsschulden auf den erhofften, zukünftigen Konjunkturzyklus zu verschieben.
Antikapitalistische Volksopposition
Unter den beschriebenen Bedingungen bietet sich unmittelbar noch kein Platz für eine Systemopposition. Zu sehr hängt man an der Vergangenheit und will das verlorene Glück verteidigen. Noch scheint der radikale Bruch nicht notwendig. Nächster Schritt wird es wohl sein, dezidierter neoreformistische und keynesianistische Forderungen zu erheben, sei es aus dem Bereich der traditionellen Linken und Sozialdemokratie (beispielsweise die Reichensteuer, wie sie vom steirischen SP-Landeshauptmann Voves vorgeschlagen wurde) oder seitens des Rechtspopulismus.
Dennoch kann und muss eine Systemopposition bereits heute vorbereitet werden. Denn wie die Lehren aus der Geschichte zeigen, erwächst eine solche keineswegs automatisch. Die organische Tendenz des Protests der Unterklassen weist eher in Richtung des Sozialchauvinismus, wie er hierzulande von der FPÖ repräsentiert wird.
Ausgangspunkt der Überlegungen muss das Versagen des Kapitalismus als ganzes sein. Die Krise lässt die liberalen Versprechungen von "Wohlstand, Demokratie und Frieden", wie sie von Clinton in den 1990er Jahren der Welt gemacht wurden, in Schall und Rauch aufgehen. Selbst in den Zeiten des Booms gelang die Annäherung an diese Versprechungen nicht. Die globale soziale Kluft vertiefte sich. Auf die Opposition reagierten die Eliten mit Repression und Krieg. Mit der Krise werden sich diese Tendenzen enorm beschleunigen. Kapitalismus wird wieder zum Synonym für die extreme Armut von Milliarden sowie von Diktatur und Krieg.
Es muss daher klar gegenüber der auch bei uns entstehenden Oppositionsbewegung ausgesprochen werden: das globale System des kapitalistischen Imperialismus ist das entscheidende Hindernis nicht nur für das stark verstümmelte und einseitig reduzierte liberale Werteset von "Wohlstand, Demokratie und Frieden", sondern auch für die allen zukommende menschliche Emanzipation, wie sie seit der Aufklärung und der französischen Revolution in vielerlei Varianten und Versuchen formuliert wurde.
Im Gegensatz zur traditionellen Arbeiterbewegung wollen wir nicht zuvorderst bei sozialen Teilforderungen ansetzen, von denen man sich immer erhoffte, dass sie den Weg in ein anderes System ebnen würden. Denn tatsächlich tendieren diese zum genauen Gegenteil, nämlich ihre Anpassung an und Teilverwirklichung im Rahmen des Systems. Der von uns vorgeschlagene Ansatzpunkt geht vom politischen Ganzen aus und zwar gleich von Anfang an. Der Kapitalismus ist ein strukturell unmenschliches System und muss weg.
Dabei geht es nicht um den Kapitalismus als Abstraktum, sondern um die konkrete Herrschaft einer winzigen Elite, die Reichtum und Macht in ihren Händen konzentriert und alle Sphären des Lebens kontrolliert. Wir müssen nicht nur zeigen, dass das der konkrete Kapitalismus ist, sondern dass es gar keinen anderen Kapitalismus geben kann. Dieser tendiert natürlich dazu, sich oligarchisch zu formieren. Die Krise akzentuiert diesen Zug nur noch weiter.
Hier drängt sich automatisch die Frage nach den Alternativen auf. Denn die Geschichte des gescheiterten Sozialismus lastet schwer. Ist eine Alternative überhaupt möglich? Ist sie es wert erkämpft zu werden? Kann sie funktionieren?
Wir glauben nicht, dass auf diese Frage eine fertige Antwort gegeben werden kann und darf, die den Anspruch auf Exklusivität erhebt. Vielmehr geht es in erster Linie darum, die Möglichkeit einer nichtkapitalistischen, stärker auf Gemeinschaft beruhenden und Emanzipation ermöglichenden Gesellschaft darzulegen und glaubhaft zu machen. Gleichzeitig muss aber die größtmögliche Offenheit und Pluralität gewahrt werden, denn es gibt sehr viele unterschiedliche Zielvorstellungen, was angesichts des Scheiterns des Realsozialismus verständlich wird.
Hier die programmatischen Achsen unseres Vorschlags:
1. Verstaatlicht die Banken
Ausgangspunkt der Krise war das Finanzsystem und die Banken, deren Auswirkung nun Schritt für Schritt auch für die Produktion spürbar wird.
Nachdem die kapitalistischen Kernstaaten nun drei Jahrzehnte lang den Rückzug aus der Wirtschaft und den freien Markt als Allheilmittel gepredigt hatten, machten sie innerhalb nur weniger Tage eine 180-Grad-Kehrtwendung. Gewaltige Hilfspakete im Billionenwert wurden und werden dem Bankengroßkapital in den Rachen geworfen, während zuvor jede mickrige Million für Sozialleistungen zehnmal umgedreht und gekürzt wurde.
Diese Maßnahmen mögen im Sinne der Rettung des Systems notwendig und sinnvoll sein. Wir lehnen diese radikalisierte Umverteilung von unten nach oben indes rundweg ab. Die Konsequenz der richtigen Losung "Wir zahlen nicht für eure Krise" muss sein, die sogenannten Rettungspakete abzulehnen. Sie sind nichts als eine Fortsetzung der bisherigen Politik der staatlichen Umverteilung zugunsten des Kapitals.
Es bedarf indes Rettungspaketen. Doch diese müssen zugunsten der Mehrheit und nicht der Elite geschnürt werden. Daher: wenn der Staat Banken rettet, um den Wirtschaftskreislauf in Gang zu halten, dann muss auch die Verfügungsgewalt über diese in die Hand des Staates übergehen.
Doch das reicht noch lange nicht aus. Wir haben gesehen, dass dies in vielen Fällen schon geschah um Totalzusammenbrüche abzuwenden und das kapitalistische System zu retten. Der Staat muss über die verstaatlichten Banken massiv steuernd und regulierend in die Wirtschaft eingreifen. Es geht um eine Wirtschaftspolitik im Interesse der Mehrheit, der globalen Mehrheit wohlgemerkt. Das heißt einerseits, dass die gesellschaftlichen Ressourcen gerechter verteilt werden und andererseits, dass das Entwicklungsmodell überhaupt geändert wird, so dass es der menschlichen Emanzipation dient und ihr nicht entgegensteht.
2. Staatsschulden entwerten und enteignen
Die Verstaatlichung von strauchelnden Banken ändert am System selbst nichts. Im Gegenteil, es ist zu seiner Stabilisierung sogar eine unumgängliche Notwendigkeit. Wenn die verstaatlichten Banken jedoch entsprechend einem politischen Auftrag der Mehrheit mittels gezielter Kreditvergabe und steuernden Zinssätzen eingreifen, denn weist das bereits in eine ganz andere Richtung.
Woher kommt das Geld für die Rekapitalisierung? Im Wesentlichen nimmt es der Staat am Kapitalmarkt auf und muss dafür Zinsen zahlen. Für Tilgung und Zinszahlung werden in der Folge die Mittel- und Unterschichten zur Kasse gebeten werden, wenn auch etwas zeitverzögert, um nicht allzu prozyklisch zu wirken. Die Staatsschuld fungiert also als gewaltige Umverteilungspumpe von unten nach oben. Austeritätsprogramme sind in der Logik des Kapitalismus unvermeidlich. Im Falle von Krediten, die durch internationale Finanzinstitutionen wie IWF etc. vergeben werden, wird diese Umverteilung nach oben sogar direkt zur politischen Bedingung gemacht. Waren traditionell bisher nur Länder der Dritten Welt in der Zwangslage solche Kredite in Anspruch nehmen zu müssen, so ist bereits jetzt halb Osteuropa betroffen. Auch Österreich könnte in die Lage kommen, Unterstützung der internationalen Finanzinstitutionen beanspruchen zu müssen.
Wir wollen diese Pumpe umdrehen. Nicht die Unter- und Mittelschichten sollen für die Staatsschuld aufkommen, sondern die großen Kapitalbesitzer. Das ist einerseits mit einer kontrollierten Geldentwertung möglich, die aber ein gewisses Maß nicht übersteigen darf, um keine Flucht aus der Währung anzustoßen. Das kann in Form von Zwangsanleihen geschehen oder auch durch die schlichte entschädigungslose Streichung ab einem gewissen Vermögensstand.
3. Enteignung der Eliten
Es muss indes aber klar sein, dass die Verstaatlichung von Banken oder die Entwertung oder sogar Annullierung von staatlichen Schuldentiteln von den besitzenden Eliten nur in äußersten Notlagen geduldet wird. Zur Rettung des Gesamtsystems werden sogar ausnahmsweise Eingriffe in das allerheiligste Recht auf Kapitaleigentum in Kauf genommen.
Erweist es sich als absehbar, dass es überhaupt darum geht, die großen Kapitalgruppen unter die Botmäßigkeit des Staates zu zwingen – und zwar eines Staates, der nicht mehr im Interesse dieser Eliten handelt –, werden diese solche Maßnahmen wütend bekämpfen. Treibt man sie dennoch voran, laufen sie auf einen totalen Bruch mit dem System hinaus. Fälle dieser Art sind uns aus der Geschichte bekannt, auch wenn sie sich fast ausschließlich an der Peripherie zutrugen: Kapitalflucht, Verlust des Zugangs zum Kapitalmarkt, Ausschluss aus der internationalen Arbeitteilung, Wirtschaftsblockade oder sogar Krieg.
Die unvermeidliche Folge eines solchen Bruches ist die krisenhafte Kontraktion der Wirtschaft und das Absinken des materiellen Lebensstandards mit allen damit verbundenen politischen Schwierigkeiten. Für eine kleine Volkswirtschaft wie die österreichische, die noch dazu in extremer Weise internationalisiert ist, gilt das noch mehr.
Es geht also um eine richtiggehende Revolution, denn die Eliten werden auch zu Gewalt greifen, wenn sie ihre Herrschaft als gefährdet ansehen. Dass sie das können, haben sie schon mehrfach bewiesen.
Ein solches historisches Projekt eines radikalen Bruches kann daher konkret nur sinnvoll unternommen werden, wenn einige unerlässliche Vorbedingungen gegeben sind: Eine starke politische Hegemonie des revolutionären Subjekts, das den Sturm einer wirtschaftlichen Katastrophe zu überleben vermag. Eine ähnliche Entwicklung in anderen Ländern bzw. eine internationale Bewegung, die auf eine substanzielle Vergrößerung eines neuen, alternativen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsraum hoffen lässt, der eine internationale Arbeitsteilung neu etabliert, wenn auch nach anderen Entwicklungskriterien und auf der Basis eines gerechteren Tausches ohne systematischen Werttransfer zugunsten des Zentrums. Die dauerhafte Isolierung jedenfalls bringt den sicheren wirtschaftlichen und in der Folge auch politischen Zusammenbruch.
Im größeren Kontext betrachtet, bleibt die extreme Konzentration des Reichtums, die die exklusive Verfügungsgewalt einer winzigen Gruppe von Kapitaleignern über die Geschicke der Welt in allen Belangen zur Folge hat, das Haupthindernis auf dem Weg zur menschlichen Emanzipation. Ohne in die Details gehen zu wollen postulieren wir, dass die Menschheit dazu fähig ist, ihre produktive Kapazität im Interesse der Mehrheit zu gestalten. Demokratie, Freiheit, Emanzipation sind nur denkbar, wenn der produktive Apparat dem mehrheitlichen Willen der Produzenten folgt. Oder, anders gesagt, Demokratie muss sich auch auf die Sphäre der Wirtschaft ausdehnen, denn sonst bleibt sie Augenauswischerei.
4. Demokratie und Subsidiarität
Der Staat ist das Werkzeug zum politischen Eingriff in die Gesellschaft und damit auch in die Wirtschaft. Damit wird noch nichts über den Charakter des Staates ausgesagt. Tatsächlich spielt der Staat diese Rolle immer schon, auch im liberalsten Kapitalismus. Er sichert dem Kapital den Rahmen, in dem es sich verwerten und anhäufen kann. Die Marktreligion erkor den Staat zu ihrem Feind, insofern er zu Umverteilungsmaßnahmen nach unten gezwungen worden war und diese zurückgefahren werden sollten. Dass der Liberalismus nicht per se antistaatlich ist, zeigt sich retrospektiv nur zu deutlich. Diejenigen, die am lautesten für den freien Markt schrieen, sind es auch, die heute Milliardengeschenke von eben diesem Staat einfordern.
Die westlichen Kernstaaten sind Werkzeuge der kapitalistischen Eliten, die aber über erheblichen Konsens in den Mittelschichten und der Gesellschaft als ganzer verfügen und somit parlamentarische Demokratie spielen können. Droht die Möglichkeit diese Zustimmung zu verlieren, so greifen sie zunehmend zu autoritären Mitteln (siehe den präventiven Abbau demokratischer Rechte).
Wir sehen daher im Eingreifen des Staates keineswegs ein Allheilmittel, noch sind wir einfache Etatisten. Um im Interesse der Mehrheit die Krise zu bekämpfen und in die Wirtschaft einzugreifen, muss der Staat grundlegend verändert, demokratisiert werden. Die Masse der Menschen muss in ihm repräsentiert sein und an ihm teilhaben.
Davon sind wir heute weiter denn je entfernt und hier liegt auch der wirkliche Hund am antikapitalistischen Projekt begraben.
Zwar wird der Staat immer durch eine professionelle Gruppe von Politikern und Verwaltern geführt werden, so wie Arbeitsteilung und Spezialisierung die Voraussetzung von Industrie überhaupt ist. Es geht also nicht darum Repräsentation schlechthin abzuschaffen, wie es Strömungen des historischen Anarchismus sowie der Postmoderne postulierten. Vielmehr handelt es sich darum, die staatlichen Funktionäre auf die Interessen der Mehrheit zu verpflichten, ihre Verselbständigung hinanzuhalten. Die Herrschaft der Mehrheit darf sich nicht wiederum in eine Herrschaft über die Mehrheit verwandeln.
Das entscheidende Mittel dazu ist die aktive politische Beteiligung dieser Mehrheit, der Masse der Bevölkerung an den Entscheidungen des Staates. Dazu bedarf es partizipativer Strukturen, die nicht nur Konsens herstellen können, sondern auch Dissens vertragen und zu artikulieren vermögen. Letztlich erweist sich die Politisierung der Gesellschaft als unerlässliche Vorbedingung zu ihrer Emanzipierung.
Voraussetzung ist allerdings eine umfassende politische Bewegung, eine Massenmobilisierung, die zum Subjekt des Wandel und Umbruchs, der echten demokratischen und sozialen Revolution erwächst. Solange sich diese auch nicht in nuce abzeichnet, müssen die proklamierten Ziele abstrakt bleiben. Die Konkretion ist nur auf der unmittelbaren Ebene wie gegen die Geschenke an das Großkapital, die Streichung der Staatsschuld oder ein Ende des imperialistischen Krieges möglich.
Um die demokratische Beteiligung und Selbstbestimmung zu fördern, ist indes noch ein anderes Prinzip zu verwirklichen, namentlich jenes der Subsidiarität. Von der EU erfunden, dient es ihr zum genauen Gegenteil des Vorgegebenen. Es bedeutet, politische Entscheidungen auf der tiefstmöglichen Ebene zu fällen. Wir schlagen vor, das auch auf produktive Aktivitäten auszudehnen, denn die Wirtschaft ist zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und ihre Demokratisierung uns wesentliches Anliegen.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Konflikt immer Zentralisierung schafft, denn es geht um Verteidigung bzw. Eroberung gesellschaftlicher Macht. Doch stellt sich nach einem Umsturz eine gewisse Stabilisierung oder gar Normalität ein, so muss diese Macht möglichst nach unten verlagert werden. Wo immer möglich soll Politik direkt von den betroffenen Menschen gemacht werden, die für deren Auswirkungen auch die Verantwortung tragen. Repräsentation soll möglichst vermieden werden, dennoch bleiben entscheidende Bereiche der Politik und Verwaltung, in denen man ohne Vertretung nicht auskommt.
5. Emanzipation als Entwicklungsziel
Der Kapitalismus hat als zentrales Ziel gesellschaftlicher Entwicklung ständiges Wachstum und Mehrung des materiellen Reichtums des Einzelnen etabliert. Letzterer fungiert als Hauptkriterium sozialer Anerkennung. Konsum wird entsprechend als Schlüssel zum Glück betrachtet. Das geht einher mit einem überbordenden Egoismus und dem Verlust jeglicher Gemeinschaftlichkeit. Nur noch die Familie verhindert die völlige Vereinzelung, um gleichzeitig gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren. (Nicht umsonst findet sich in ihr die Keimstätte und der Hauptschauplatz sexuellen Missbrauchs.)
Uns geht es um einen grundlegenden Wandel des vorherrschenden Wertesystems und damit auch der gesellschaftlichen Entwicklungsziele. Keineswegs propagieren wir die materielle Armut und für den Großteil der Weltbevölkerung bedarf es noch einer gewaltigen Steigerung des materiellen Reichtums. Doch für den westlichen Mittelstand ist ein Niveau erreicht oder sogar überschritten, wo weiterer materieller Zuwachs die Lebensbedingungen und damit die Voraussetzungen zum Glück keineswegs verbessern. Im Gegenteil, der Konsumismus ist ein Hindernis zu diesem geworden, eine Form der Entfremdung.
Emanzipation, menschliche Entwicklung und Selbstverwirklichung erfordern eine radikale Veränderung. Die gesteigerte Produktivität und der angehäufte Reichtum soll vor allem zur Reduktion der Arbeitszeit, der breiten Entfaltung der Bildung und der Möglichkeit zur vielseitigeren Betätigung des Einzelnen verwendet werden. Damit wird auch die Ursache der Reproduktion sozialer Ungleichheit und damit Herrschaft zurückgenommen. Die tendenzielle Aufhebung der Arbeitsteilung – oder anders gesagt, die Möglichkeit des Einzelnen im Verlauf seines produktiven Lebens viele verschiedene Tätigkeiten ausüben zu können – wirkt dem traditionellen sozialen Schichtenbau und damit auch Herrschaftsverhältnissen entgegen.
Arbeit muss von ihrem Zwangscharakter und ihrer Hierarchisierung befreit werden. Selbstbestimmung bedeutet, dass der Einzelne das Recht und die Möglichkeit hat Ziel, Form und Bedingungen der Arbeit entsprechend seiner Interessen mit zu beeinflussen. Das erfordert nicht nur ausreichend Zeit und Bildung, sondern auch Demokratie in Arbeits- und Wirtschaftsleben.
In der Folge brächte eine solche Entwicklung auch ein Einreißen der strengen Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Produktion und Konsum. Produktivismus und Konsumismus, die den Kapitalismus kennzeichnen, räumen den Platz zugunsten der Selbstentfaltung in der selbstbestimmten Arbeit.
Soziale Anerkennung würde nicht mehr vor allem über materiellen Reichtum, sondern über den Beitrag zur Entwicklung der Gemeinschaft vermittelt werden.
6. Globaler sozialer Ausgleich
Die Kritik am Konsumismus zielt in erster Linie auf die westlichen Mittelschichten, die die Herrschaft der Eliten abstützen. Doch als politisches Phänomen ist der Konsumismus breiter, erfasst auch jene, die nichts zu konsumieren haben. Diese streben oft selbst nach dem Aufstieg ins Konsumparadies bzw. ergeben sich in ihrer Rolle als Subalterne, insofern sie von diesem Konsum ausgeschlossen sind.
Indes leidet die Mehrheit der Weltbevölkerung, vor allem an der Peripherie des Systems, aber auch eine signifikante Minderheit im Zentrum an akutem materiellen Mangel. Im Sinne von Gerechtigkeit, Frieden und Emanzipation bedarf es einer massiven Entwicklung für diese Mehrheit, die ohne sozialen Ausgleich nicht möglich sein wird. Natürlich befindet sich der Haupthebel in der Dienstbarmachung der Ressourcen des Großkapitals. Doch geht es bei der Enteignung der Eliten vor allem darum, den globalen produktiven Apparat umzubauen und auf andere Ziele zu richten. Gleichzeitig muss aber auch der Konsum nicht nur der Eliten, sondern auch wichtiger Teile des westlichen Mittelstands zugunsten der globalen Armut eingeschränkt werden. Das dritte Auto, der unbenutzte Zweitwohnsitz oder die Brustvergrößerung sind nicht akzeptabel, während hunderte Millionen nicht einmal Zugang zu Trinkwasser haben.
7. Nation, kulturelle Differenz und Selbstbestimmung
Der Begriff der Nation ist schwer in Verruf geraten. Zuerst rechnete die Linke mit dem Nationalismus ab – mit berechtigten Argumenten. Dieser diente der Bourgeoisie zur Mobilisierung gegen den vermeintlichen äußeren Feind, sei es nun eine konkurrierende Bourgeoisie, der Sozialismus oder auch um ihre Freiheit kämpfende unterdrückte Völker. Nicht nur mit dem Nationalismus, sondern mit der Nation als solcher würden die inneren Interessensgegensätze verwischt und überspielt.
Dann kam die Wende 1989/91. Der Feind Kommunismus war weggefallen. Die Eliten proklamierten die Globalisierung, der traditionelle Nationalismus schien ihnen nicht mehr zweckdienlich. Gegen jene Kräfte, Völker und Staaten, die sich nicht nach der neoliberalen Decke strecken wollten, gingen die Globalisierer mit "internationalistischen" Argumenten vor. Man subsumierte sie unter die Kategorie der Retro-Nationalisten und damit der Rechten.
Die entstehende Antiglobalisierungsbewegung lehnte sich ausschließlich gegen den ökonomischen Aspekt der Globalisierung auf, die sie synonym mit Neoliberalismus verwendete. Sie sah nicht oder wollte nicht sehen, dass es sich bei der Globalisierung um eine „linke“ Tarnung für ein Projekt handelte, dessen Profil erst unter George W. Bush deutlich wurde: das American Empire. Unter dem Titel die Nationen loszuwerden, die Welt zu einem großen und grenzenlosen „global village“ zu machen, wurde der Alleinherrschaftsanspruch der USA, ein Nationalismus besonderer Art, transportiert.
Auch wenn Obama die extremsten Auswüchse der amerikanischen Weltherrschaft, die zu Konflikten mit den Partnern führten, zurücknehmen und Europa zurück ins gemeinsame Boot des Westens zu bringen versuchen wird, den losgetretenen permanenten Präventivkrieg kann er nicht stoppen. Die Rückkehr zu Clinton, der diese Kriege noch als globale Polizeiaktionen für die westlichen Werte zu verkaufen vermochte, wird nicht gelingen. Denn ein einmal begonnener Krieg lässt sich nicht so ohne weiters beenden. Er hat vielerorts Widerstand hervorgerufen, dem es um Selbstbestimmung geht.
In diesem Umfeld gewinnt das Konzept der Nation neue, veränderte Bedeutung. Das gilt nicht nur für die Länder der Peripherie, in denen der Befreiungsnationalismus durch einen Widerstand beerbt wurde, der nationale, kulturelle und religiöse Identitäten mit einander vermengt. Sondern auch im Westen hat sich die Lage gewandelt.
Die Globalisierung und ihre diversen Institutionen wie die EU, die NATO, der IWF usw. bringen eine massive Entdemokratisierung mit sich. Im Namen des globalen Marktes, auf dem jeder reüssieren könne, wenn er nur tüchtig genug sei, wurden die Nationalstaaten zurückgedrängt, die immerhin der Ort der repräsentativen Demokratie sind. Die Forderung nach der Souveränität des Volkes bleibt – so formal sie ist – dennoch an den Nationalstaat gebunden. Er bleibt Subjekt der Politik, was sich in der Krise neuerlich anschaulich bestätigt. Die "Globalisierung von unten" in den Gegensatz zur Verteidigung des Nationalstaats zu setzen, war ein kolossaler Fehler der Antiglobalisierungsbewegung.
Heute, da sich die Eliten der Staaten zu ihrer Rettung bedienen, ist sonnenklar, dass um diesen Staat gekämpft, er erobert werden muss.
Die Nation als Substrat des Staates ist also nicht automatisch ein Konzept der Eliten. Diese sind vielmehr dem Zentrum USA und seinen Bündnispartnern wie EU etc. loyal. Da die Eliten in der Substanz nicht national handeln, drängt es sich auf, die Nation demokratisch und sozial, letztlich antikapitalistisch, als Herrschaft des Volkes zu interpretieren.
An dieser Stelle könnte der Einwand geltend gemacht werden: und was ist mit den Immigranten? Immerhin stellen sie einen erklecklichen Anteil der Bevölkerung der Metropolen, bilden ihren untersten Rand und werden vom Sozialpopulismus als Sündenbock benutzt. Dient der Begriff der Nation nicht dazu, dieser chauvinistischen Mobilisierung Vorschub zu leisten?
Tatsächlich symbolisiert die Kampagne gegen den Islam die Immigration als ganze, sie macht den Widerstand gegen die westliche Vorherrschaft und Ausbeutung zu etwas Fremden, das als Gefahr für die Anmaßung der überlegenen westlichen Werte droht. Die Islamfeindlichkeit dient so zur Identitätsstiftung für den Westen über alle soziale Schichten und politisch-kulturelle Demarkationen hinweg. Innere Widersprüche werden überdeckt und auf einen äußeren Feind gelenkt.
Doch das ist mehr kulturchauvinistisch als im klassischen Sinn nationalistisch. Es konstituiert eine westliche oder europäische Gemeinschaft, in die alte Feinde, wie die christlichen Slawen, sogar eingemeindet werden.
Die Linke sieht diese Suche nach einer Identität nach dem Zerfall der Klassendichotomie als gänzlich reaktionär an. Und zweifellos gibt es ein massives, reaktionäres Moment, nämlich insofern als Sündenböcke etabliert werden, Schuld zugewiesen und diskriminiert wird. Vor allem nimmt dieser Kulturchauvinismus, der bisweilen auch offen rassistische Aspekte aufweist, die Eliten aus der Pflicht.
Doch bedeutet das, dass man mit den Eliten offene Grenzen, einen globalen Arbeitsmarkt, den freien Verkehr der Ware Arbeitskraft fordern muss?
Das Bedürfnis und die Suche nach einer Identität selbst ist noch nicht reaktionär. Es geht darum, sie zu gestalten im Sinne des Andersseins gegenüber der globalen Herrschaft, des amerikanistischen Kapitalismus. Doch wo man dieses Recht auf Differenz in Anspruch nimmt, da muss man es auch den anderen zugestehen, sprich den Immigranten. Deren Recht sich nicht zu integrieren und zu assimilieren muss verteidigt werden. Das Recht anders zu sein, eine abgegrenzte kollektive kulturelle und nationale Identität zu äußern, bildet Teil der Selbstbestimmung. Es soll mit der Einschränkung gelten, dass es niemand anders diskriminiert. Das funktioniert in letzter Konsequenz nur im Interessensausgleich zur Bildung einer gemeinsamen Front gegen die Herrschaft der Eliten.
8. Solidarität und Gemeinschaft
Der Kapitalismus tendiert dazu, das völlig ungebundene, nackte Individuum herzustellen, der Mensch als des Menschen Wolf. Wir glauben hingegen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das sich nur in Kooperation, in Solidarität und Gemeinschaft mit anderen entfalten und verwirklichen kann. Emanzipation, insofern sie allen zukommt, ist an Gemeinschaftlichkeit gebunden, hat sie zur Voraussetzung.
Die globale Polis, die weltumspannende Gemeinschaft, in der die Allgemeininteressen mit jenen der Individuen in eins fallen, wie sie sich als Motiv durch die Aufklärung zieht, bleibt ein unerfüllbarer Wunschtraum. Vielmehr muss es darum gehen, den verschiedensten Gemeinschaften möglichst viel Selbstbestimmung einzuräumen und zwischen ihnen den Interessensausgleich zu organisieren. Dabei kommt dem Nationalstaat als Forum dieses Ausgleichs weiterhin eine entscheidende Rolle zu, auch wenn es zahlreiche darunterliegende und auch einige darüberliegende Ebenen geben muss. Voraussetzung dafür bleibt, dass die globale Oligarchie, die die Welt nach dem einzigen Kriterium des Profits beherrscht, gestürzt wird.