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Zusammenbruch

3. Juni 2009
Osteuropa vor dem Kollaps

Von Stefan Hirsch

Bild: Raiffeisen

So manche osteuropäische Regierung versteht die Welt nicht mehr. Nachdem man jahrelang den Rezepten der ultraliberalen Hexenmeister gefolgt war, wird man nun verstoßen.

Nachdem die Rating-Agenturen jahrelang die "Offenheit" der osteuropäischen Volkswirtschaften (also den einfachen Zugang für ausländisches Kapital) gefeiert haben, wird ihnen just diese jetzt zum Vorwurf gemacht. Die "Offenheit" des Kapitalmarkts wird als großes Risiko genannt und rechtfertigt reihenweise Rating-Herabstufungen. Mit so etwas ist nicht zu spaßen, denn je schlechter das Rating, desto höher die Zinsen, die für Schulden bezahlt werden müssen.

Die Katastrophe am Beispiel Ungarn: Die Bauwirtschaft ist seit Januar 2008 um 16 Prozent zurückgegangen, der Verkauf von Neuwagen um 44 Prozent gefallen. Die größten Optimisten unter den Volkswirten (zu denen wir nicht gehören) erwarten für 2009 ein Minus der Wirtschaftsleistung um 5 Prozent. Der Forint ist von 230 Forint zu einem Euro im Juli 2008 auf 317:1 am 6. März gerutscht, um sich danach bei knapp 300 zu stabilisieren. Das Problem des Währungsverfalls sind dabei der hohe Anteil von Fremdwährungskrediten, die parallel zur Schwäche des Forint aufwerten, und die steigenden Preise für importierte Waren, die die Bevölkerung verarmen lassen. Der Bankensektor steht vor dem Kollaps, weil die Kredite nicht mehr bezahlt werden können. Am 9. März meinte der Chef der größten Bank (OTP, an zweiter Stelle liegt schon ein österreichisches Institut): "Wenn die Bevölkerung beginnt, ihre Forint in Euro zu tauschen, weil sie einen Verfall der Währung auf 350 oder 400 fürchtet, dann kann nichts mehr das Bankensystem retten." IWF und EU haben Hilfe geschickt, gebunden an die üblichen Auflagen: hohe Zinsen (die in der schweren Rezession die Wirtschaft gänzlich umbringen) und staatliche Ausgabenkürzung (die erledigt den Rest des Massakers).

Im Zentrum der ungarischen Krise steht dabei das Defizit der Leistungsbilanz, das bei 7,5 Prozent des BIP liegt. Mit anderen Worten: Jedes Jahr muss zur Refinanzierung Kapital im Wert von 7,5 Prozent der Wirtschaftsleistung importiert werden – gelingt das nicht, dann stürzt die Währung ab. Und dieser Wert wächst: Lag der Bedarf im ersten Quartal 2007 noch bei etwa 1,5 Milliarden Euro, so sind wir im 3. Quartal 2008 bei 2,2 Milliarden angelangt (jüngere Zahlen hat die Nationalbank noch nicht veröffentlicht).

Üblicherweise wird ein Defizit der Leistungsbilanz durch zu hohe Importe im Verhältnis zu den Exporten erreicht – man könnte also tatsächlich sagen, dass eine Volkswirtschaft "über ihre Verhältnisse" lebt. Das mag in Ungarn und anderen Teilen Osteuropas der Fall gewesen sein, als die internationalen Banken haufenweise Kredite vergaben – heute ist das anders. Tatsächlich waren in Ungarn im Jahr 2008 sowohl die Handelsbilanz als auch die Dienstleistungsbilanz positiv. Die Ungarn produzieren mehr, als sie verbrauchen. Das Defizit der Leistungsbilanz kommt aus dem Schuldendienst und aus den Gewinnen, die die ausländischen Unternehmen aus dem Land schaffen. Die Ungarn leben nicht "über ihre Verhältnisse", sondern die Zinsen für die angesammelten Schulden und die Transfers der Multis ruinieren die Wirtschaft. Das Land wird vom internationalen Kapital rücksichtslos ausgenommen.

Eine ähnliche Geschichte erleben wir heute in Rumänien. Auch hier greift der internationale Währungsfonds ein. Insgesamt 20 Milliarden wurden im März bewilligt, mit den üblichen katastrophalen Auflagen: staatliche Ausgabenkürzungen, Gehaltsverluste für Staatsangestellte. Die 20 Milliarden sollen die Zahlungsbilanz und damit den Wechselkurs stabilisieren. Tatsächlich weist auch die rumänische Leistungsbilanz im Jänner 2009 ein sehr hohes Defizit von 509 Millionen Dollar auf (weniger als die Hälfte noch vor einem Jahr) – aber dieses Defizit wird ausschließlich durch Zinszahlungen und Gewinntransfers verursacht (die im Jänner 565 Millionen Euro betragen haben).

Letztes Beispiel, die Ukraine, die möglicherweise den schlimmsten Absturz erlebt. Die Schätzungen für das BIP belaufen sich für das Jahr 2009 auf minus 12 Prozent, die Industrieproduktion hat innerhalb eines Jahres (auf Februar 2009) um 34 Prozent nachgegeben, die Bauwirtschaft um über 50 Prozent. Eine Zahlungsbilanzkrise lässt die Währung abstürzen, die in Fremdwährung Verschuldeten stehen vor dem Ruin und im Bankensystem ist die Liquidität völlig ausgetrocknet. Der IWF hat längst die Bühne betreten und fordert Blut. Und wieder: im Herzen der Zahlungsbilanzkrise stehen keine zu hohen Importe, sondern Schuldendienst und Kapitalflucht. Im Februar 2009 lagen die Importe bei etwa zwei Milliarden Dollar, die Exporte bei 2,5 Milliarden.

Osteuropa bräuchte eigentlich eine Erleichterung der Schuldenlast (ein Teil der Schulden muss gestrichen werden, sie sind ohnehin uneinbringbar), oder gleich eine Enteignung der Staatsschulden. Man benötigt Kapitalverkehrskontrollen um die Kapitalflucht zu beenden, die Währung zu stabilisieren und die Liquidität des Kreditsystems sicherzustellen. Das Bankensystem muss nationalisiert werden – die österreichischen und italienischen Raubritter vergeben keine Kredite mehr. Der Staat muss Binnenwirtschaft und regionale Kreisläufe stärken und die Bevölkerung vor den katastrophalen Folgen der Krise schützen.

Zu solchen Maßnahmen ist die osteuropäische Oligarchie aber nicht in der Lage. Rumänien und Ungarn beugen sich dem Diktat des IWF, dessen Finanzhilfen eigentlich ausschließlich den Gläubigern dienen, nicht der Bevölkerung und auch nicht der Volkswirtschaft als Ganzes. (So heißen sie auch: "Zahlungsbilanzhilfe" – sie helfen, den Schuldendienst aufrecht zu erhalten). Und die Regierungen Polens und Tschechiens sind wohl die letzten auf diesem Planeten, die noch die ultraliberalen Phrasen von vor der Krise herauswürgen, inklusive eines Clowns als tschechischer Präsident, der von der Kraft des Marktes schwadroniert und den Klimawandel leugnet.

Das schlimmste Beispiel ist wahrscheinlich die Ukraine: eine herrschende Klasse aus Mafiosi, die gar kein Interesse an eigenständiger Entwicklung haben und sich ausschließlich an den Meistbietenden verkaufen wollen.

In dieser Konstellation wird der ökonomischen und sozialen Katastrophe ein politischer Tsunami folgen, dessen Auswirklungen völlig unklar sind. In Staaten wie der Ukraine liegen durchaus auch Bürgerkrieg, ein Zusammenbruch des Staates und der Zerfall des Landes im Bereich des Möglichen. Vieles ist furchteinflößend: etwa die Pogrome gegen Roma in Ungarn, oder die Tendenz, dass sich oppositionelles Denken allzu oft mit antisemitischen Absurditäten verbindet. Für die Linke gibt es in dieser Situation nur eine Möglichkeit: härteste Opposition gegen die Ausplünderung, den Sozialabbau und den Verrat der Oligarchie. Wer die ungarische sozialdemokratische Regierung (oder deren Reste) als kleineres Übel gegenüber der konservativen Opposition verteidigt, wird mit dieser untergehen.

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