Site-Logo
Site Navigation

Menetekel eines bevorstehenden Bürgerkrieges

11. Januar 2010

"Incredible India" - Unglaubliches Indien, so lautet ein Werbeslogan aus dem indischen Tourismusministerium. Für InvestorInnen ist Indien sicherlich in Bezug auf Produktions- und Arbeitsverhältnisse einfach unglaublich.


aus:  ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 544 / 20.11.2009

 

 
 
Indische Regierung plant Offensive gegen maoistische Rebellen

„Incredible India“ – Unglaubliches Indien, so lautet ein Werbeslogan aus dem indischen Tourismusministerium. Für InvestorInnen ist Indien sicherlich in Bezug auf Produktions- und Arbeitsverhältnisse einfach unglaublich. Die kürzlich von der indischen Regierung angekündigte Großoffensive unter dem Namen „Operation Green Hunt“, die die Ausbreitung der maoistischen Guerilla in Indien (Naxaliten) stoppen soll, kommt für indische MenschenrechtsaktivistInnen allerdings eher der Vorstellung eines unglaublichen Albtraums nahe. Befürchtet wird der Beginn eines lang andauernden Bürgerkriegs im sogenannten Roten Korridor in Indien und ein „kalkulierter Genozid an Adivasi, ein umfassender Krieg gegen Hunderttausende Menschen“, so die Menschenrechtsaktivistin Sudha Bharadwaj. (1)

Seit den 1960er Jahren kämpfen bewaffnete kommunistisch/maoistische Gruppen (Naxaliten) in Indien für eine „Volksdemokratische Revolution“. Am 3. März 1967 starteten bei der Polizeistation Naxalbari im District Darjeeling PlantagenarbeiterInnen sowie Kleinbauern und Kleinbäuerinnen eine Landnahmeaktion, die das Signal für eine agrarrevolutionäre Erhebung im nationalen Maßstab werden sollte. Die Aufständischen waren in der Mehrheit Angehörige der von der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung sogenannten Adivasi (UreinwohnerInnen) oder Benavasi (WaldbewohnerInnen). Sie wurden angeleitet von Kadern der maoistischen Fraktion der Kommunistischen Partei des Bundesstaates West-Bengalen. Die MaoistInnen zählten damit zu den ersten aus der hinduistischen Dominanzgesellschaft, die die (heute rund 85 Millionen) Adivasi in Indien, die einen Waldgürtel vom westindischen Bundesstaat Gujarat bis an die ostindische Küste besiedeln, in ihrem Kampf gegen Ausbeutung und Mißhandlungen unterstützen. (2)

Nachdem im Gebiet von Naxalbari „Ruhe und Ordnung“ gewaltsam wiederhergestellt waren, breitete sich die Landnahmebewegung in verschiedenen Distrikten West-Bengalens und in den angrenzenden Bundesstaaten aus. Die maoistische Rebellion, die seither in ganz Indien unter dem Namen Naxaliten-Bewegung bekannt ist, hat nach offiziellen Angaben der Regierung in Neu-Delhi rund ein Drittel der 602 Verwaltungsdistrikte erfasst. Aus der ehemals sehr fragmentierten Naxaliten-Bewegung kristallisierten sich in den letzten Jahren drei Hauptströmungen heraus: die CPI(ML)-Liberation, CPI (Maoist) und CPI (ML).(3)

 
Naxaliten verfügen über große soziale Basis

In den Zeiten der Hegemonie des neoliberalen Wirtschaftsmodells und dem unter der Leitung der US-Regierung geführten „Kampfes gegen den Terror“ haben die Naxaliten mit ihrer Propaganda einer bäuerlichen Revolution und der anti-imperialistischen Mobilisierung neu an Anziehungskraft hinzugewonnen, besonders unter Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, Dalits (den Angehörigen der ehemaligen „Unberührbaren“-Kasten in Indien) und Adivasi, aber auch unter den städtischen Intellektuellen. Die große soziale Basis der Naxaliten kann von daher aus dem indischen Kontext erklärt werden: Aus der weiter zunehmenden Verelendung der indischen Landbevölkerung, der Vertreibung der Adivasi und Benavasi von ihrem Land und den Wäldern aufgrund von Mega-Staudamm- und Bergbauprojekten sowie aus der strategischen Neuausrichtung der indischen Außen- und Verteidigungspolitik.

Solange die Systemgrenzen nicht angetastet wurden, konnten sowohl die maoistischen Bewegungen als auch ökonomischer Stillstand, Menschenrechtsverletzungen und Massenelend die wirtschaftlich und kulturellen Eliten und eine breite Öffentlichkeit Indiens nur selten alarmieren. Heute werden die Naxaliten von der indischen Regierung als die „ernsteste Bedrohung der inneren Sicherheit“ bewertet. Mit dem im September vorgestellten Aktionsplan „zur Bekämpfung des Linksterrorismus“, einer Doppelstrategie aus militärischer Offensive und dem Ausbau von öffentlicher Infrastruktur und Sicherheitseinrichtungen, sollen sie nun zurückgedrängt werden können. Vorgesehen ist eine erhebliche Erhöhung der Truppenkontingente der paramilitärischen Sicherheitspolizei (CRPF) und der Spezialeinheiten zur Bekämpfung der Naxaliten (CoBRA) bis Ende 2009.

Die Koordinierung der militärischen Offensive wird in die Hände der zentralen Sicherheitsbehörden in Neu Delhi gelegt. Den Spezialeinheiten wird gestattet über die Grenzen der Bundesstaaten hinweg „Operationen“ unter Einbeziehung der Luftwaffe und Kampfhubschrauber durchzuführen. In insgesamt 20 indischen Bundesstaaten könnte es somit in den kommenden Wochen verstärkt zu Kampfhandlungen kommen. „Die offene Anerkennung der Militarisierung des indischen Kernlandes durch die Regierung, bedeutet die offizielle Anerkennung des Bürgerkrieges“, analysierte Arundhati Roy (4) die angekündigte Eskalation des seit 40 Jahren dauernden Krieges „niederer Intensität“ in Indien.

 
 
Bergbauunternehmen rauben das Land der Adivasi

Die zweite Säule des Aktionsplanes bilden Sicherheits- und Entwicklungsprojekte (eine größere Dichte von Polizeistationen, Schulen, Straßenbau, Gemeindezentren u.a.) in den am stärksten umkämpften Regionen. Einen Monat nachdem diese Gebiete von MaoistInnen „gesäubert“ seien, könne dann dort die zivile Ordnung durch die Bundesstaatsregierungen wiederhergestellt werden, hieß es Anfang Oktober aus dem Innenministerium in Neu-Delhi. In sechs bereits ausgewählten Distrikten soll in Kürze mit entsprechenden Programmen begonnen werden, sicher auch mit dem Kalkül, die maoistische Guerilla zu delegitimieren.

Einen Vorgeschmack auf die zu „erwartenden Erfolge“ der Sicherheitskräfte bot im September eine Offensive gegen Verbände der Naxaliten in den dicht bewaldeten Gebieten des Dantewada-Distrikts in Chhattisgrah. Entgegen der offiziellen Darstellung befanden sich unter den Getöteten viele unbewaffnete ZivilistInnen. Nur ausgesuchte JournalistInnen erhielten die Erlaubnis, von dort zu berichten. Die stärkere Einbindung regierungsfreundlicher Medien in den „Krieg gegen den Terror“ soll helfen, die geplante Großoffensive propagandistisch vorbereiten. Im Gegensatz zu früher gelten Naxaliten nun nicht mehr als „fehlgeleitete Elemente“, die vom nationalen Weg abgekommen sind und die es wieder zu integrieren galt. Für eine Regierungskampagne in allen großen Tageszeitungen wurden Fotos reproduziert, die „kaltblütig begangene Morde an unschuldigen StaatsbürgerInnen, ausgeführt von naxalitischen Rebellen“ nahe legen sollen.

Verschiedene Naxaliten-Verbände haben gegen die Pläne der indischen Regierung entschiedenen Widerstand angekündigt und rufen zur Geschlossenheit gegen den „Staatsterrorismus“ auf. Hinter dem Aktionsplan vermuten sie das Pentagon in Washington. Ein Mitglied des Politbüros der CPI (M) sprach in einem Zeitungsinterview mit der angesehenen Tageszeitung The Hindu von Beweisen für die Unterstützung durch die USA. Angesichts des mittlerweile gestiegenen öffentlichen Drucks von Seiten von Bürgerrechtsorganisationen in Indien, signalisierte die indische Regierung Ende Oktober, daß sie unter Umständen zu einem Dialogprozeß mit der CPI (M) bereit sei, allerdings nur unter der Bedingung, daß die Naxaliten der Gewalt abschwören. Die maoistische Guerilla wiederum verlangt vor Gesprächen mit der Regierung, daß die aufmarschierten CRPF- und CoBRA-Einheiten vorher aus den von den MaoistInnen kontrollierten Gebieten abgezogen werden. Eine Verhandlungssituation, die schon vor einigen Jahren im Bundesstaat Andhra Pradesh zum Scheitern von Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der dortigen Bundesstaatsregierung und der ehemaligen People’s War Group (PWG) geführt hat.

Besonders hart umkämpft sind seit langem die südlichen Distrikte in Chhattisgrah. Der Bundesstaat gehört insgesamt zu einem der wirtschaftlich ärmsten in Indien. Große Flächen liegen brach. Abholzung und Umweltverschmutzung und der Raub der den Adivasi ihre Existenz sichernden Ressourcen, wie Land, Wald, Wasser, Kultur und Identität, haben die Überlebensbedingungen der Angehörigen der Volksgruppen fast zerstört. Je schneller sich Indien zu einem Global Player entwickelte, desto mehr Land der Adivasi fielen den Staudammprojekten, Bergwerken und Industriekomplexen zum Opfer. Wirksame Gesetze für Entschädigung und Wiederansiedlung fehlen. „Wir leben wie Fische ohne Wasser“, sagte kürzlich der 82-jährige Kumati Majhi während eines öffentlichen Anhörung zur Betriebsgenehmigung für das britische Bergbauunternehmen Vedanta Resources in Niyamgiri im Bundesstaat Orissa. „Wir wissen nicht, wie wir uns anpassen und überleben sollen. Unsere Lebensweise ist nichts für die Städte, wir werden aussterben.“

 
 
„Wir leben, wie Fische ohne Wasser“

Viele Tausende Menschen, die aus ihren Dörfern in Chhattisgrah und Jharkhand vertrieben wurden, gelten als vermißt oder sind in die angrenzenden Bundesstaaten geflohen. Für die Sicherheitskräfte und die von den Regionalbehörden unterstützte Anti-Maoistische Bürgermiliz (Salwa Judum), sind alle verdächtig, der Naxaliten-Bewegung anzugehören oder mit ihnen zu sympathisieren, die sich der Vertreibung auch mit friedlichem Protest entgegenstellen oder als nicht kooperativ gegenüber den Behörden betrachtet werden. „Wenn der Staat wirklich Entwicklung anstrebt, soll er zuerst einmal die eklatante Mißachtung seiner eignen Gesetze beenden“, so die Kampagne für das Überleben und die Würde, eine nationale Plattform von Adivasi und Benavasi aus zehn Bundesstaaten.

Justiz, Sicherheitskräfte und Verwaltung haben nicht nur in Jharkhand und Chhattisgrah einen miserablen Ruf in der Bevölkerung. Tötungen in „Putativnotwehr“ (Encounter killings), willkürliche Verhaftungen, das polizeiliche Desinteresse an Ermittlungen wegen Vergewaltigungen und Folter sind die täglich zu erlebende faktische Abwesenheit basaler demokratischer Rechtsgrundsätze. Finanzielle Mittel aus den Regierungsprogrammen für die Integration der Adivasi flossen in den vergangenen Jahren zumeist in die Taschen korrupter Beamter oder direkt in die ruraler Oligarchen.

Seit Monaten weisen nationale und internationale AktivistInnen und NGOs verstärkt darauf hin, daß große Bergbauunternehmen wie Tata Steel, Vedanta Resources, Essar, Sterlite u.a. nur darauf warten, die immensen Rohstoffvorkommen in Chhattisgrah und anderswo ungestört ausbeuten zu können. Insbesondere hochwertiges Eisenerz und Bauxit, die vor allem für die weltweite militärisch-industrielle Produktion benötigt werden, machen Boden und Wälder für die Konzerne attraktiv. Der indische Staat trete als Garant der Ausbeutung auf, indem er die natürlichen Ressourcen des Landes den großen Konzernen überläßt. BürgerechtsaktivistInnen wie Binayak Sen kritisieren die Praxis, die den Konzernen die Ausbeutung des Bodens vorvertraglich zusichert, noch ehe über die Eigentumsfrage und Kompensationsforderungen mit der dort lebenden Bevölkerung gesprochen wird.

Einer der populärsten Kämpfe wird aktuell gegen das britische Bergbauunternehmen Vedanta Resources in Orissa geführt. „Reduzierte Exportbeschränkungen für diese Mineralien sowie liberalisierte Investitionsregelungen werden die Konflikte und die gewaltsame Landvertreibungen in rohstoffreichen Gebieten weiter zuspitzen“, heißt es in einer Studie des Evangelischen Entwicklungsdienstes von 2009 über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien.

Gelingt es nicht, den offiziellen Bürgerkrieg zu stoppen, sagte Arundhati Roy, „werden zwei unterschiedliche Arten von Krieg konvergieren, die seit Jahrzehnten in Indien geführt werden: der ‚Antiterrorkrieg‘ der indischen Armee gegen die Völker von Kashmir, Nagaland und Manipur und der Krieg um Rohstoffe und natürliche Ressourcen, ein Prozeß, der gern als ,Fortschritt` bezeichnet wird“. Aus diesem Grund sei es wichtig, so Roy, das Thema auch im Ausland immer wieder zur Sprache zu bringen. Das könne Druck auf indische Behörden ausüben.

 
Jürgen Weber

        —————————————-

        Links zum Weiterlesen:

        www.countercurrent.com; http://tribal.jharkhand.org.uk und die Broschüre des EEDs „Die Fesseln des EU-Indien-Freihandelsabkommens“ auf: www.eed.de

        Anmerkungen:

        1) „Peace can come to Bastar only when the State stops treating the adivasis as its enemy“, Sudha Bharadwaj, „Chhattisgrah‘ Befreiungsfront“, www.indianvanguard.wordpress.com; gepostet am 19.9.09

        2) Einige Adivasi-Gruppen sind inzwischen als „Unterkasten“ in die Hindu-Gesellschaft integriert. Andere leisten gegen die von außen kommende Kultur und Warenwirtschaft Widerstand bis hin zur Forderung nach Autonomie. Die Adivasi in Nordindien haben eines ihrer Ziele erreicht, indem Nagaland, Mizoram, Manipur, und im Osten Jharkhand und Chhattisgrah zu eigenen Staaten innerhalb der Indischen Union erklärt wurden. Aufstände der Adivasi gegen Ausbeutung und Vertreibung sind seit Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt.

        3) Kommunistische Partei Indien (Marxisten-Leninisten)-Befreiungsbewegung, Kommunistische Partei Indien (Maoisten), Kommunistische Partei Indien (Maoisten-Leninisten)

        4) Arundhati Roy eröffnete am 9.11.09 das Internationale Literaturfestival in Berlin und informierte dort Presse und BesucherInnen über die geplante Offensive gegen die Naxaliten-Bewegung.© a.k.i Verlag für analyse

        —————————————-

        © a.k.i Verlag für analyse, kritik und information GmbH; KoKa Augsburg dankt analyse &; kritik für die online-Veröffentlichung!

Thema
Archiv